hier Ein Interview von Timo Lehmann 18.03.2023
»Die Sonderrolle der CSU ist systematisch fragwürdig, aber historisch eingeübt«
Christoph Möllers hat die Ampel bei der Wahlrechtsreform beraten. Im Interview erklärt der Jurist, warum er wenig Chancen für Klagen vor dem Verfassungsgericht sieht – und der Bundestag kleiner werden muss.
SPIEGEL: Herr Möllers, Sie haben die Ampelkoalition bei der Wahlrechtsreform beraten, unter anderem auch zu der neuen Regelung für Direktkandidaten. Wer künftig im Wahlkreis siegt, kann nicht mehr sicher davon ausgehen, auch ins Parlament einzuziehen. Ist das nicht eine Täuschung der Wählerinnen und Wähler, denen vorgegaukelt wird, mit der Erststimme einen Kandidaten vor Ort wählen zu können?
Möllers: Nein, das sehe ich nicht so. Man hat sich dafür entschieden, dem Verhältniswahlrecht den Ausschlag zu geben, also der Zweitstimme. Das ist angesichts der Veränderung des Parteiensystems richtig. Die allermeisten Kandidaten, die heute Wahlkreise gewinnen, tun das nicht mit der absoluten Mehrheit, sondern mit einer relativen Mehrheit. Also mit einer Mehrheit der Gegenstimmen. Es gibt Wahlkreise, die werden mit 18 Prozent gewonnen. Bei der vergangenen Wahl erhielt nur ein Kandidat über 50 Prozent. Es ist daher kein Problem politischer Gerechtigkeit, die Bedeutung der Wahlkreise zu relativieren.
SPIEGEL: Ein Kandidat, der sich in einem umkämpften Wahlkreis knapp durchsetzt, könnte das Nachsehen gegenüber einer Kandidatin haben, die in einem sicheren Wahlkreis antritt. Dabei hat sie womöglich absolut weniger Stimmen als er. Ist das nicht eine Ungleichheit des Stimmengewichts und verfassungswidrig?
Möllers: Es ist aber auch eine Leistung, einen Wahlkreis sicher zu halten. Im Übrigen kann man nur relativ in einem Wahlkreis zählen. Daran ist nichts verfassungswidrig.
SPIEGEL: Auch bei den relativen Mehrheiten gibt es eine Ungerechtigkeit: Der eine gewinnt einen Wahlkreis mit 25 Prozent, ein anderer kommt nicht rein, obwohl er vielleicht 30 Prozent hat.
Möllers: Das ist richtig, war aber auch im alten System so. Man muss sich halt im Wahlkreis dem politischen Wettbewerb stellen.
SPIEGEL: Durch diese Regelung werden die Parteien und ihre Listen gestärkt, unabhängige Köpfe, die vor Ort im Wahlkreis gut ankommen, aber keinen Listenplatz haben, sind im Nachsehen. Wird unsere Demokratie damit nicht geschwächt?
Möllers: Wahlkreise sind wichtig als Möglichkeit, vor Ort innerparteiliche Demokratie zu schaffen. Denn es sind die Kreisverbände, die vor Ort, also dezentral, die Kandidaten aufstellen. Deswegen können die Wahlkreiskandidaten mit einer bestimmten Autorität auftreten. Aber das ändert sich in den allermeisten Fällen durch das nun geltende Wahlrecht auch nicht. Wer ein starkes Erststimmenergebnis holt, zieht auch in den Bundestag ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlkreise nicht besetzt werden, ist gering. Es geht also nicht um den Regelfall, sondern um die Ausnahme. Wissen Sie, was mich an der Debatte stört?
SPIEGEL: Was denn?
Möllers: Man kann immer die Nachteile aufzählen, und die würde ich auch gar nicht in Abrede stellen. Aber man muss sich dann fragen: Will man erstens die Wahlkreise behalten, zweitens ein Verhältniswahlrecht haben und drittens einen kleineren Bundestag? Diese Bedingungen erfüllt das neue Wahlrecht. Das ist nicht wenig. Alle Parteien und alle Bundesländer sind entsprechend ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Zweitstimmenergebnis vertreten. Das ist aber nur möglich, wenn man etwas an der Wahlkreiszuteilung ändert. Es fällt auf: In der Debatte wurden viele Dinge am Entwurf bemängelt, aber keine ernsthaften Gegenvorschläge gemacht.
SPIEGEL: Dennoch können auch Sie nicht zufrieden sein mit dem neuen Wahlrecht. Schließlich wurde die Grundmandatsklausel abgeschafft, die Sie beibehalten wollten.
Möllers: Die Klausel halte ich nicht für verfassungsrechtlich geboten. Sie ist eine politische Option zur Belohnung einer starken regionalen politischen Repräsentanz. Grundsätzlich reden wir viel zu viel über verfassungsgemäße Pflichten und zu wenig über politische Gestaltungsmöglichkeiten.
SPIEGEL: Nehmen wir dieses Argument der regionalen Repräsentanz. Könnte die CSU nicht einfach auf einer Unionsliste für den Bundestag antreten? Beide Parteien konkurrieren an keinem Ort miteinander.
Möllers: Ja, das ist denkbar. Um hier Rechtssicherheit zu schaffen, könnte die Ampel nachjustieren. Trotzdem bleiben CDU und CSU erst einmal zwei verschiedene Parteien, und das setzt der Gestaltungsmöglichkeit Grenzen.
SPIEGEL: Die CSU würde in gewisser Hinsicht an Unabhängigkeit verlieren. Für den Einzug ins Parlament bräuchte sie die gesamte Union, so wie jeder CDU-Landesverband auch. Die CSU kann dann nicht mehr mit Fraktionsbruch drohen. Ist diese Sonderrolle nicht ohnehin fragwürdig?
Möllers: Sie ist systematisch fragwürdig, aber historisch eingeübt. Ich glaube jedoch nicht, dass es dazu kommen wird. Die CSU wird diesen Weg kaum gehen, sondern weiter allein antreten, um ihren besonderen Status in der Bundespolitik zu erhalten.
SPIEGEL: Warum sind Sie sich da sicher?
Möllers: Mir scheint es schlecht vorstellbar, dass die CSU aus Furcht vor der Fünfprozenthürde ihre Eigenständigkeit aufgeben will.
SPIEGEL: Bleiben wir noch einmal bei der Grundmandatsklausel, die Sie für richtig halten. Wer im Osten Berlins mit der Erststimme etwa den pragmatischen Linkenpolitiker Gregor Gysi wählt, sorgte bislang dafür, dass Linke aus Bayern ins Parlament kommen, die in ihrem Bundesland nicht in die Nähe der Fünfprozenthürde kamen. Was genau ist daran ein faires Regionalitätsprinzip?
Möllers: Ja, die Grundmandatsklausel passt nicht völlig in das zu Ende gedachte neue System der Verhältniswahl. Ihr Beispiel zeigt, dass auch die Beibehaltung der Grundmandatsklausel Probleme bereitet hätte, und zwar sowohl solche der politischen Plausibilität als auch verfassungsrechtliche, weil sie im neuen System schwerer zu rechtfertigen ist. Das war das Dilemma der Ampel. Ich würde aber fragen, wie systematisch muss das System aus verfassungsrechtlichen Gründen angelegt sein? Und wie sehr darf verfassungsrechtlich auf eine Besonderheit des politischen Prozesses, nämlich die regionale Verankerung, Rücksicht genommen werden? Deswegen bleibt es eine politische Frage, die Klausel beizubehalten oder nicht, keine des Verfassungsrechts.
SPIEGEL: Noch ein fiktives Szenario: Die FDP landet bundesweit bei 4,9 Prozent, in Baden-Württemberg bei acht. Die Linke hat drei Prozent bundesweit, gewinnt drei Wahlkreise mit 18 Prozent der Erststimmen. Die Linke kommt rein, die FDP nicht. Finden Sie das nicht schräg?
Möllers: Auch hier liegt ein Problem, das durch die Abschaffung der Klausel gelöst wird. Die Frage bleibt, inwieweit man in eine gewachsene Struktur eingreifen will. Meiner Meinung nach wäre es verfassungsrechtlich möglich gewesen, die Grundmandatsklausel beizubehalten und politisch weniger riskant, diesen Einschnitt nicht vorzunehmen.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Möllers: Die Abschaffung der Klausel lässt den Eindruck zu, als wollte die Regierung mit der Reform der CSU und den Linken schaden, obwohl gerade die SPD durchaus auch einen Preis für die Reform zahlen dürfte. Das ist politisch ungünstig. Aber wahr ist auch: Hätte die Ampel die Grundmandatsklausel bewahrt, hätte die Union sich gerade darüber beklagt.
SPIEGEL: Die Ampel hätte dann damit rechnen müssen, dass womöglich die ganze Reform wegen Verfassungswidrigkeit gekippt wird. Ziel war immer die Verkleinerung des Bundestags. Wenn sich nun die Parteien nicht einigen können, hätte man nicht einfach die Größe des Parlaments in Kauf nehmen können, um das Wahlrecht für alle akzeptabel zu halten?
Möllers: Das denke ich nicht. Es wäre kein gutes Signal gewesen, hätte sich das Parlament nicht selbst reformieren können. Zudem steht ab einer bestimmten Größe seine Arbeitsfähigkeit infrage. Es war gut, dass die Entscheidung nach den vielen interessanten, aber am Ende auch zähen Debatten jetzt getroffen wurde.
Es wird wirklich spannend wie die Klage dann tatsächlich entschieden wird
WAHLRECHT Bayerische Rebellen
Die Wahlrechtsreform ist praktisch schon tot, bevor sie in Kraft tritt. Entweder Linkspartei und Union gelingt es noch, das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zu stoppen. Oder CDU/CSU werden das Ganze bei nächster Regierungsbeteiligung wieder umkrempeln. Da helfen auch nachträgliche Verbesserungsvorschläge vonseiten der Ampel-Koalition wenig: Vier- statt Fünf-Prozent-Hürde, gemeinsame Listen von CDU/CSU. Warum sollten sich die Geschädigten jetzt darauf einlassen, wenn sie sich in Karlsruhe gute Chancen ausrechnen?
Dabei ist der Gedanke an eine Unions-Liste nicht so abwegig, wie CDU-Chef Friedrich Merz das darstellt. Die CSU geriert sich liebend gern als rebellische bayerische Regionalpartei, die aber doch bundespolitisch den Ton angeben will – mithilfe der Schwesterpartei, versteht sich. Auch die Kanzlerkandidatenfrage wird zwischen den beiden – selten friedlich – gemeinsam geklärt, warum also nicht auch die Kandidatenlisten?
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