Dienstag, 12. Dezember 2023

Neue Studie rüttelt an einer zentralen Klima-Schuldfrage

hier  Artikel von FOCUS Online  • 11.12.23  Von Bernhard Pöttner

Unangenehmes Thema für viele Staaten 

Neue Daten kratzen an einem der Fundamente für die Verteilung der Verantwortung bei den UN-Klimaverhandlungen: Anders als bisher immer dargestellt, sind die Industriestaaten mit ihren historischen Emissionen nicht mehr die Hauptverursacher der globalen Erwärmung.

Mitten in den finalen Verhandlungen der COP zeigt eine brisante Studie: Die Schwellen- und Entwicklungsländer treiben mit ihren historischen Emissionen die Erderwärmung stärker voran als die Industriestaaten. Damit gerät ein zentrales Narrativ des UN-Klimaprozesses ins Wanken. Entsprechend unangenehm ist das Thema vielen Staaten. 

In der zentralen Frage der globalen Klimapolitik ändern sich die Vorzeichen: Laut einer neuen Studie, die im Fachmagazin Nature erschienen ist, haben die Länder des Globalen Südens durch ihre Treibhausgasemissionen inzwischen mehr zur Erderhitzung beigetragen als die Industriestaaten.

Der Anteil der Industriestaaten laut Klimarahmenkonvention („Annex I“) an den historischen Beiträgen zur Erwärmung zwischen 1851 und 2021 liegt demnach bei 44,8 Prozent. Der Anteil der Schwellen- und Entwicklungsländer („non-Annex-I“) dagegen beträgt 53,5 Prozent. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit Daten der UNO und des IPCC.

Zentrale Erklärung der Klimakrise stimmt nicht mehr

Damit steht eine zentrale Aussage infrage, die in den letzten Jahrzehnten die globale Klimadiplomatie dominiert hat: Die Erzählung, dass die Industrieländer die Hauptschuldigen an der Klimakrise sind – und dass der Rest der Welt dazu wenig beigetragen hat. So spricht etwa der Vorschlag der G77/China für einen Beschluss zum „Global Stocktake“ auf der COP28 von „historischen Lücken bei der Umsetzung von Klimaschutz“ und der „historischen Verantwortung der entwickelten Länder, die Führung beim Klimaschutz zu übernehmen.“ Das Argument, das vielen UN-Beschlüssen zugrunde liegt: Die Industriestaaten müssen beim Klimaschutz mehr leisten und außerdem die Entwicklungsländer finanziell unterstützen, weil sie am meisten CO₂ emittiert haben und durch dieses fossile Wachstum im Schnitt reicher geworden sind.

Der Globale Norden mit „nur“ 44,8 Prozent

Aber das Argument, der Globale Norden sei historisch der größte Verschmutzer, ist jetzt deutlich widerlegt. Das zeigt die neue Studie, weil sie umfassende Daten heranzieht: Sie berechnet neben CO₂-Emissionen aus fossiler Verbrennung auch solche aus Landnutzung und Waldzerstörung, die sonst oft vernachlässigt werden. Zudem beleuchtet sie auch die Klimaeffekte von Methan- und Stickoxidemissionen

Die einzelnen Ergebnisse:

Zur Veränderung der globalen Mitteltemperatur haben die 152 Non-Annex-I-Länder seit 1851 mit 53,5 Prozent beigetragen. Die 41 Annex-I-Staaten (vor allem die USA, Kanada, Europa, Japan, Australien, Neuseeland und die Länder des ehemaligen sozialistischen Lagers) dagegen 44,8 Prozent.

Historisch sind die USA (17,3 Prozent) und China (12,3 Prozent) die größten einzelnen Treiber der Erwärmung

Der historische Beitrag der OECD-Länder an der Erderhitzung liegt bei 39,8 Prozent

Die „Annex-II-Staaten“ (Industrieländer ohne Russland und dem ehemaligen sozialistischen Block) trugen 33,8 Prozent bei

Die ehemals sozialistischen „Volkswirtschaften im Übergang“ (EIT) liegen mit 11,2 Prozent vor der EU27 mit 10,4 Prozent.

Die Rechnung sieht anders aus, wenn sie nur die Emissionen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe betrachtet: Hier machen die klassischen Industrieländer mit 54,1 Prozent noch die Mehrheit der Emissionen aus. Bei der Erwärmung durch Emissionen aus Landnutzung (LULUCF) dagegen liegen die Schwellen- und Entwicklungsländer mit 73 Prozent deutlich vorn

Brisante Frage in den UN-Verhandlungen

Die Frage nach den Anteilen an Emissionen und Erwärmung ist politisch im UNFCCC-Prozess so brisant, dass sie ungern offen diskutiert wird. Dabei zeigt etwa auch eine Grafik im 6. IPCC-Sachstandsbericht die historischen Emissionen aus fossilen Quellen und Landnutzung nach Ländergruppen. Die klassischen Industrieländer in Nordamerika, Europa und Japan/Ozeanien kommen dabei ebenfalls nur auf 43 Prozent. Aber zehn Prozent sind der Gruppe „Osteuropa und West-Zentralasien“ zugeordnet, die nicht mit den „Annex“-Kategorien der UNFCCC übereinstimmen. Eine klare Aussage darüber, welche Länder aus dieser Gruppe Annex- oder nicht-Annex-Staaten sind, ist daher nach dieser Kalkulation nicht möglich: Eine klare Einteilung der Emissionen zu Industrie- oder Entwicklungsländern ebenfalls nicht.

Dabei sind die Daten des aktuellen Papiers eindeutig. Demnach haben sich „die Beiträge zur Erwärmung zwischen den beiden Gruppen bereits etwa 2009 gekreuzt“, sagt William Lamb, Emissionsexperte am MCC Berlin und Autor von IPCC- und UNEP-Berichten zu dem Thema, der an der aktuellen Studie nicht beteiligt war. „Seitdem liegt der Anteil der Nicht-Annex-Staaten an der Erwärmung höher als die historischen Beiträge der Industriestaaten“. 2009 scheiterte in Kopenhagen die COP15 daran, dass sich der globale Norden und Süden nicht darauf einigen konnten, wer wie viele Emissionen reduzieren sollte. „Kalkulation und Darstellung dieser Zahlen bei IPCC und UNEP sind für die Länderdelegationen eine zutiefst politische Sache und werden auch so verhandelt“, so Lamb zu Table.Media. Eine große politische Debatte hat zu dieser Frage bisher nicht stattgefunden.

Neue Fragen zur Verantwortung für die Krise

Auch der aktuelle „Unep Emissions Gap Report“ behandelt die Lücke bei den nötigen Emissionsreduktionen: 2022 erreichten der globale Treibhausgasausstoß mit einer Steigerung um 1,2 Prozent den bisherigen Höchststand mit 57,4 Milliarden Tonnen CO₂-Äquivalent. Der Bericht führt aber auch die historischen Emissionen auf und stellt die Verbindung her zu anderen, ebenfalls wichtigen Aspekten: Neben der Menge der historischen Emissionen und dem Beitrag zur Erwärmung stellt er etwa auch die Pro-Kopf-Emissionen der Länder und Ländergruppen dar. Schlüsselt man die historischen Emissionen der G20 Staaten nach Industrie- und Schwellenländer auf, zeigt sich ebenfalls der Trend, dass die Industriestaaten unwichtiger werden.

So hat zum Beispiel China in seinen Vorschlägen für eine Aufnahme des „Global Stocktake“ in die COP-Beschlüsse seine Forderungen angepasst. Statt generell den Industrieländern vorzuwerfen, sie hätten die Klimakrise verschuldet, bringt China nun vor:

Die „historischen kumulativen Emissionen sind ungleich verteilt, Entwicklungsländer haben niedrigere Pro-Kopf-Emissionen und niedrigen (sic) historischen Beitrag zu den kumulativen Emissionen als die entwickelten Länder“ (Syntaxfehler im Original)

Historisch „trugen die entwickelten Länder 57 Prozent der Emissionen aus fossilen Brennstoffen und Industrie bei“ – damit erwähnt es nicht die LULUCF-Emissionen.

Verlagern die OECD-Länder „jedes Jahr fast 2 Milliarden Tonnen CO₂ in nicht-OECD-Länder durch den Handel, was 15 Prozent der Emissionen der OECD-Länder ausmacht und die Industrieländer zu netto-Importeuren von CO₂-Emissionen macht und Entwicklungsländer zu CO₂ -Exporteuren.“

Das verlagert die Debatte von der reinen Mengenfrage hin zu einer qualifizierten Betrachtung der Emissionen: etwa pro Kopf oder pro Wirtschaftsleistung eines Landes. Das aber ordnet die globalen Verantwortlichkeiten neu. 

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