Der Kanzler und die Länder-Chefs wollen Bürokratie abbauen und die Öko-Wende vorantreiben - und erhalten von Naturschützern einen Schmähpreis. Sind denn jetzt alle verrückt geworden?
In einem Land vor unserer Zeit
Zu den wenigen Dingen, auf die sich Regierung und Opposition, Stammtische und Internetflegel in diesen polarisierten Zeiten noch einigen können, gehört die Klage, in einem Land der Schnarcher und Bremser, der Blockierer und Bedenkenträger zu leben. Egal, ob Hausbau, die Verlängerung des Reisepasses oder die Inbetriebnahme einer neuen Maschine: Die Planungs- und Genehmigungsverfahren sind zäh wie Kaugummi, die Behörden gängeln und verhindern angeblich, wo sie nur können. Als etwa Olaf Scholz vor einiger Zeit anmerkte, es könne doch wohl nicht so schwer sein, in Deutschland jeden Tag fünf neue Windräder aufzustellen, musste er rasch feststellen: Doch, ist schwer, offenkundig sogar unmöglich.
Kein Wunder also, dass ein Aufatmen durchs Land ging, als der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder Anfang November ein Programm zur Planungsbeschleunigung vereinbarten und es sogleich mit dem hochtrabenden Titel "Deutschlandpakt" versahen. Mit dem Paket sollen Vorschriften vereinheitlicht, überflüssige Regeln gestrichen und Prozesse beschleunigt werden. In seiner bekannt bescheidenen Art sprach Scholz von einem "sehr historischen Moment, in dem wir uns hier befinden".
Für ihre Leistung erhalten die Damen und Herren Regierungschefs nun tatsächlich einen Preis - allerdings keinen, auf den der übernächtigte, aber auch mächtig stolze Kanzler damals wohl gehofft hatte: Der Naturschutzbund Deutschland (Nabu), der größte und mitgliederstärkste Umweltverband des Landes, nämlich wird den Pakt für Planungsbeschleunigung an diesem Donnerstag mit dem "Dinosaurier des Jahres" auszeichnen. Für die Aktivisten, deren Vorgänger schon vor mehr als 120 Jahren für den Erhalt von Flora und Fauna stritten, ist der Bund-Länder-Beschluss damit offiziell die rückständigste Entscheidung und zugleich die "Umweltsauerei des Jahres".
Der Nabu warnt vor Träumen aus den 70er-Jahren
Nur, Moment mal: mehr Windräder und Solarfelder = Umweltsauerei? Ist den Aktivisten im wahrlich irren Jahr 2023 da etwas durcheinandergeraten? Mitnichten, wie Nabu-Chef Jörg-Andreas Krüger versichert. Er räumt zwar ein, dass der Ruf von Wirtschaft und Politik nach schnelleren Baugenehmigungen etwa für die Energieversorgung, für Wohnungen und Infrastrukturprojekte verständlich sei. Dies dürfe aber nicht auf Kosten der Natur gehen und in einen "Wettlauf um die Zerstörung von Landschaften" münden. "Es ist nicht die Rücksichtnahme auf die Natur, die eine schnellere Planung verhindert. Es sind Menschen, ineffiziente Prozesse und überbordende Bürokratie bei gleichzeitigem Personalmangel", so Krüger. Statt also etwa von einem "Bauboom auf der grünen Wiese wie in den 70ern" zu träumen und dafür Umweltstandards zu opfern, benötige die Politik eine andere Grundhaltung, die Ökonomie und Ökologie zusammenbringt.
Offizieller Empfänger der Auszeichnung ist im Übrigen Hessens Regierungschef Boris Rhein, der derzeit die Ministerpräsidentenkonferenz anführt. Ihm, so Krüger, werde der Preis an diesem Donnerstag stellvertretend zugestellt - "per Express", ganz ohne bürokratische Verzögerungen also.
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