Überall sprießen die gute Ideen, jedes Land und jede Kommune kann Vorbild sein.
hier in der Zeit Von Annika Joeres, Lille 24. Dezember 2023
Frankreich experimentiert mit seinen Autofahrern. In Lille bekommen Pendler neuerdings Geld, wenn sie ihr Auto stehen lassen. Überzeugt das zum Umstieg auf Bus und Bahn?
Wer in Lille sein Auto parkt, erhält Geld. Die nordfranzösische Stadt hat beschlossen, ihre Bürgerinnen und Bürger dafür zu bezahlen, sich anders fortzubewegen oder zu Hause zu bleiben: Den sogenannten Ökobonus erhalten alle, die, anstatt die Autobahnen zu nutzen, auf Bus und Bahn, das Fahrrad oder Fahrgemeinschaften umsteigen oder aber im Homeoffice arbeiten. Zunächst ist der Bonus noch ein Experiment mit 5.000 Teilnehmenden. Die ersten drei Monate waren aber laut Sébastien Leprêtre, dem Vizepräsidenten der Metropolregion Lille, schon"ein wunderbarer Erfolg": Täglich seien rund 2000 Pkw weniger zu den Stoßzeiten unterwegs gewesen, ein Rückgang des Verkehrsaufkommens von immerhin sechs Prozent. "Wir sind optimistisch, mit diesem Projekt Lille langfristig lebenswerter zu machen", sagt Leprêtre.
Im Einzugsgebiet von Lille leben gut eine Million Menschen. Viele von ihnen pendeln morgens über die vier einfallenden Autobahnen in die Innenstadt. Wobei Pendeln dabei so eine Sache ist – meistens stehen die Pendlerinnen und Pendler nämlich in kilometerlangen Staus. Der Ökobonus richtet sich daher an diese Gruppe. Das Ganze funktioniert so: Für das Programm gibt es eine App mit dem schönen Namen "Wechseln lohnt sich", auf der jede vermiedene Autofahrt gemeldet wird. Pro Fahrt erhalten die Teilnehmenden eine Belohnung in Höhe von zwei Euro, der maximale monatliche Betrag ist auf 80 Euro begrenzt. Eigentlich eine vergleichsweise kleine Summe, aber Leprêtre ist überzeugt, dass diese 80 Euro einen Unterschied machen. "Der Mensch hängt an seinen Gewohnheiten. Häufig braucht es nur einen kleinen Anlass, um lang eingeübtes Verhalten zu ändern", sagt der Vizepräsident der Region.
Lille habe bewusst darauf gesetzt, zu belohnen und nicht zu strafen. Eine Rolle dürfte dabei aber auch spielen, dass jede Reform wohl Proteste auslösen könnte. Die monatelangen Aufstände der Gelbwesten etwa fußten beispielsweise auf einer geringfügigen Erhöhung der Dieselsteuer um drei Cent. Auch der frühere Premierminister Édouard Philippe musste erfahren, wie sensibel die Straßenverkehrsordnung ist: Er wollte das Tempolimit auf Landstraßen von 90 auf 80 Kilometer pro Stunde senken, um Unfälle zu vermeiden, aber viele Bürgermeister wehrten sich vehement. Die Argumentation der Gegner war, dass die arbeitende Bevölkerung so benachteiligt werde. Schließlich knickte Philippe ein, über die Höchstgeschwindigkeit durfte regional entschieden werden und die meisten Landstriche verzichteten auf die Reform ganz.
Französische Politiker und Politikerinnen sind seitdem vorsichtig geworden, und wenn es um die Kommunikation von Verkehrsvorhaben geht, wird äußerst sensibel kommuniziert. So auch bei dem Pilotprojekt in Lille. Hier betont die Stadt etwa die Vorteile des Autoverzichts für die Gesundheit statt die für Klimaschutz und Luftverschmutzung. Am meisten überzeugt die Menschen aber das Argument der Staus auf den Einfallstraßen.
Schon heute eine fahrradfreundliche Stadt
Dabei hatte Lille schon einiges versucht: Es gibt auf Bundesstraßen eine reservierte Spur für Autos mit mindestens zwei Personen, generell erhalten Teilnehmende von Fahrgemeinschaften einen monatlichen Bonus von 100 Euro, zudem sollen die Regionalzüge bis 2025 doppelt so häufig fahren und Radwege ausgebaut werden. Schon jetzt gilt Lille in Frankreich als eine der fahrradfreundlichsten Städte. Viele Menschen würden diese Alternativen aber erst über den Ökobonus kennenlernen, sagt Leprêtre.
Allerdings ist die Teilnahme an eine umfassende Überwachung geknüpft: Die Stadt verlangt von den Teilnehmenden Beweise, tatsächlich nicht ins Auto gestiegen zu sein – denn sonst könnte man sich ja die 80 Euro Bonus leicht erschwindeln. Die Kontrolle der unterlassenen Fahrten erfolgt durch die App, die ihre Nutzerinnen und Nutzer ortet. So wird live überprüft, ob sich die Person zu den Hauptverkehrszeiten tatsächlich nicht auf einer Autobahn fortbewegt – oder wenn doch, dann nur in Fahrgemeinschaften. Für diese müssen wiederum Belege eingereicht werden. Selbst persönliche Kontrollen behält sich die Metropole vor, sie nennt sie euphemistisch "mysteriöse Anrufe": Dahinter verbirgt sich zumindest die Ankündigung, die Leute persönlich anzurufen, um zu erfragen, wo sie sich befinden.
Strenge Kontrolle soll Schummeln verhindern
Eine ziemliche Kontrollmaschine setzt sich also da in Gang, die Leprêtre damit rechtfertigt, dass sie bislang nur experimentieren würden und auch die Kontrollen bloß vorübergehend seien. "Wir rechnen damit, dass die Menschen, die einmal ihre Gewohnheiten geändert haben, auch ohne Belohnung dabeibleiben", sagt der Vizepräsident. Das sei das große Ziel: dass die Lilloiser Gefallen daran finden, sich mit Bus und Bahn, dem Fahrrad und in Fahrgemeinschaft fortzubewegen oder zu Hause zu arbeiten, und künftig auch ohne Bonus daran festhalten.
Optimistisch stimmen ihn dabei die Erfahrungen aus den Niederlanden, immerhin gibt es dort ein Vorbild – Rotterdam. Auch dort wurden im Programm Wild! Van de Spits von 2014 bis 2016 Bürger belohnt, die nicht mehr zu Stoßzeiten auf bestimmten Straßen fuhren. Rotterdam nannte das Ganze eine "positive Mautgebühr" für Pkw-Fahrer. Insgesamt nahmen zwischen 204 und 2016 mehr als 10.000 Menschen an dem Experiment teil. Nach Ende des Projekts ließen viele Autofahrer ihren Pkw auch ohne Belohnung stehen, anscheinend waren sie auf den Geschmack des ÖPNV gekommen.
Auf eine grundlegende Änderung der Gewohnheiten hoffen auch die Nordfranzosen: Der Ökobonus für die südlichen Autobahnen soll im Juni 2024 auslaufen und dann an Pendlerinnen und Pendler aus dem nördlichen Umland ausgezahlt werden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen