Montag, 27. März 2023

Interessantes am Rande bemerkt: Verfassungsrechtler zum Wahlrecht

 hier  Ein Interview von Timo Lehmann 18.03.2023

    »Die Sonderrolle der CSU ist systematisch fragwürdig, aber historisch eingeübt«

Christoph Möllers hat die Ampel bei der Wahlrechtsreform beraten. Im Interview erklärt der Jurist, warum er wenig Chancen für Klagen vor dem Verfassungsgericht sieht – und der Bundestag kleiner werden muss.

SPIEGEL: Herr Möllers, Sie haben die Ampelkoalition bei der Wahlrechtsreform beraten, unter anderem auch zu der neuen Regelung für Direktkandidaten. Wer künftig im Wahlkreis siegt, kann nicht mehr sicher davon ausgehen, auch ins Parlament einzuziehen. Ist das nicht eine Täuschung der Wählerinnen und Wähler, denen vorgegaukelt wird, mit der Erststimme einen Kandidaten vor Ort wählen zu können?

Möllers: Nein, das sehe ich nicht so. Man hat sich dafür entschieden, dem Verhältniswahlrecht den Ausschlag zu geben, also der Zweitstimme. Das ist angesichts der Veränderung des Parteiensystems richtig. Die allermeisten Kandidaten, die heute Wahlkreise gewinnen, tun das nicht mit der absoluten Mehrheit, sondern mit einer relativen Mehrheit. Also mit einer Mehrheit der Gegenstimmen. Es gibt Wahlkreise, die werden mit 18 Prozent gewonnen. Bei der vergangenen Wahl erhielt nur ein Kandidat über 50 Prozent. Es ist daher kein Problem politischer Gerechtigkeit, die Bedeutung der Wahlkreise zu relativieren.

SPIEGEL: Ein Kandidat, der sich in einem umkämpften Wahlkreis knapp durchsetzt, könnte das Nachsehen gegenüber einer Kandidatin haben, die in einem sicheren Wahlkreis antritt. Dabei hat sie womöglich absolut weniger Stimmen als er. Ist das nicht eine Ungleichheit des Stimmengewichts und verfassungswidrig?

Möllers: Es ist aber auch eine Leistung, einen Wahlkreis sicher zu halten. Im Übrigen kann man nur relativ in einem Wahlkreis zählen. Daran ist nichts verfassungswidrig.

SPIEGEL: Auch bei den relativen Mehrheiten gibt es eine Ungerechtigkeit: Der eine gewinnt einen Wahlkreis mit 25 Prozent, ein anderer kommt nicht rein, obwohl er vielleicht 30 Prozent hat.

Möllers: Das ist richtig, war aber auch im alten System so. Man muss sich halt im Wahlkreis dem politischen Wettbewerb stellen.

SPIEGEL: Durch diese Regelung werden die Parteien und ihre Listen gestärkt, unabhängige Köpfe, die vor Ort im Wahlkreis gut ankommen, aber keinen Listenplatz haben, sind im Nachsehen. Wird unsere Demokratie damit nicht geschwächt?

Möllers: Wahlkreise sind wichtig als Möglichkeit, vor Ort innerparteiliche Demokratie zu schaffen. Denn es sind die Kreisverbände, die vor Ort, also dezentral, die Kandidaten aufstellen. Deswegen können die Wahlkreiskandidaten mit einer bestimmten Autorität auftreten. Aber das ändert sich in den allermeisten Fällen durch das nun geltende Wahlrecht auch nicht. Wer ein starkes Erststimmenergebnis holt, zieht auch in den Bundestag ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlkreise nicht besetzt werden, ist gering. Es geht also nicht um den Regelfall, sondern um die Ausnahme. Wissen Sie, was mich an der Debatte stört?

SPIEGEL: Was denn?

Möllers: Man kann immer die Nachteile aufzählen, und die würde ich auch gar nicht in Abrede stellen. Aber man muss sich dann fragen: Will man erstens die Wahlkreise behalten, zweitens ein Verhältniswahlrecht haben und drittens einen kleineren Bundestag? Diese Bedingungen erfüllt das neue Wahlrecht. Das ist nicht wenig. Alle Parteien und alle Bundesländer sind entsprechend ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Zweitstimmenergebnis vertreten. Das ist aber nur möglich, wenn man etwas an der Wahlkreiszuteilung ändert. Es fällt auf: In der Debatte wurden viele Dinge am Entwurf bemängelt, aber keine ernsthaften Gegenvorschläge gemacht.

SPIEGEL: Dennoch können auch Sie nicht zufrieden sein mit dem neuen Wahlrecht. Schließlich wurde die Grundmandatsklausel abgeschafft, die Sie beibehalten wollten.

Möllers: Die Klausel halte ich nicht für verfassungsrechtlich geboten. Sie ist eine politische Option zur Belohnung einer starken regionalen politischen Repräsentanz. Grundsätzlich reden wir viel zu viel über verfassungsgemäße Pflichten und zu wenig über politische Gestaltungsmöglichkeiten.

SPIEGEL: Nehmen wir dieses Argument der regionalen Repräsentanz. Könnte die CSU nicht einfach auf einer Unionsliste für den Bundestag antreten? Beide Parteien konkurrieren an keinem Ort miteinander.

Möllers: Ja, das ist denkbar. Um hier Rechtssicherheit zu schaffen, könnte die Ampel nachjustieren. Trotzdem bleiben CDU und CSU erst einmal zwei verschiedene Parteien, und das setzt der Gestaltungsmöglichkeit Grenzen.

SPIEGEL: Die CSU würde in gewisser Hinsicht an Unabhängigkeit verlieren. Für den Einzug ins Parlament bräuchte sie die gesamte Union, so wie jeder CDU-Landesverband auch. Die CSU kann dann nicht mehr mit Fraktionsbruch drohen. Ist diese Sonderrolle nicht ohnehin fragwürdig?

Möllers: Sie ist systematisch fragwürdig, aber historisch eingeübt. Ich glaube jedoch nicht, dass es dazu kommen wird. Die CSU wird diesen Weg kaum gehen, sondern weiter allein antreten, um ihren besonderen Status in der Bundespolitik zu erhalten.

SPIEGEL: Warum sind Sie sich da sicher?

Möllers: Mir scheint es schlecht vorstellbar, dass die CSU aus Furcht vor der Fünfprozenthürde ihre Eigenständigkeit aufgeben will.

SPIEGEL: Bleiben wir noch einmal bei der Grundmandatsklausel, die Sie für richtig halten. Wer im Osten Berlins mit der Erststimme etwa den pragmatischen Linkenpolitiker Gregor Gysi wählt, sorgte bislang dafür, dass Linke aus Bayern ins Parlament kommen, die in ihrem Bundesland nicht in die Nähe der Fünfprozenthürde kamen. Was genau ist daran ein faires Regionalitätsprinzip?

Möllers: Ja, die Grundmandatsklausel passt nicht völlig in das zu Ende gedachte neue System der Verhältniswahl. Ihr Beispiel zeigt, dass auch die Beibehaltung der Grundmandatsklausel Probleme bereitet hätte, und zwar sowohl solche der politischen Plausibilität als auch verfassungsrechtliche, weil sie im neuen System schwerer zu rechtfertigen ist. Das war das Dilemma der Ampel. Ich würde aber fragen, wie systematisch muss das System aus verfassungsrechtlichen Gründen angelegt sein? Und wie sehr darf verfassungsrechtlich auf eine Besonderheit des politischen Prozesses, nämlich die regionale Verankerung, Rücksicht genommen werden? Deswegen bleibt es eine politische Frage, die Klausel beizubehalten oder nicht, keine des Verfassungsrechts.

SPIEGEL: Noch ein fiktives Szenario: Die FDP landet bundesweit bei 4,9 Prozent, in Baden-Württemberg bei acht. Die Linke hat drei Prozent bundesweit, gewinnt drei Wahlkreise mit 18 Prozent der Erststimmen. Die Linke kommt rein, die FDP nicht. Finden Sie das nicht schräg?

Möllers: Auch hier liegt ein Problem, das durch die Abschaffung der Klausel gelöst wird. Die Frage bleibt, inwieweit man in eine gewachsene Struktur eingreifen will. Meiner Meinung nach wäre es verfassungsrechtlich möglich gewesen, die Grundmandatsklausel beizubehalten und politisch weniger riskant, diesen Einschnitt nicht vorzunehmen.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Möllers: Die Abschaffung der Klausel lässt den Eindruck zu, als wollte die Regierung mit der Reform der CSU und den Linken schaden, obwohl gerade die SPD durchaus auch einen Preis für die Reform zahlen dürfte. Das ist politisch ungünstig. Aber wahr ist auch: Hätte die Ampel die Grundmandatsklausel bewahrt, hätte die Union sich gerade darüber beklagt.

SPIEGEL: Die Ampel hätte dann damit rechnen müssen, dass womöglich die ganze Reform wegen Verfassungswidrigkeit gekippt wird. Ziel war immer die Verkleinerung des Bundestags. Wenn sich nun die Parteien nicht einigen können, hätte man nicht einfach die Größe des Parlaments in Kauf nehmen können, um das Wahlrecht für alle akzeptabel zu halten?

Möllers: Das denke ich nicht. Es wäre kein gutes Signal gewesen, hätte sich das Parlament nicht selbst reformieren können. Zudem steht ab einer bestimmten Größe seine Arbeitsfähigkeit infrage. Es war gut, dass die Entscheidung nach den vielen interessanten, aber am Ende auch zähen Debatten jetzt getroffen wurde.


Im Südkurier wird da ganz anders argumentiert. Man hält die Chancen einer Klage wegen Abschaffung der Klausel für sehr hoch - Möllers hingegen betonte, dass die Beibehaltung der Klausel die Rechtmäßigkeit unterhöhlt hätte. In der Süddeutschen Zeitung liest man: "Es ist nicht die Aufgabe des Wahlrechts, die CSU möglichst optimal abzusichern".
Es wird wirklich spannend wie die Klage dann tatsächlich entschieden wird

26.03.2023  im Südkurier hier

WAHLRECHT Bayerische Rebellen

Die Wahlrechtsreform ist praktisch schon tot, bevor sie in Kraft tritt. Entweder Linkspartei und Union gelingt es noch, das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht zu stoppen. Oder CDU/CSU werden das Ganze bei nächster Regierungsbeteiligung wieder umkrempeln. Da helfen auch nachträgliche Verbesserungsvorschläge vonseiten der Ampel-Koalition wenig: Vier- statt Fünf-Prozent-Hürde, gemeinsame Listen von CDU/CSU. Warum sollten sich die Geschädigten jetzt darauf einlassen, wenn sie sich in Karlsruhe gute Chancen ausrechnen?

Dabei ist der Gedanke an eine Unions-Liste nicht so abwegig, wie CDU-Chef Friedrich Merz das darstellt. Die CSU geriert sich liebend gern als rebellische bayerische Regionalpartei, die aber doch bundespolitisch den Ton angeben will – mithilfe der Schwesterpartei, versteht sich. Auch die Kanzlerkandidatenfrage wird zwischen den beiden – selten friedlich – gemeinsam geklärt, warum also nicht auch die Kandidatenlisten? 


Süddeutsche Zeitung hier 21. März 2023, Interview von Andreas Glas

Politik:"Es ist nicht die Aufgabe des Wahlrechts, die CSU möglichst optimal abzusichern"

Die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl droht für Söders Partei zur Existenzfrage zu werden, der CSU-Chef nennt sie verfassungswidrig. Staatsrechtsprofessor Christoph Schönberger sieht das anders.

Die Wahlrechtsreform hallt immer noch nach, der Zorn ist groß in der CSU. Scheitert die Partei an der Fünf-Prozent-Marke, ist sie künftig nicht mehr im Bundestag vertreten - egal wie viele Direktmandate sie holt. Die CSU hat beschlossen, gegen die Reform zu klagen. Aus der Sicht des Staatsrechtprofessors Christoph Schönberger kann sich die Partei diese Mühe sparen. Er sieht keine Chance für die Beschwerde.

..
Ich verstehe natürlich die politische Kritik. Aber ich sehe überhaupt kein verfassungsrechtliches Argument, das gegen die Streichung der Grundmandatsklausel spricht.

Jene Klausel, die der CSU bislang den Einzug in den Bundestag garantiert hat, solange sie drei Direktmandate holt.

Genau. Bemerkenswert ist, dass die CSU zwar sagt, die Reform sei verfassungswidrig. Sie hat bislang aber kein Argument vorgetragen, warum das so sein soll. Das finde ich überraschend.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt verweist da zum Beispiel auf das Bundesstaatsprinzip.

Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt: Der Wahlgesetzgeber darf an die bundesstaatliche Struktur anknüpfen, er muss es aber nicht. Denn der Bundestag ist kein föderales Parlament, sondern ein nationales. Mit dem Bundesstaat hat die Grundmandatsklausel ohnehin nichts zu tun, denn sie verlangt nicht, dass die drei Direktmandate in demselben Land gewonnen werden müssen.

Sie halten schon die Einführung der Grundmandatsklausel im Jahr 1956 für höchst fragwürdig....

Na ja, schon damals gab es die Kritik, dass die Klausel manipulationsanfällig ist, weil damit eine größere Partei sich möglicherweise einen kleineren Bündnispartner an der Sperrklausel vorbei in den Bundestag organisiere.

Aus Ihrer Sicht wird nun also nur etwas korrigiert, das eh fragwürdig war.

Auf jeden Fall. Verfassungsrechtlich ist diese Grundmandatsklausel ja eine Ausnahme von der Wahlrechtsgleichheit. Denn eigentlich würde die Wahlrechtsgleichheit verlangen, dass allen Parteien gleichermaßen der Einzug verwehrt wird, die keine fünf Prozent der Stimmen erzielen. Diese Ausnahme hat das Bundesverfassungsgericht gerechtfertigt, weil es sagte: In den drei Direktmandaten kommt eine lokale Stärke zum Ausdruck, die man im Wahlgesetz berücksichtigen darf.

Na also, dann gibt es ja doch ein verfassungsrechtliches Argument für die CSU-Beschwerde.

Nein. Das ist lediglich ein Argument, das eine Ausnahme von der Wahlrechtsgleichheit rechtfertigt, wenn der Gesetzgeber dieses regionale Element möchte. Diese Ausnahme hat das Verfassungsgericht hingenommen. Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass die Grundmandatsklausel verfassungsrechtlich geboten ist.

Gegen die Klausel wird auch angeführt, dass Direktkandidatinnen und Direktkandidaten heute nur noch relativ schwache Mehrheiten holen. In Bayern gibt es aber immer noch Wahlkreise, in denen CSU-Kandidaten auf 40 Prozent und mehr kommen.

Verfassungsrechtlich gibt es überhaupt keine Pflicht, regionale Elemente zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber kann das tun, muss er aber nicht. Und jetzt hat der Bundestag eben entschieden: Wir machen das nicht mehr, wir berücksichtigen keine regionalen Elemente mehr. Das ist eine politische Entscheidung, die kann man politisch kritisieren. Aber es gibt damit kein verfassungsrechtliches Problem.

Sehen Sie nicht wenigstens ein Geschmäckle in der Reform?

Das Geschmäckle liegt darin, dass Wahlgesetze von politischen Mehrheiten gemacht werden und die jetzige Regierungskoalition nicht unbedingt starke Tränen vergießen wird, wenn irgendwann in der Zukunft die CSU an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern sollte. Die bloße Tatsache, dass das der jetzigen Bundestagsmehrheit auch politisch in den Kram passen könnte, macht die Sache aber nicht verfassungswidrig.

.. Aber wissen Sie, was in der aktuellen Diskussion häufig zu kurz kommt?

Was denn?

Dass es im Grunde eine eigenständige Entscheidung der CSU ist, nur in Bayern anzutreten. Wir haben eine Partei, die bundespolitisch auftritt, in den Bundestag möchte, aber gleichzeitig sagt: Ich möchte meine Prozente ausschließlich in Bayern holen. Nur ist die CSU jetzt eben in der Situation, dass sie in Bayern weniger Wählerstimmen gewinnt als sie das traditionell getan hat....

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