Wissing steht weiter in der Schuld – denn wie er künftig seine Raten begleichen, also die CO₂-Budgets für jedes Jahr einhalten will, dafür hat er bislang keine Lösung vorlegt. Umweltverbände werfen ihm schon einen »Rechtsbruch« vor. Doch was folgt daraus? Kann Wissing dafür gar haftbar gemacht werden?
Erstmals gesetzlich festgeschriebene Ziele
Das Revolutionäre am Klimaschutzgesetz von 2019 war, dass es erstmals verbindliche jährliche Emissionsziele festschrieb. Zuvor waren Klimaziele freiwillige Erklärungen. Das neue Gesetz legte einzelne Ziele für verschiedene Sektoren fest – also, wie viel Treibhausgase in der Energiewirtschaft, in der Industrie, bei Gebäuden, im Verkehr, der Landwirtschaft und in der Abfallwirtschaft jährlich eingespart werden müssen.
Auch einen Kontrollmechanismus regelte das Gesetz: Immer zum 15. März steht fest, welche Sektoren die Ziele im Vorjahr verfehlt haben. Danach bewertet der »Expertenrat für Klimafragen« die Emissionsbilanz und fordert die Ministerinnen und Minister zum Nachbessern auf. Die Ressortchefs, in deren Bereichen die Klimaziele gerissen wurden, müssen dann Sofortprogramme auflegen, die der Expertenrat wiederum prüft. Das alles passiert nun schon zum dritten Mal.
Neben dem Gebäudesektor ist der Verkehr das große Sorgenkind – zweimal verfehlte er seine Ziele krachend, so auch im vergangenen Jahr. Zwar legte der Verkehrsminister pflichtgemäß im Sommer ein Sofortprogramm vor. Doch von einem »Programm« war da kaum zu reden, auch nicht von »sofort«. Einerseits hoffte Wissing, dass mehr Homeoffice künftig Verkehr vermeiden würde (was für ihn praktisch war, weil er dafür wenig tun musste). Andererseits setzte er auf bessere Fuß- und Radwege (die allerdings eher langfristig einen Effekt haben würden). Ein »Pseudo-Sofortprogramm«, eine »Farce«, nannten es Kritiker.
Der Expertenrat stellte Wissing folglich ein vernichtendes Urteil aus: Das Konzept sei »schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch« und erfülle nicht mal die Anforderungen an ein Sofortprogramm. Noch dazu vergrößerte es die Hausaufgaben für die Zukunft nur noch. Denn die Treibhausgase, die in einem Jahr zu viel ausgestoßen wurden, kämen in den Folgejahren ja nur noch dazu.
Dadurch werde die »Erfüllungslücke« nur nach hinten verschoben, sagte Brigitte Knopf, Vizechefin des Expertenrats, und diese Lücke ließ sich beziffern: nämlich auf 261 Megatonnen CO₂-Äquivalente bis 2030, allein im Verkehr – so viel, wie der Verkehr momentan in weniger als zwei Jahren ausstößt. So wanken bereits die gesamten Klimaziele bis Ende des Jahrzehnts, denn: »Im Moment sieht es nicht so aus, als könnten wir die Ziele erreichen«, sagte Knopf Ende vergangenen Jahres.
Eigentlich liegen die Maßnahmen für den Verkehr auf dem Tisch: Klimaschädliche Anreize wie das Dienstwagenprivileg abschaffen. E-Autos steuerlich vergünstigen und Verbrenner verteuern . Und schließlich ein Tempolimit einführen, was laut einer Studie des UBA fast sieben Milliarden Tonnen CO₂ jährlich sparen könnte – doch ist das politisch inzwischen solch ein heißes Eisen, dass die Ampel darüber nicht mal mehr diskutiert. In ihrem Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien es nicht vereinbart.
Wissing und seine FDP sperren sich gegen all diese Maßnahmen, während er einen Masterplan für den Verkehr weiter schuldig bleibt. Im Unterschied zum Gebäudesektor, der zwar auch regelmäßig die Ziele reißt, doch in dem nun etwas passiert – wie etwa das Verbot auf neue Öl- und Gasheizungen ab 2024 oder eine Offensive beim Ausbau von Wärmepumpen.
Was passiert also, wenn die Regierung die Klimaziele immer wieder verfehlt? Wenn einzelne Minister ihre Verpflichtungen auf die leichte Schulter nehmen oder sie sogar ganz ignorieren?
Klimaschutzgesetz ist kein Klimaschutzinstrument
Einige Umweltverbände versuchen bereits, die Regierung haftbar zu machen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) verklagte die Bundesregierung Anfang des Jahres vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, wie schon die Deutsche Umwelthilfe (DUH) im vergangenen Jahr. Beide mit derselben Begründung: Die Regierung, insbesondere das Verkehrsministerium, würden das Klimaschutzgesetz brechen.
Noch stehen Urteile aus. Sowieso ist fraglich, wie viel die Kläger über diesen Weg erreichen können. Thorsten Müller, Mitgründer der Stiftung Umweltenergierecht und Klimarecht-Experte, erwartet, dass das Gericht eine Rechtsverletzung feststellt. Es könnte damit entweder die Ministerien zu neuen Sofortprogrammen verpflichten oder die Bundesregierung zu konkreten Maßnahmen. »Aber mehr kann die Justiz nicht machen«, sagt er. »Aufgrund der Gewaltenteilung kann sie sich nicht an die Stelle der politisch Handelnden setzen und ein Sofortprogramm beschließen. Das Recht kann keine Politik ersetzen.«
Seiner Ansicht nach wird das Klimaschutzgesetz oft »missverstanden«. Denn es sei kein eigenes Instrument, »im Sinne von: Nur weil wir das Klimaschutzgesetz haben, erreichen wir unsere Klimaschutzziele. Wir sehen ja, dass das ganz offensichtlich nicht so ist.« Richtige Instrumente wären etwa Maßnahmen wie ein Tempolimit, eine neue Kfz-Steuer, et cetera – siehe oben. Das Klimaschutzgesetz sei dagegen eher ein »Management-Tool«, das Transparenz schaffe, sagt Müller: »Ob die Ziele tatsächlich eingehalten werden, entscheidet sich durch die Instrumente, die der Gesetzgeber schafft.«
Ob der Gesetzgeber dem auch nachkommt und tatsächlich konkrete Maßnahmen beschließt, das steht auf einem anderen Blatt. Eine Verpflichtung dazu sei nicht einklagbar – auch nicht durch das Grundgesetz.
Das verpflichte zwar zum Klimaschutz und verlange Klimaneutralität, sagt Müller, so hat es das Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss von 2021 klargestellt. Doch einzelne Maßnahmen leiten sich daraus nicht ab. Kläger hatten vor einiger Zeit versucht, mit einer Verfassungsbeschwerde ein Tempolimit auf Autobahnen zu erwirken. Doch die Karlsruher Richter wiesen die Klage ab: Die beiden Beschwerdeführer hätten nicht aufgezeigt, warum gerade das Tempolimit nötig sei, um die Klimaziele zu erreichen.
Muss Wissing ins Gefängnis? Hohe Hürden für Zwangshaft
Erst recht nicht könnte man durch das Klimaschutzgesetz wohl einzelne Minister haftbar machen. Es gab mal einen Fall, in dem Kläger so etwas versuchten: mit dem Mittel der Beugehaft. »Knast für die Umwelt?«, titelten Medien etwa, als Umweltschützer versuchten, Markus Söder ins Gefängnis zu bringen.
Vor rund drei Jahren beantragte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) die Anordnung von Zwangshaft gegen Amtsträger, weil die bayerische Landesregierung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sich weigerte, ein gerichtlich angeordnetes Konzept für Dieselfahrverbote in München vorzulegen. Das wies der Europäische Gerichtshof (EuGH) aber schließlich ab – schloss die Möglichkeit von Beugehaft gegen Politiker in dem Urteil jedoch nicht grundsätzlich aus.
Die rechtlichen Hürden seien allerdings hoch: Die Zwangshaft könne nur verhängt werden, wenn es dafür im deutschen Recht »eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage« gebe. Außerdem müsse der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.
Ein kürzlich veröffentlichtes Rechtsgutachten der Organisation Germanwatch sieht die Versäumnisse auch weniger bei einzelnen Ministern wie Wissing. Vielmehr habe die Bundesregierung als Ganzes gegen das Klimaschutzgesetz verstoßen. Letztlich liege es demnach in der Verantwortung von Bundeskanzler Olaf Scholz, rechtzeitig einen zielführenden Beschluss herbeizuführen, mit dem die Ministerien für Verkehr und Bau ihren Rechtsbruch korrigiert hätten. Es hätte in seiner politischen Verantwortung gelegen, doch belangen kann man ihn dafür rechtlich gleichwohl kaum.
Gesetz legt Versagen offen – die FDP will es deshalb ändern
Ist das Klimaschutzgesetz also nur ein zahnloser Tiger? Nicht ganz. Es könne auf andere Weise wirken, sagt Thorsten Müller, nämlich, indem es den Finger in die Wunde lege. »Es funktioniert nach dem Prinzip ›Naming, Blaming, Shaming‹: Das Gericht stellt eine Rechtsverletzung fest, aber wenn das zuständige Ministerium oder die Bundesregierung als Ganzes ihrer Pflicht nicht im Sinne des Klimaschutzgesetzes nachkommen, bleibt letztlich nur die Ebene der Öffentlichkeit. Wenn die Politik nichts tut und die Öffentlichkeit nicht aufschreit, dann kommt ein solcher Mechanismus an seine Grenzen.«
Das genau ist die Idee des Klimaschutzgesetzes: Transparenz herstellen, politische Verantwortung zuweisen, indem die Emissionsziele nach Sektoren aufgeteilt werden. Wenn die Ziele im Verkehrssektor gerissen werden, dann ist klar, wer nun etwas tun muss.
Kein Wunder, dass ausgerechnet die FDP dieses Prinzip gern abschaffen würde: Keine strengen Regeln für jeden Sektor mehr, stattdessen sollten die Einsparungen flexibel über alle Sektoren hinweg verrechnet werden. Schon im Sommer stellte FDP-Chef Christian Lindner das Sektorprinzip infrage, jüngst bekräftigte der FDP-Klimapolitiker Lukas Köhler das gegenüber dem SPIEGEL – obwohl es Juristen für rechtswidrig halten, die Sektorziele ersatzlos abzuschaffen.
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