Auch ich empfinde die Bilanz von Cem Özdemir als sehr enttäuschend. Ich hatte mir sehr viel mehr für eine zeitgemäße Landwirtschaft erhofft. Gut - die Transformation der Landwirtschaft gilt als besonders schwierig, aber so wenig Fortschritt - im Grunde gar ein Rückschritt wenn man an das Glyphosat- Dilemma denkt ?
In den Schubladen des Ministeriums stapeln sich doch schon seit Langem die guten Vorschläge, man denke nur an die bereits erfolgreich verhandelten Kompromisse der Borchert- Kommission bzw. Zukunfts-Kommission (hier), die von den vergangenen Landwirtschaftsministern gleich weggeschlossen wurden - warum holt sie Cem Özdemir nicht jetzt heraus und setzt sie um? Man kann es einfach nicht verstehen, warum er so rückwärtsgewandt agiert, jetzt wo er die Chance hätte etwas anzustoßen.
Zur Halbzeit fällt die Bilanz von Cem Özdemir ernüchternd aus: Wenig hat er in Agrar- und Ernährungspolitik bewegt. Woran liegt das? Und warum besteht dennoch Grund zur Hoffnung? Lesen Sie hier die Analyse von foodwatch-Geschäftsführer Dr. Chris Methmann.
Erinnern Sie sich noch an Christian Schmidt oder Julia Klöckner? Der Agrarminister, der Glyphosat im Alleingang durchdrückte? [1] Die Ernährungsministerin, die mit dem Nestlé-Chef ein PR-Video drehte? [2]
Groß war die Hoffnung, als vor zwei Jahren der prominente Grüne Cem Özdemir übernahm. Nach 16 bleiernen Unionsjahren sollte sich im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) endlich was ändern – und die Agrar- und Ernährungswende losgehen.
Doch zur Halbzeit der Ampel fällt Özdemirs Bilanz ernüchternd aus: Nur ein Viertel der Ankündigungen im Koalitionsvertrag sind bislang umgesetzt. [3] Im Vergleich der Ministerien ein schlechter Wert. Der Stillstand hat vor allem drei Gründe.
Erstens: Die Industrie bockt
Vielleicht ist Ihnen die Kampagne der Bild-Zeitung noch in Erinnerung – fast täglich hetzte sie im Frühjahr gegen den „Quark-Quatsch des Ministers“. [4] Der Hintergrund: Mit einem Gesetz will Özdemir Kinder vor allgegenwärtiger Junkfood-Werbung schützen. Sein Vorhaben geht aber nun seit fast einem Jahr nicht voran; die FDP blockiert faktisch die Gesetzgebung. Damit wären wir beim ersten Grund: Viele Vorhaben scheitern am Druck mächtiger Industrielobbys.
Zweitens: Ohne die EU geht wenig
Was Özdemir bislang umsetzen konnte: Die Haltungskennzeichnung von Schweinefleisch. Wer allerdings jetzt auf der Verpackung ein aussagekräftiges Zeichen erwartet, wird enttäuscht werden. Geplant ist lediglich ein nüchternes schwarz-weiß-Label. Für Verbraucher:innen viel klarer wäre natürlich, wenn Fleisch aus schlechter Haltung rot und jenes aus besserer Haltung grün gekennzeichnet wäre – doch schon diese Wertung erlaubt die EU nicht. Özdemir müsste eine europaweite Kennzeichnung durchsetzen. Das ist der zweite Grund für Stillstand: Agrar- und Ernährungspolitik wird in Brüssel gemacht.
Drittens: Es fehlt der Mut
Die Industrie blockiert, die EU macht es kompliziert. Das ist nicht schön, ließe sich aber lösen. Doch dafür agiert Özdemir zu zahm – der dritte Grund. Für kaum ein Thema geht der grüne Agrarminister in den Konflikt, riskiert Streit in der Koalition oder macht in Brüssel mit politischen Initiativen von sich reden.
Glyphosat-Verbot? Im aktuellen Ampel-Koalitionsvertrag ist das Verbot bis Ende 2023 versprochen. Doch das Bundesernährungsministerium enthielt sich in der entscheidenden Abstimmung in Brüssel, um keinen Ärger mit dem Koalitionspartner FDP zu riskieren – und machte so den Weg frei, dass die EU-Kommission im Alleingang die weitere Zulassung beschließen konnte. [5]
Lebensmittel-Ampel? Die verpflichtende Kennzeichnung von Zucker-, Fett- & Salz-Gehalt, die wir als Nutri-Score auf einigen Produkten kennen, wäre nur mit einer europaweiten Regelung möglich. Doch seit rund einem Jahr liegt das Thema in der EU auf Eis. Wichtig wäre ein klares Statement des deutschen Ernährungsministers. Zu hören ist: nichts. [6]
Weniger Pestizide? Dieser Plan der EU scheiterte im November am Widerstand von Konservativen und Chemiekonzernen. Der wichtige deutsche Agrarminister warf sich in der Debatte eher schützend vor die deutschen Winzer und Obstbauern statt die EU-Pläne energisch zu unterstützen. [7]
Im Ergebnis: Laue Politik
Konzernmacht, Kompetenzstreit, Konfliktscheu – das sind die Gründe für die maue Ampel-Performance in der Agrar- und Ernährungspolitik. Das Thema scheint nur noch wenig Priorität für die Grünen zu haben. Dazu kommt: Özdemir spekuliert vermutlich auf die Nachfolge von Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann und will daher wenig Angriffsfläche bieten.
All das zeigt: Ohne eine starke Bewegung der Verbraucher:innen, die unablässig Veränderungen einfordert und sich für ehrliche, gesunde und zukunftsfähige Nahrungsmittel einsetzt, wird es nichts.
Jedes Mitglied hilft uns, mehr Gewicht gegen die großen Lobbys in die Waagschale zu werfen. Unser ehrgeiziges Ziel: Wir wollen noch dieses Jahr 1.000 neue Unterstützer:innen gewinnen. Das würde uns in 2024 fünf zusätzliche Recherchen ermöglichen – die Basis für neue Kampagnen und Veröffentlichungen. Meine Bitte: Werden auch Sie Verbraucherschützer:in!
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Unser Plan für 2024
Die Zeit läuft davon: 2024 ist das letzte Jahr der Ampel, in dem sich noch was durchsetzen lässt – danach beginnt bereits der Wahlkampf. Und wir haben einiges vor:
- Den Kampf um das Kinderwerbe-Gesetz geben wir nicht verloren. Dass überhaupt ein solches Gesetz diskutiert wird, ist zehn Jahren foodwatch-Arbeit zu verdanken. Immer wieder ist es uns gelungen, die Werbelobby in die Enge zu treiben. Mit Studien und gut recherchierten Fakten wollen wir weiter die Panikmache der Junkfood-Freunde entkräften und der FDP-Blockade so die Grundlage entziehen.
- Wo der Agrarminister nicht handelt, fordern wir vor Gericht geltendes Recht ein. Ein Beispiel: Auf deutschen Äckern landen zur Zeit etliche Pestizide ohne aktuelle Risikobewertung. [8] Dagegen klagen wir bereits jetzt mit der Deutschen Umwelthilfe – und prüfen weitere rechtliche Schritte zum Beispiel auch gegen die Glyphosat-Zulassung.
- An anderer Stelle umgehen wir die untätige Regierung und greifen direkt die Lebensmittel-Industrie an. So konnten wir im letzten Jahr erfolgreich falsche Klimaneutralitäts-Versprechen aus dem Lebensmittelmarkt vertreiben – indem wir Unternehmen, die mit Klimalügen werben, direkt abmahnen. [9] Inzwischen hat die EU sogar die Werbung mit falschen Klimaversprechen verboten. Mit diesem Erfolgsrezept machen wir im nächsten Jahr weiter. Umfangreiche Recherchen zu weiteren Greenwashing-Siegeln laufen bereits.
Von der Untätigkeit im Agrarressort lassen wir uns nicht abhalten und streiten unablässig weiter. Denn mal ehrlich: Trotz allem berechtigten Frust über die Koalition haben wir doch keine andere Wahl.
Etliche Gerichtsverfahren, aufwändige Recherchen, öffentlichkeitswirksame Aktionen – für eine kleine Organisation wie foodwatch ist jedes dieser Projekte eine große Investition. Damit wir 2024 mit großen Plänen starten können, bitte ich Sie heute um ihre Unterstützung. Schon wenige Euro im Monat bringen die Agrar- und Ernährungswende voran.
Dr. Chris Methmann, Geschäftsführer
P.S: Im Januar berate ich mit meinen Kolleg:innen bei einem Klausurtreffen über unsere Pläne für nächstes Jahr. Für die Planung entscheidend: Wieviel können wir schaffen? Je mehr Menschen foodwatch unterstützen, desto mutiger können wir uns in die Auseinandersetzung werfen. Bitte sein auch Sie dabei!
Quellen:
[1] "Schmidts Ministerium hat Glyphosat-Alleingang monatelang vorbereitet", Süddeutsche Zeitung, 28.11.2017
[2] "Julia Klöckner wird für Video mit Nestlé-Chef kritisiert", Die Zeit, 5.6.2019
[3] "Mehr Koalition wagen. Halbzeitbilanz der Ampel-Koalition zur Umsetzung des Koalitionsvertrages 2021", Das Progressive Zentrum, 12.9.2023
[4] "FDP schützt Lebensmittellobby: Schränkt Werbung für ungesunde Nahrung ein!", Frankfurter Rundschau, 3.7.2023
[5] "Gift für die Grünen", die tageszeitung, 16.11.2023
[6] "Streit um Nutri-Score-Pflicht", die tageszeitung, 11.12.2022
[7] Beitrag von @cem_oezdemir auf X, 11.12.2023
[8] "Hochgiftige Pestizide in Deutschland ohne abschließende Risikoprüfung zugelassen", foodwatch, 19.12.2022
[9] "Die Idee der CO₂-Kompensation ist tot", Die Zeit, 31.8.2023
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