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Schwarz-Rot beendet Bürgerräte und bricht Versprechen
Die Regierung löst die Stabsstelle für Bürgerräte auf. Dabei steht im Koalitionsvertrag eine klare Fortsetzung der Beteiligungsformate. Von Christine Mühlberg
Nicht wenige Menschen in Deutschland sehen sich fern der politischen Entscheidungsfindungen – Demokratiemüdigkeit ist ja auch nicht erst seit gestern ein Schlagwort, das den demokratischen Parteien im Bundestag auf der Seele lastet. Deshalb hatte die Ampelkoalition 2023 einen Bürgerrat ins Leben gerufen, der als erster solcher Versuch sich um „Ernährung im Wandel“ kümmern sollte. 160 zufällig ausgewählte Personen formulierten dann Empfehlungen für die Bundesregierung.
Obwohl es im Koalitionsvertrag anders steht, beendet die schwarz-rote Koalition das Beteiligungsexperiment nun. Das bestätigte ein Sprecher des Bundestags dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Es gibt derzeit keine politischen Planungen für einen weiteren Bürgerrat. Die Stabsstelle Bürgerräte beim Deutschen Bundestag wurde daher aufgelöst.“
Parlamentspräsidentin Julia Klöckner (CDU) äußerte sich nicht dazu. An der Organisation waren unter anderem der Verein Mehr Demokratie sowie das Forschungsinstitut Nexus beteiligt. Beide bestätigten, dass sie bislang keinen Auftrag für einen weiteren Bürgerrat erhielten.
Geht es aber nach dem Koalitionsvertrag, müsste das Gremium fortbestehen. Wörtlich heißt es dort: „Ergänzend zur repräsentativen Demokratie setzen wir dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages fort“. Wann und in welcher Form, das ließ man offen.
Wie es weitergehen könnte, darüber wollen die Abgeordneten Helge Lindh (SPD) und Ina Latendorf (Linke) bei einer Podiumsdiskussion von Mehr Demokratie am kommenden Dienstag beratschlagen. Beide sprechen sich für weitere Bürgerräte aus. „Allerdings ist zu befürchten, dass die Erfahrung im Umgang mit dem Bürgerrat ‚Ernährung im Wandel‘ hier nichts Gutes vonseiten der Regierungskoalition erwarten lässt“, kritisiert Latendorf.
Auch bei kontroversen Themen solle die Politik keine Angst vor Anregungen von außen haben, so Lindh: „Wir erreichen mit Bürgerräten explizit Menschen, die sich nicht an den üblichen Veranstaltungen beteiligen.“ Die SPD habe sich deshalb klar für Bürgerräte ausgesprochen und das im Koalitionsvertrag verankert. Bei Klöckner habe er aber keine aktiven Schritte gesehen in Richtung eines weiteren Rats. Lindh macht daher nun Druck: „Wir benötigen solche Formate mehr denn je. Demokratie muss erfahrbar sein und Begeisterung wecken.“
Sollte der Bürgerrat tatsächlich Geschichte sein, würde das die Schieflage zwischen der Politik und den Vorstellungen vieler Menschen weiter verschärfen, schätzt der Geschäftsführer des Nexus-Instituts, Jacob Birkenhäger: „Der Bürgerrat hat Räume für Menschen geöffnet, die kaum noch im Diskurs gehört werden.“ Sowohl auf der Landes- als auch auf EU-Ebene seien Räte deshalb „längst common sense“.
Das Gremium biete die Chance, Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zurückzugewinnen, ergänzt Mehr-Demokratie-Vorstand Roman Huber: „Gerade im Hinblick auf das Erstarken rechtsextremer und antidemokratischer Kräfte wäre eine Abkehr das falsche Signal.“ Sollte die Regierung den Rat verhindern, zeige das „auf jeden Fall den Stand des Demokratieverständnisses der Koalition an“, bemängelt Latendorf.
Den ersten von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ hatte die damalige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) – heute Bundesministerin für Arbeit und Soziales – Ende März 2023 initiiert. In mehreren Sitzungen hatte der Bürgerrat unter anderem über kostenfreies Essen in Kindergärten und Schulen beraten. Über die Empfehlungen wurde anschließend auch mehrfach im Parlament diskutiert. Aufgrund der vorzeitigen Bundestagswahl im Februar setzte sich das aber nicht fort. Bundeslandwirtschaftsminister Alois Rainer (CSU) hatte im Juni angekündigt, die Empfehlungen noch einmal prüfen zu lassen.
Zeit hier 26. November 2025,Quelle: DIE ZEIT, dpa, spr
Die Ampelregierung hatte den ersten Bürgerrat ins Leben gerufen, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hielt von der Idee wenig. Die SPD will dennoch daran festhalten.
Bürgerräte im Bundestag: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) warnt davor, die Bedeutung des Parlaments und der frei gewählten Parlamentarier zu schmälern.
Die Stabsstelle für Bürgerräte im Bundestag ist aufgelöst worden. Das bestätigte die Bundestagsverwaltung auf Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND). Schon zu Beginn der Legislaturperiode hatte Parlamentspräsidentin Julia Klöckner (CDU) gesagt, dass sie die Stabsstelle kritisch sieht.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh bedauerte den Schritt. Für die Durchführung weiterer Bürgerräte wäre die bisherige Stabsstelle "fachlich und organisatorisch unzweifelhaft geeignet gewesen", sagte Lindh dem RND und forderte einen gemeinsamen Umsetzungsvorschlag für weitere Räte.
Lindh verwies auf den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung. Dort heißt es: "Ergänzend zur repräsentativen Demokratie setzen wir dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Deutschen Bundestages fort."
Ampelkoalition hatte den ersten Bürgerrat eingeführt
Die Ampelregierung hatte 2023 einen ersten Bürgerrat zu Ernährungsfragen ins Leben gerufen. Dieser sollte ein möglichst repräsentatives Bild der Gesellschaft abbilden. Kriterien waren deshalb geografische Herkunft, Geschlecht, Alter, Gemeindegröße und Bildungsstand. Unterstützt wurde das Gremium von Experten aus Wissenschaft und Praxis.
An erster Stelle entwickelten die 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Idee, für alle Kinder in Kitas und Schulen ein kostenloses Mittagessen anzubieten. Angeregt wurde zudem eine Streichung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse. Empfohlen wurde auch eine staatliche Kennzeichnung von Produkten mit Blick auf Klimaschutz, Tierwohl und Gesundheitsaspekte. Beschlüsse folgten daraus aber vorerst nicht.
"Der größte Bürgerrat in Deutschland ist das demokratisch gewählte Parlament", hatte Parlamentspräsidentin Klöckner im Mai der Welt am Sonntag gesagt. Die demokratische Legitimierung des Bundestages sei um ein Vielfaches größer, als es jedes dialogische Beteiligungsformat sein könne. Es müsse der Eindruck vermieden werden, die Bedeutung des Parlaments und der frei gewählten Parlamentarier würde geschmälert, sagte sie.
RND hier
Bürgerrat vor dem Aus: Keine Fortsetzung trotz Versprechen im Koalitionsvertrag
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