Dr. Stefan Schmitt /DIE ZEIT Nr. 50/2025 26. November 2025 hier LinkedIn
»Meine These ist: Die Autogesellschaft implodiert.Meine Generation hat alles mit dem Auto gemacht. Die ganzen Urlaube, die vielen Anti-AKW-Demos, alles per Auto! Keine Generation nach uns wird eine solche Fahrleistung schaffen. Aber jetzt orientieren sich die Menschen um. Selbst uns Babyboomern ist es doch inzwischen zu viel.«
Das sagt Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin fuer Sozialforschung (WZB) und der Technische Universität Berlin in unserem Interview für DIE ZEIT. Er hat mit Max Hägler und mir über Autos, Lastenräder und Firmenwagen bei der Bahn gesprochen. Und über die große Frage, warum sich alle in diesem Land über den Verkehr so aufregen.
Emotionen im Straßenverkehr:
"Sie hören es ja am Gehupe. Eigentlich müsste es noch viel öfter scheppern"
Warum bloß werden im Straßenverkehr alle so schnell aggressiv? Der Soziologe Andreas Knie hat eine Erklärung. Er hat erforscht, wie die Mobilität sich wandelt. Sogar bei Boomern wie ihm
Interview: Max Hägler und Dr.Stefan Schmitt
DIE ZEIT: Herr Knie, fluchen Sie im Auto?
Andreas Knie: Klar, Wichser!
ZEIT: Wenn einer drängelt oder rechts überholt?
Knie: Vor allem Drängler.
ZEIT: Oder wenn einer vor Ihnen zu langsam ist?
Knie: Nee. Ich bin früher immer zu schnell gefahren, das gebe ich zu. Aber irgendwann setzt auch im männlichen Hirn die Erkenntnis ein: Fahr langsamer, komm schneller an! Dafür habe ich 50 Jahre gebraucht.
ZEIT: Warum regen sich alle in diesem Land über den Verkehr so auf?
Knie: Als Soziologe sage ich: Es liegt am verkehrsmittelspezifischen Blick. Die Schriftstellerin Irmgard Keun hat das 1953 schön beschrieben: "Besteigen Sie Ihr erstes Auto, und nehmen Sie Abschied. Als Autofahrer werden sich Ihre bisherigen Fußgänger-Ansichten radikal wandeln."
ZEIT: Und das ist der Grund für Ärger und Unverständnis?
Knie: Es ist ein Teil der Erklärung. Hinzu kommt: Früher waren die Verhältnisse noch geordnet. In den Fünfziger-, Sechziger-, Siebzigerjahren war der Verkehr klar auf das Auto fixiert. Heute haben wir einen Kampf darum, wer den begrenzten Platz auf der Straße wie nutzen darf. Die Fußgänger beschweren sich. Der Allgemeine Blinden- und Sehbehindertenverein wollte schon eine Klage anstrengen gegen die E-Scooter. Und wir haben mehr Fahrradfahrende in den Städten. In Leipzig, Bremen oder Dessau werden beispielsweise schon 20 bis 30 Prozent der Wege so zurückgelegt.
ZEIT: Die vollen Straßen und die Unordnung machen aggressiv?
Knie: Sie hören es ja am Gehupe. Kollegen aus der Unfallforschung haben mir gesagt: Eigentlich müsste es sogar viel öfter scheppern.
ZEIT: Warum passiert das nicht?
Knie: Weil es auch ein Vorteil ist, dass junge Leute in der Großstadt bei jedem zweiten Weg intermodal unterwegs sind, also verschiedene Verkehrsmittel kombinieren. Deshalb kennen sie die Straße aus unterschiedlichen Perspektiven. Wir haben festgestellt, dass Autofahrer zum großen Teil auch selbst Radfahrer sind und dass sie deshalb auch besser auf diese achten, etwa beim Rechtsabbiegen.
Andreas Knie 64, ist Soziologe und Mobilitätsforscher. Bislang betonte er bei jeder Gelegenheit, dass Deutschland unter seinen Millionen Pkw leidet: "Wo kommen bloß die vielen Autos her und wie werden wir sie wieder los?" (Alexander Verlag 2025). Jetzt outet sich Knie als Autofan – und kritisiert den ländlichen Nahverkehr. Was ist denn da los?
ZEIT: Gleichzeitig wurde ausgerechnet das Lastenrad zur politischen Chiffre. Weshalb?
Knie: Das wurde medial total übertrieben – mit der Unterstellung, die Grünen wollten unser Leben zwangsweise verändern.
ZEIT: Das Lastenrad ist also die Wärmepumpe des Verkehrs?
Knie: Besser könnte man es nicht sagen.
ZEIT: Wie viele Lastenräder gibt es denn?
Knie: Im Vergleich zum Auto liegt das im Prozentbereich. Aber es geht ja um die Förderung: Da entstand der Eindruck, das geht an Leute, die sowieso Geld haben. Aus Berlin wissen wir: Die Hälfte der Lastenradfahrer hat niedrige Einkommen, und solche Leute haben bei der Förderung zugegriffen.
ZEIT: Mitunter wirken schwere Lastenräder aber schon wie die SUVs der Radwege.
Knie: Radfahrer sind nicht per se die besseren Menschen! Ein Lastenrad ist eine gute Erfindung, aber viel zu groß für viel zu schmale Radwege, es müsste eigentlich auf der Straße fahren, wir brauchen also viel mehr Platz für andere Verkehrsmittel als das Auto.
ZEIT: Noch so ein Aufregerthema: das Tempolimit auf Autobahnen. Warum spaltet das so?
Knie: Weil wir keine Geschwindigkeitsbegrenzung haben, hat jeder den festen Willen, möglichst schnell anzukommen. Diese Option erzeugt bei uns eine Grundaggressivität, die es in anderen Ländern nicht gibt. Auf den Autobahnen in Frankreich, in Italien fahren alle entspannter. Dabei gäbe es auch bei uns längst eine Mehrheit für Tempo 130.
ZEIT: Wer sagt das? Beim ADAC heißt es, die Mitglieder seien da ziemlich gespalten.
Knie: Studien des Umweltbundesamts etwa. Da wuchs die Zustimmung zum Tempolimit über 15 Jahre auf mittlerweile 65 Prozent. Frauen sind klar dafür, Jüngere auch. Nur ältere Männer sind dagegen. Und aus genau dieser Gruppe stammen immer die Verkehrsminister.
ZEIT: Wir möchten mit Ihnen darüber sprechen, wie der Konflikt um die Straße ausgehen könnte. Da lautet die Kernfrage: Wie dominant ist das Auto noch?
Knie: Zwei Drittel der Strecke im Personenverkehr werden damit zurückgelegt – in Kilometern gerechnet. Zählt man aber die Wege, also die Fahrt zum Einkaufen, zum Sport, zur Arbeit und so weiter, dann nehmen wir nur in vier von zehn Fällen das Auto, in großen Städten sogar nur halb so oft. Die Autonutzung geht seit zehn Jahren zurück, besonders seit der Pandemie. Gewinner sind die Füße.
ZEIT: Gleichzeitig nimmt die Zahl der Fahrzeuge zu. In München gibt es jetzt das Kennzeichen MUC, weil M für die vielen Autos nicht mehr reichte. Wie passt das zusammen?
Knie: Wir haben 61 Millionen Kraftfahrzeuge, davon 49 Millionen Pkw. In den vergangenen fünf Jahren ist die Zahl sogar noch um etwa ein halbes Prozent pro Jahr gewachsen. Aber zwei Drittel der Neuzulassungen sind inzwischen gewerblich, mit einem sehr großen Anteil an Dienstwagen.
ZEIT: Das umstrittene Steuerprivileg für Dienstwagen ist also zentral für die deutsche Industrie?
Knie: Absolut! Als Dienstwagen werden oft größere Modelle von Audi, BMW, Mercedes, aber auch Volkswagen gewählt, deren Verkauf so gefördert wird. Auch die Bahn hätte große Probleme, wenn dieses Geschäft wegfiele. Denn DB Cargo gehört zu den größten Transporteuren von Autos. Ich war selbst 16 Jahre bei der Bahn. Die Bahn ist auch einer der größten Autoeinkäufer der Republik.
ZEIT: Was macht die Bahn mit den ganzen Autos?
Knie: Sie braucht sie, um ihre Infrastruktur zu warten – und um Privilegien zu gewähren. Schätzen Sie mal, wie viele von den über 7.000 Führungskräften bei der Bahn, die meinen Informationen zufolge einen Dienstwagen nutzen können, darauf verzichten und stattdessen eine BahnCard 100 nehmen?
ZEIT: Von 7.000? Sagen wir 2.000 ...
Knie: Ganze 300! Die meisten, die in der Bahn Verantwortung tragen, fahren Auto. Das sind Leute, die wenig Ahnung vom Bahnfahren haben, sondern die Autofahrerbrille tragen.
ZEIT: Sie untersuchen als Soziologe den Verkehr als gesellschaftliches Phänomen. Aber sowohl in Ihrem aktuellen Buch als auch in diesem Gespräch geht es vor allem ums Auto. Warum?
Knie: Ich liebe Autos. Ich habe bei einer Audi-Tochter gearbeitet, habe über Rudolf Diesel promoviert, über Felix Wankel habilitiert. Wankel hat die Alternative zum Kolbenmotor erfunden. Und dann hat NSU drum herum den Ro 80 gebaut, mein Lieblingsauto! – Jedenfalls ist der Umgang mit dem Auto ein Spiegelbild der Gesellschaft.
ZEIT: Und was sehen wir da?
Knie: Es gibt diese Vorstellung: Der Mensch hat ein Bedürfnis und wählt das passende Werkzeug. Aber in Wahrheit verführt das Werkzeug ihn zu Dingen, auf die er vorher gar nicht gekommen wäre: Berufspendelei, Häuschen im Grünen, ständige Bringdienste, Stichwort Familientaxi – das Auto legt fest, wie wir unser Leben gestalten.
ZEIT: Wie ist das bei Ihnen?
Knie: Im Cabrio durch Brandenburg fahren, es gibt nichts Schöneres! Nur insgesamt ist mir das Auto viel zu dominant. Die Dosis macht das Gift.
ZEIT: Wenn das Auto so stark unseren Alltag prägt, dann ist doch verständlich, dass jede Veränderung zu Abwehr führt.
Knie: Nein. Meine These ist vielmehr: Die Autogesellschaft implodiert. Meine Generation hat alles mit dem Auto gemacht. Die ganzen Urlaube, die vielen Anti-AKW-Demos, alles per Auto! Keine Generation nach uns wird eine solche Fahrleistung schaffen. Aber jetzt orientieren sich die Menschen um. Selbst uns Babyboomern ist es doch inzwischen zu viel.
ZEIT: Woran machen Sie das fest?
Knie: Wir ziehen uns messbar aus dem öffentlichen Raum zurück. Meine Kollegin Dagmar Simon hat gesagt: "Die Gesellschaft verkrümelt sich." Grob gesagt haben wir nur noch 80 Prozent der Umsätze im Einzelhandel, in Theatern und Kinos wie vor der Pandemie. Und viele bleiben jetzt auch mal im Homeoffice. Zwei Drittel der Angestellten, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, arbeiten an mindestens einem Tag nicht mehr im Büro.
ZEIT: Dennoch ist der Autoverkehr inzwischen beinahe wieder auf Vor-Corona-Niveau angekommen.
Knie: Wir liegen immer noch drunter. Aber das Auto bleibt dominant, weil viele ihr Leben um das Auto herum gebaut haben. In Bayern oder Niedersachsen leben weniger als die Hälfte der Menschen in Laufdistanz zu einer Haltestelle, an der mindestens einmal pro Stunde ein Bus fährt. Das zeigt doch: Abgesehen vom Schülerverkehr und außerhalb der Großstädte ist der Bus keine massentaugliche Alternative mehr.
ZEIT: Vielerorts wird gefordert, stillgelegte Bahnstrecken zu kleineren Orten wieder zu aktivieren.
Knie: Ich halte gar nichts davon, die Bahn dorthin fahren zu lassen, wo sie nicht mehr nützlich ist. Die Bahn ist in vielen Teilen nicht mehr zeitgemäß: 60 Millionen Menschen leben in Ein- oder Zweifamilienhäusern, diese Zersiedelung lässt die nötige Bündelung für den Zugverkehr einfach nicht mehr zu, zumal eben der Tag auch nicht mehr so einheitlich strukturiert abläuft. Auch wenn ich da sehr anecke bei vielen Kolleginnen und Kollegen: Bus und Bahnen auf dem Land sind deutlich weniger als 20 Prozent ausgelastet – das ist kein funktionierendes Modell mehr für die Zukunft.
ZEIT: Eine interessante Haltung für einen eher linken Verkehrsforscher. Wie sollen die Menschen denn mobil bleiben – ohne Auto?
Knie: Ich setze viel auf Robotaxis. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat zwischen 2018 und 2020 bereits automatisierte Fahrzeuge getestet. Sie holen von zu Hause ab, bringen einen, wohin man will, kosten bald weniger als ein Taxi.
ZEIT: Aber deutlich mehr als ein ÖPNV-Ticket.
Knie: Wer mit dem eigenen Auto groß geworden ist, den spricht so etwas an. Und je mehr solche Fahrzeuge fahren, desto günstiger wird diese Technik ja auch.
ZEIT: Bislang scheint die Leute vor allem etwas anderes anzusprechen. Unabhängig vom Antrieb, strebt das Autodesign zu länger, breiter, schwerer. Die Industrie sagt, die Leute wollen SUVs – und die Verkaufszahlen geben ihr recht, oder?
Knie: Statt etwas Neues zu wagen, verbessert die Industrie das Alte, und das heißt einfach, es wird immer größer und schwerer. Der Kunde hat da gar keine andere Wahl.
ZEIT: Kleinere Fahrzeuge zu bauen, ist hierzulande aber auch nicht profitabel. Das erzeugt doch ein Dilemma für die Industrie.
Knie: Das ist richtig, und jetzt kippt auch noch der Auslandsmarkt China weg, wo schon heute überwiegend Elektroautos gekauft werden. Da muss man sich überlegen, womit man künftig Geld verdient! Das kritisiere ich an der deutschen Industrie: ihre Fixierung auf den Verbrenner und den Nicht-Einstieg in das automatische Fahren. Das selbstfahrende Auto wird das Produkt der nächsten Generation, aber diesen Technologiesprung machen Amerikaner und Chinesen. Deutschland ist draußen.
ZEIT: Selbst der Marktführer aus den USA, Waymo, ist noch lange nicht profitabel. Und in Deutschland könnten Experten zufolge Robotaxis nicht vor 2035 Gewinn erwirtschaften.
Knie: Das ist eben eine Zukunftsinvestition. Aber bei uns gilt halt immer noch, was Ex-VW-Chef Martin Winterkorn gesagt haben soll: "Ich fahre, also bin ich."
"In den Nullerjahren verschwand die Zukunft"
ZEIT: Was Sie fordern, haben die Autobauer vor einem Jahrzehnt versucht und wollten zu Mobilitätskonzernen werden. Aber das andere Geschäft, Carsharing etwa, hat sich nicht gelohnt.
Knie: Es bleibt dabei: ein Auto wird durchschnittlich viel weniger als eine Stunde pro Tag bewegt, das spricht fürs Nutzen statt Besitzen, also fürs Carsharing. Die Umstände müssen sich ändern: Parkplätze als öffentlicher Raum müssen anders bepreist werden. Gerade fangen die Kommunen damit an, Frankfurt und Tübingen zum Beispiel. München hat Pläne in der Schublade. Was viel fährt und öffentlich verfügbar ist, muss billig parken, was viel steht, weil es privat ist und auch noch groß dazu, muss teuer bezahlen – das wäre zeitgemäß. Dann gäbe es wieder ein Geschäftsmodel fürs Carsharing!
ZEIT: Neue Regeln, neue Abgaben, darüber werden sich doch wieder viele aufregen, das hat Spaltpotenzial.
Knie: Aufregerpotenzial, ja, aber sagen Sie nicht Spaltung. Das klingt immer so endgültig. Nein, wir ringen noch.
ZEIT: Und wie könnte das Ergebnis des Ringens aussehen, der Verkehr in der Zukunft? Stellen wir uns eine Familie vor – mit Arbeitspendelei, Schule, Sportverein – an einem Dezembertag im Jahr 2040 in einer mittelgroßen deutschen Stadt.
Knie: Diese Familie wird in einer multifunktionalen Wohn- und Arbeitsumgebung leben, Einkaufen, Schule, Kneipe, Nachbarn, Arbeiten – alles um die Ecke, entfernungsintensive Arbeits- und Lebensstile gibt es nicht mehr. Ein- oder zweimal in der Woche holt das Robotaxi Familienmitglieder ab und fährt zum nächsten Bahnhof, von dort geht’s in die große Stadt.

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