Dienstag, 28. März 2023

Komplexitätsforscher: "Die Menschheit muss ihren Motor bremsen"

Standard hier 27. März 2023
Interview Komplexitätsforscher Manfred Laubichler /Alois Pumhösel 

Mehr Wissen, mehr Energiebedarf: Komplexitätsforscher Manfred Laubichler analysiert Zusammenhänge im Erdsystem, vom exponentiellen Wachstum bis zum Kollaps

Das Problem des Klimawandels ist zu vielschichtig für einfache Lösungen. Da lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und das große Ganze zu betrachten. Genau das macht Komplexitätsforscher Manfred Laubichler. Er stellt sich die Frage, auf welche Weise die menschlichen Gesellschaften mit dem Erdsystem verwoben sind. Das Ziel ist, die besten Interventionspunkte zu finden, um in soziale, politische oder wirtschaftliche Prozesse einzugreifen und so eine optimale Wirkung zu erzielen.

STANDARD: Sie und Ihr Team beschreiben mit dem Prinzip einer "Anthropocene engine" die Entwicklung der Menschheit. Worum geht es dabei?

Laubichler: Ausgangspunkt ist, dass wir nun im Anthropozän leben; dass also die natürlichen Prozesse vom Menschen dominiert werden. Gleichzeitig sehen wir, dass es immer wieder zu exponentiellen Wachstumsbewegungen kommt, durch die der Einfluss des Menschen auf die Natur noch größer wird. Unsere Forschungsfrage war, wie es dazu kommen konnte. Wir konnten zeigen, dass der Mensch Teil eines Entwicklungssystems ist, das von drei Faktoren wesentlich bestimmt ist: von der Bevölkerungsgröße, der kollektiven Wissensproduktion und der Energieextraktion aus der Umwelt. Das exponentielle Wachstum entsteht durch positive Rückkopplungseffekte zwischen diesen Faktoren – diese Systematik haben wir die Anthropocene engine genannt.

STANDARD: Wie kann man sich diese Rückkopplungseffekte vorstellen?

Laubichler: Dieser "Motor" läuft nun bereits seit ungefähr 10.000 Jahren. Das neue Wissen über landwirtschaftliche Nahrungsproduktion hatte damals bestimmenden Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung. Die Menschen wurden sesshaft und bauten Städte. Man braucht eine gewisse Bevölkerungsdichte, damit sich Wissen über die Umwelt gut verbreiten kann. Dieses Wissen führte dazu, dass mehr Energie gewonnen wird, zuerst aus der belebten Natur, viel später aus fossilen Energieträgern. Je mehr Energie zur Verfügung stand, desto mehr Menschen konnten damit unterstützt werden und desto mehr Wissen kann wiederum generiert werden. Gleichzeitig gibt es aber auch negative Rückkopplungseffekte, die das exponentielle Wachstum bremsen. Das kann ein Krieg sein, den die Menschen gegeneinander führen, oder ein enormer Energieverbrauch, der aus fossilen Quellen gedeckt wird und einen Klimawandel auslöst.

STANDARD: Sie konnten dieses Phänomen auch mathematisch formulieren. Wie ist das möglich?

Laubichler: Ein Trick dabei heißt "coarse graining", was eine Modellierung in einer bestimmten "Grobkörnigkeit" beschreibt. Es geht darum, die richtige Ebene der Abstraktion zu finden. Man hat etwa entdeckt, dass der Metabolismus von Lebewesen fundamentalen Prinzipien folgt. Je größer ein Organismus wird, desto energieeffizienter ist er beispielsweise. Bevor der Mensch begann, Technologie zu entwickeln, folgten wir den metabolischen Skalierungsgesetzen der Natur. Unser Energiebedarf war auf einer Skala zwischen einer Maus und einem Elefanten. Doch mit der Anthropocene engine kam die Abweichung.

STANDARD: Der Energieverbrauch wurde plötzlich viel höher.

Laubichler: Heute braucht ein Mensch im Schnitt das Hundertfache der Energie eines Vorfahren vor 10.000 Jahren. Der meiste zusätzliche Energieverbrauch steckt nicht im natürlichen Metabolismus, sondern in der Infrastruktur der modernen Zivilisation. Das kann man als soziale metabolische Rate definieren, die allerdings global sehr ungleich verteilt ist. Auf diesem Gedanken aufbauend kann eine Wachstumsgleichung hingeschrieben werden. Anhand der richtigen Parameter zu Energieverbrauch und Bevölkerungswachstum kann man den Effekt der Anthropocene engine formal erfassen.

STANDARD: Was kommt bei dieser Gleichung heraus?

Laubichler: Wir können ausrechnen, wann unter den heute gegebenen Bedingungen das exponentielle Wachstum in einer Singularität endet. Das System würde demnach etwa um das Jahr 2070 kollabieren. Doch höchstwahrscheinlich passiert das nicht, weil sich bis dahin die Dynamik des Systems verändert. Das ist auch in der Vergangenheit immer wieder passiert. Wir haben die Gleichung mit den Daten der vergangenen 70, 80 Jahre parametrisiert und sahen, dass es etwa Mitte der 1970er-Jahre einen Bruch in der Systemdynamik gab. Das ist ein rein mathematisches Ergebnis. Doch Historiker und Ökonomen sagen uns, dass sich das Resultat tatsächlich sehr gut in die Geschichte dieser Zeit einpassen lässt.

STANDARD: Inwiefern?

Laubichler: In den 1970ern wurde der Goldstandard in vielen Wirtschaftssystemen aufgegeben, was zu einem explosionsartigen Wachstum des Finanzsystems führte. Es kam zu einem Investitionsschub im Bereich neuer Technologien und zu einer Beschleunigung der Globalisierung. Auf Bevölkerungsebene kamen zudem die Effekte der Technologisierung der Landwirtschaft im Zuge der Grünen Revolution der 1960er-Jahre zum Tragen. Dass die Gleichung diesem Realitätscheck standhält, machte uns sehr optimistisch und stolz.

STANDARD: Welche Erkenntnisse lassen sich nun daraus gewinnen?

Laubichler: Wenn man abstrakt auf sich reproduzierende komplexe Systeme schaut, braucht es eine ausgeglichene Bilanz aus positiven und negativen Rückkopplungseffekten: positive Effekte, die Wachstum fördern, negative, die für ein Gleichgewicht sorgen. Die Menschheit hat dieses Gleichgewicht gestört, indem sie limitierende Faktoren durch Innovation aus dem System nahm. Wir sind zunehmend durch positive Wachstumsmechanismen getrieben. Unsere Aufgabe ist es nun, Regelungssysteme zu finden, die uns einbremsen. Denn wenn wir uns dabei auf die Natur verlassen, geht es schlecht für uns aus. Sie reguliert unser System für uns – durch Klimawandel, Pandemien oder andere Mechanismen. Wir wollen mit unserer Betrachtungsweise einen Ansatzpunkt für bewusste Politik, Wissenschaft und datenbasierte Innovation geben. Aus der Modellierung sollen letztendlich Interventionsmaßnahmen abgeleitet werden, die einen möglichst großen positiven Effekt im System haben.

STANDARD: Ist der Menschheit so viel Selbstorganisation zuzutrauen?

Laubichler: Es gibt Beispiele von Gesellschaften, die diese Balance langfristig geschafft haben. Berühmt dafür ist etwa eine Kultur in Bali, die seit 1.200 Jahren über ein stabiles System zum Reisanbau verfügt. Es führt weder zu exponentiellem Wachstum noch zum Kollaps. Hier hat eine Kombination von sozialen Normen und religiös tradierten Wertvorstellungen das System in Balance gehalten. Zumindest lokal ist es also möglich, Stabilität zu erreichen. Die Wissenschaft bemüht sich, von derartigen indigenen Wissenssystemen zu lernen. Im richtigen Kontext betrachtet, können diese Kulturen Vorbildwirkung haben. 


Manfred Laubichler, geboren 1969 in Salzburg, studierte Zoologie, Philosophie, Geschichte und Mathematik in Wien, Yale und Princeton. Er ist Global Futures Professor und President's Professor für Theoretische Biologie und Geschichte der Lebenswissenschaften, Direktor der School of Complex Adaptive Systems an der Arizona State University und Professor am Santa Fe Institute in den USA. Er ist zudem für den Complexity Science Hub (CSH) Wien tätig.


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