FAZ hier Frankfurter Allgemeine Zeitung Artikel von Hanna Decker • 28.12.23
Energiewende: Wie mehr Gaskraftwerke gebaut werden könnten
Eines der drängendsten Probleme der Energiewende sind fehlende Gaskraftwerke. Sie sollen nach dem Ausstieg aus Kernkraft und Kohle die erneuerbaren Energien ergänzen und Strom liefern, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte vor Monaten eine Kraftwerksstrategie angekündigt, die Investitionen ankurbeln und die Versorgungssicherheit erhöhen soll. Doch wie so viele Projekte liegt die Strategie durch die Haushaltskrise auf Eis. Für das erste Quartal stehe sie auf seiner Agenda, sagte Habeck jüngst dem „Handelsblatt“.
Dabei macht die Energiebranche seit Monaten Druck. Der Verband kommunaler Unternehmen (VKU) befürchtet, ohne Strategie sei das Risiko für Investoren zu hoch, die notwendigen Investitionen würden ausbleiben, und es drohe „eine Versorgungslücke“. Schlimmstenfalls könne der auf 2030 vorgezogene Kohleausstieg nicht wie geplant stattfinden, gibt auch der Branchenverband BDEW zu bedenken. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sagte auf der Energietagung von EWI, F.A.Z. und BDEW im Dezember, einen „Ausstieg ohne Einstieg“ in wasserstofffähige Gaskraftwerke dürfe es nicht geben.
Die Bundesnetzagentur schätzte im vergangenen Jahr basierend auf zwei Gutachten, dass bei einem vorzeitigen Kohleausstieg 2030 zusätzliche Gaskraftwerke mit einer Kapazität von 17 bis 21 Gigawatt fehlen würden. Wie genau Investitionen angereizt werden sollen, ist umstritten. Das Wirtschaftsministerium kündigte Anfang August an, zwischen 2024 und 2026 den Bau von 10 Gigawatt Gaskraftwerken auszuschreiben, die bis spätestens 2035 auf Wasserstoff umgestellt werden müssen. 2026 sollen weitere 5 Gigawatt folgen. Hinzu kommen bis 2028 wasserstoffbasierte Sprinter- und Hybridkraftwerke mit einer Kapazität von 8,8 Gigawatt.
Nur erzeugter Strom wird vergütet
Darüber hinaus steht die Einführung von Kapazitätsmärkten im Raum – ein Konzept, über das in Deutschland seit Jahren heftig diskutiert wird. Kern des Streits ist die Frage, ob Gaskraftwerke nach den Regeln der Strommärkte in Zukunft genug Geld verdienen können, damit sich ihr Bau lohnt. Bislang wird am Markt allein der erzeugte Strom, nicht aber die Vorhaltung von Kapazität vergütet.
Neu gebaute Gaskraftwerke werden voraussichtlich nur wenige Stunden im Jahr laufen. Denn sie gelten im Vergleich zu Kohle- und Kernkraftwerken zwar als günstig zu bauen, ihr Betrieb ist aber relativ teuer. Sie sollen an wind- und sonnenarmen Tagen flexibel als Back-up einspringen und die Spitzenlast abdecken. In der ökonomischen Theorie kommt es dann, wenn Erzeugungskapazität knapp ist, zu Knappheitspreisen: In einzelnen Stunden steigen die Preise extrem stark. In Summe reichen die Erlöse daraus aus, um Gaskraftwerke zu finanzieren und genügend Investitionssignale zu setzen, so die Hoffnung.
Ein Beispiel für Knappheitspreise lieferte der US-amerikanische Bundesstaat Texas im Februar 2021: Der Winter war extrem kalt, wodurch sehr viele Kraftwerke ausfielen und die Nachfrage sehr hoch war. In der Zeit wurden zeitweise 9000 Dollar je Megawattstunde gezahlt, etwa hundertmal mehr als üblich. Preise in der Größenordnung könnten künftig auch in Deutschland auftreten.
Interventionen in den Strommarkt ernten Kritik
Doch unter Ökonomen schwindet zusehends dass Vertrauen, dass die Politik die Märkte frei gewähren lässt. „Das tatsächliche Problem ist, dass wir (Politik, Medien, Menschen) Knappheitspreise nicht wollen“, schrieb Lion Hirth von der Berliner Hertie School jüngst in den sozialen Netzwerken. „Wer sich da noch unsicher war, ob es vielleicht doch geht (so wie ich), wurde letztes Jahr eines besseren belehrt, als in ganz Europa politisch massiv in Strommärkte interveniert wurde.“ Die Bundesregierung hatte zu Hochzeiten der Energiepreiskrise für mehrere Monate eine Steuer auf (vermeintliche) Zufallsgewinne eingeführt und damit eine Preisobergrenze für Strom, obwohl Hirth und andere argumentieren, es gebe keine „überschüssigen“ Gewinne.
Wenn die Politik aber den Strompreis künstlich niedrig hält, entsteht das, was Ökonomen das „Missing-Money-Problem“ nennen: Es fehlt Geld für Spitzenlastkraftwerke. ZEW-Präsident Achim Wambach rechnet im Gespräch mit der F.A.Z. fest damit, dass die Bundesregierung einen Mechanismus einführen wird, der nicht nur die Stromerzeugung, sondern auch die Vorhaltung von Kraftwerksleistung vergütet. Wie genau ein Kapazitätsmarkt aussehen und wie er in den Großhandelsmarkt integriert werden könnte, dazu gibt es viele Fragezeichen.
Zwar gibt es schon seit einigen Jahren eine strategische Reserve für den Fall, dass der Markt nicht geräumt werden kann, weil die Nachfrage das Angebot übersteigt. Durch die Zuschaltung von Kraftwerken aus der Reserve kann das Abschalten von Lasten wie industriellen Großverbrauchern vermieden werden. Doch die Reserven reizen nicht den Zubau von neuen, flexiblen Kraftwerken an, sagen Ökonomen.
Gezieltes Aufstocken der Kapazität
Auch die Monopolkommission hatte sich im Oktober dafür ausgesprochen, das System der strategischen Reserve durch einen „wettbewerblich gesteuerten Kapazitätsmarkt“ zu ersetzen, in dem Stromversorger und Großkunden ihren erwarteten Bedarf an Kraftwerkskapazitäten im Voraus beschaffen. Diese Kapazitäten könnten dann von der Bundesregierung gezielt aufgestockt werden, um Risiken für die Versorgungssicherheit zu vermeiden. ZEW-Präsident Wambach betont, es sei wichtig, auch die Nachfrage in einen Kapazitätsmarkt mit einzubeziehen.
Deutschland steht mit der Diskussion nicht allein da. In Großbritannien, Italien und Portugal gibt es jeweils einen zentralen Kapazitätsmarkt. In Frankreich wurde Anfang 2017 ein dezentraler Kapazitätsmarkt geschaffen. Er soll Anreize für Investitionen in neue Erzeugungskapazitäten bieten, vor allem aber die Versorgungssicherheit bei winterlichen Nachfragespitzen gewährleisten. Der Hintergrund: Rund ein Drittel aller französischen Haushalte verfügt über eine Elektroheizung, da man möglichst viele Abnehmer für den heimisch produzierten Atomstrom suchte. Bei kalten Temperaturen schnellt die Stromnachfrage deshalb besonders in die Höhe.
Selbst wenn alle französischen Kernkraftwerke mit ihrer installierten Gesamtleistung von rund 60 Gigawatt am Netz sind, können sie in kritischen Phasen nicht ansatzweise den Gesamtverbrauch decken. Der Rekord datiert von einem Abend im Februar 2012, als statt der gewöhnlichen rund 60 mehr als 102 Gigawatt nachgefragt wurden. Mit der Einführung des Kapazitätsmarkts wurden alle Stromversorger deshalb dazu verpflichtet, den Verbrauch ihrer Kunden auch in solchen Spitzenlastzeiten decken zu können. Sie müssen sich mit dem Netzbetreiber RTE vertraglich auf eine Kapazitätsmenge einigen, die sie vorhalten müssen. Diese wird in Zertifikaten ausgewiesen, die jeweils 0,1 Megawatt Leistung repräsentieren. Auch industrielle Großverbraucher können an dem System teilnehmen.
Die Preisbildung für Kapazitätsmengen erfolgt wettbewerblich über Auktionen, die der Börsenbetreiber EPEX Spot mehrmals im Jahr organisiert. Stromerzeuger und -versorger können die Zertifikate anschließend außerbörslich handeln. Die Kosten, die das System verursacht, werden auf Verbraucher umgelegt. Nicolas Goldberg, Ingenieur und Berater am Pariser Institut Colombus Consulting, bewertet den Kapazitätsmarkt knapp sieben Jahre nach seiner Einführung als sehr gut. „Er hat aber mehrere Mängel“, sagt er. Einer davon: Die Auktionen bringen Preise hervor, „die nicht immer erklärbar sind“. Es liege nahe, dass das auf die Dominanz des staatlichen EDF-Konzerns zurückzuführen ist.
Zudem sei das System zu starr. „Der Mechanismus ist nicht für sich ändernde Kundenportfolios geeignet, da die Kapazitätsverpflichtung häufig zu Beginn des Jahres für das gesamte Jahr berechnet wird“, sagt Goldberg. Vor allem aber habe der Mechanismus zwar die Schließung von Kapazitäten vermieden, aber nicht dazu geführt, dass neue geschaffen wurden. Anstelle eines Auktionssystems hält es Goldberg deshalb für denkbar, dass der französische Staat künftig eine Abgabe einführt, um die Anbieter von Kapazitäten zu entschädigen.
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