Sonntag, 18. Juni 2023

Unsitte der permanenten Politik der Lüge: Demokratie geht nur mit Fakten

Spiegel hier  Eine Kolumne von Christian Stöcker  18.06.2023

Selbstbetrug im Angesicht der Katastrophe

Ständiges Lügen wird in Deutschland zum Mittel der Politik gemacht, von Menschen wie Markus Söder und Hubert Aiwanger. Gern mit Verweis auf »Traditionen« und »Heimat«. Dabei rollt auf diese »Heimat« gerade ein Desaster zu.

Jedes Kilogramm Rindfleisch (ohne Knochen) hat einen Rucksack von CO₂ und CO₂-Äquivalenten im Gepäck, wenn es über die Fleischtheke geht. Es sind, je nach Haltungsland, Haltungsform und konsultierter Studie, zwischen etwa 15 und etwa 80 Kilogramm. Das ergab eine Überblicksstudie der Swedish University of Agricultural Sciences  im Auftrag des WWF im Jahr 2021. Der Mittelwert für schwedisches Rindfleisch, das in Schweden konsumiert wird, liegt eher bei etwa 30 Kilogramm CO₂-Äquivalenten. Wir Deutschen verbrauchen im Schnitt fast 13 Kilo Rindfleisch pro Kopf und Jahr.

CO₂-Äquivalente sind deshalb wichtig, weil ein Drittel der Emissionen aus der Rinderzucht im Verdauungstrakt der Wiederkäuer entsteht und Methan ein extrem wirkmächtiges Treibhausgas ist. Es hat laut dem Weltklimarat eine etwa 70-mal so starke Treibhauswirkung wie Kohlendioxid. Es bleibt aber, anders als CO₂, zum Glück nur etwa zehn Jahre in der Atmosphäre, bis es abgebaut ist. Noch mehr CO₂-Äquivalente entstehen bei der Herstellung von Rinderfutter.

Die Welternährungsorganisation FAO schätzt , dass 14,5 Prozent aller von uns Menschen verursachten Treibhausgasemissionen auf Tierhaltung und -verarbeitung zurückzuführen sind.

Jeder weiß es, also behaupten wir das Gegenteil

Wenn die Welt weiter so isst wie bisher, werden allein die Emissionen aus der Lebensmittelproduktion fast ausreichen, um die Welt über die 2-Grad-Temperaturschwelle zu heben . Die 1,5-Grad-Grenze wäre unmöglich zu halten. Bis 2100 würde allein die Ernährung der Menschheit einer 2020 in »Science« erschienenen Studie  zufolge 1356 Gigatonnen CO₂-Äquivalente verursachen. Gigatonnen sind Milliarden Tonnen.

Zum Vergleich: Ganz Deutschland hat im Jahr 2022 dem Umweltbundesamt zufolge  666 Millionen Tonnen Kohlendioxid emittiert, etwa ein Zweitausendstel dieser Menge.

Die mit großem Abstand effektivste Methode , die nahrungsbedingten Emissionen zu senken, ist: weniger Fleisch und Milchprodukte konsumieren. Den meisten Menschen ist das auch längst bekannt.

Auf die Empfehlung einschlagen, die nicht existiert

Vor diesem Hintergrund ist es gut und richtig, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), eine unabhängige Beratungsinstitution, in ihren für Anfang des nächsten Jahres angekündigten neuen Empfehlungen auch die Klimawirkung von Lebensmitteln berücksichtigen will.

Von der DGE haben Sie in letzter Zeit vermutlich gehört: Sie »empfiehlt« nämlich angeblich, dass künftig alle Deutschen höchstens 10 Gramm Fleisch pro Tag essen sollen. Das ergebe »eine Currywurst im Monat«, mit dieser Rechnung ging der Agrarlobbyist Eckhardt Heuser hausieren, der Hauptgeschäftsführer des Milchindustrie-Verbands. Heuser sprach bei »Kontraste« in der ARD  tapfer weiter von »neuen Empfehlungen« der DGE – dabei hat die DGE noch gar nichts empfohlen (Offenlegung: Ich komme in dem »Kontraste«-Beitrag kurz zu Wort).

Die »10 Gramm Fleisch pro Tag« sind Auskünften der DGE zufolge aus einer Beispieltabelle für ein Berechnungsmodell entnommen. Sie sind keine Empfehlung und werden auch keine.

Es sieht also ganz so aus, als ob jemand von den Verbänden, die bei der Ausarbeitung dieser Empfehlungen stets konsultiert werden, diese Folie böswillig aus dem Zusammenhang gerissen, mit einem entsprechenden Spin versehen und an Zeitungen durchgesteckt hat (wer könnte das nur gewesen sein?). Es handelt sich also um gezielte Desinformation mit einem politischen Ziel.

Richtig ist:

Die DGE hat noch gar keine Empfehlungen ausgesprochen.

Die DGE werde, sagte DGE-Präsident Bernhard Watzl zu »Kontraste«, »so eine Empfehlung definitiv nicht machen«. Was auch immer die DGE dann Anfang 2024 veröffentlicht, ist eben eine Empfehlung. Keine Vorschrift, kein Gesetz und schon gar kein Verbot.
Die DGE ist eine unabhängige Einrichtung, sie wird weder vom Landwirtschaftsministerium noch von »den Grünen« gesteuert.

All das ficht aber zum Beispiel bayerische Wahlkämpfer absolut nicht an. Markus Söder (CSU) rief bei der berüchtigten Anti-Wärmepumpen-Erweckungsveranstaltung vergangenes Wochenende in Erding ins Publikum (sic): »Eine zwangshafte Veganisierung Deutschlands und Bayerns macht keinen Sinn.« Und dann, fast schon Comedy: »Ein Leben ohne Schweinebraten mag möglich sein, aber nicht sinnvoll.«

Söder, Aiwanger und »Bild« lügen einträchtig

Das sind bittere Nachrichten für Vegetarier und den Großteil der Menschheit, dessen Diät keinen bayerischen Schweinebraten enthält – lauter sinnlose Existenzen. Vor allem aber ist alles, was Söders gespielter Empörung zugrunde liegt, schlicht gelogen, und das weiß der Mann selbstverständlich. Kein »Zwang«, schon gar nicht zur »Veganisierung«, ja, nicht mal eine Empfehlung. Söder schlug einmal mehr auf Strohmänner ein.

Er war nicht der Einzige, auch der Bundestagsabgeordnete Oliver Vogt von der CDU wiederholte die Lüge von der »Empfehlung« und produzierte sogar ein satirisch gemeintes Video zum Thema.

Witzig!

Auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert »25 Quadratkilometer«  Aiwanger ignorierte die Information, dass es keine 10-Gramm-Empfehlung gibt und auch keine geben wird. Er behauptete weiter öffentlich, demnächst sei es dann »ein Gramm«, also – witzig! – »ein Mehlwurm«. Auch Aiwanger lügt sein Publikum ständig an, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Präsident des bayerischen Bauernverbands rief dem Erdinger Publikum sogar zu: »Esst Fleisch fürs Klima!«

Die üblichen Verdächtigen schlossen sich der Kampagne bereitwillig an. Allen voran »Bild« und »Bild TV«. Gleichzeitig wird bei »Bild« verwundert und in großen Buchstaben der Wassermangel beklagt.

Wie roter Ausschlag

Das alles muss man vor dem Hintergrund sehen, dass gerade ein katastrophaler Dürresommer beginnt. Auf dem Dürremonitor  des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung sieht Deutschland derzeit aus, als hätte es einen sich rasch ausbreitenden, tiefroten Hautausschlag. In weiten Teilen der neuen Bundesländer, aber auch in Teilen Nordbayerns und Baden-Württembergs herrscht schon jetzt »außergewöhnliche Dürre«. In fast ganz Deutschland haben Pflanzen zu wenig Wasser.

Die gleichen Bauernverbandsvertreter, die jetzt rufen, man solle »Fleisch fürs Klima« essen, werden in wenigen Tagen oder Wochen beginnen, nach Staatshilfen wegen ihrer Ernteausfälle zu rufen, so wie schon 2018. Nie vergessen: All das ist immer noch erst der Anfang.

Gelogen, bis sich die Balken biegen

Das löst natürlich kognitive Dissonanz aus. Da hilft ein bisschen unterstützter Selbstbetrug: Kann doch nicht sein, dass Fleischkonsum und Milchprodukte dem Klima schaden.

Folgerichtig gibt es längst organisierte Leugner des glasklaren Zusammenhangs zwischen Fleisch, Milch und Erderhitzung. »Kontraste« spürte auch jemanden auf, dessen Geschäftsmodell augenscheinlich darin besteht, solche Desinformation pseudowissenschaftlich zu verpacken – in diesem Fall im Auftrag der Milchbranche. Peer Ederer, ein Betriebswirt und ehemaliger Börsenmakler, den man augenscheinlich für unterschiedliche Propagandazwecke anmieten kann (er hat zum Beispiel auch eine »Studie« zu Coronamaßnahmen im Angebot), behauptet auf einer eigens eingerichteten Website, dass Kühe »unmöglich das Klima beeinflussen oder gar erwärmen« könnten. Weil sie doch nur Gras fressen!

Auf Nachfrage von »Kontraste«, wer ihn denn bezahlte, dachte Ederer lange nach und erklärte dann, das verrate er nicht. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Klima oder Ernährung kann er nicht vorweisen, dafür aber jede Menge Lobbyauftritte rund um die Welt.

Demokratie geht nur mit Fakten

Noch einmal: Die Behauptung, Kühe seien klimaneutral, ist glasklare, absichtliche Desinformation, bewusste Täuschung. Sie steht auf einer Stufe mit den Klimawandelleugnungskampagnen der Öl- und Gasbranche. Diese Branchen haben das Lügen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen ihren Geschäftsmodellen und der Klimakrise mittlerweile aufgegeben und sich auf das Verzögern von Maßnahmen verlegt. Teile der landwirtschaftlichen Industrie sind offenbar noch nicht so weit.

Wir sehen dieses Muster im Moment an jeder Ecke. Weil die Klimakrise nicht mehr zu übersehen ist, weil es internationale Abkommen, politischen Druck und eine immer besorgtere Bevölkerung gibt, wird gelogen, bis sich die Balken biegen. Es ist schlimm genug, wenn Lobbyisten und bezahlte Propagandasöldner das tun. Weit schlimmer ist es, wenn die Lüge zum Standardrepertoire von Politikerinnen und Politikern gehört. Demokratischer Diskurs funktioniert nicht ohne Fakten.

In diese Kategorie fällt auch die von der FDP (und der Union) tapfer weiter gepflegte Fiktion, in Deutschland würden bald Häuser mit Wasserstoff klimaneutral beheizt. Das wird aus mehreren Gründen nicht passieren:

Es gibt bei Weitem nicht genügend grünen, also klimaneutral erzeugten Wasserstoff, und das wird noch lange so bleiben.

Das Gasnetz ist in seiner derzeitigen Form nicht geeignet, um Wasserstoff zu transportieren.

Eine »H2 ready«-Gasheizung, kann 20, maximal 30 Prozent Wasserstoff im Gasvolumen verbrennen, ohne kaputtzugehen. Weil Wasserstoff eine niedrigere Energiedichte hat als Methan, sind 20 Volumenprozent aber nur 7 Prozent Heizenergie. Eine »H2 ready«-Heizung würde also, selbst wenn so ein Gasgemisch tatsächlich im Angebot wäre, weiterhin 93 Prozent fossile Brennstoffe verfeuern – ein Feigenblatt.

Es gibt derzeit keine Heizthermen für Privatanwender, die mit reinem Wasserstoff funktionieren.

In einer Zukunft, die die FDP »technologieoffen« nennen will, müsste es drei Netze geben: eines für reines Methan für alle herkömmlichen, älteren Heizungen (1), eines für Methan plus 20 Prozent Wasserstoff für »H2 ready« (2), und eines für reinen Wasserstoff für die noch nicht existenten Wasserstoffheizungen (3).

Anschlüsse der Kategorien 2 und 3 gibt es in Deutschland bislang nicht, entsprechende Geräte auch nicht. Anders ist das bei Wärmepumpen: Hundert Prozent der deutschen Haushalte haben einen Wärmepumpen-, sprich: einen Stromanschluss. Und Wärmepumpen sind viel effizienter als Verbrennerheizungen.

Das elaborierte Märchen mit den Wasserstoffheizungen dient vor allem einem Zweck: Es soll eine Ausnahme ins Gebäudeenergiegesetz gepresst werden, die dazu führt, dass Leute sich weiterhin Gasheizungen einbauen, dann eben mit einem Feigenblatt-Aufkleber: »H2 ready«. Alle großen Hersteller sind bei dieser Feigenblattshow mit im Boot.

Wenn dann klar wird, dass all das, was oben unter 1. bis 6. steht, wahr ist, werden die Gasversorger tapfer erklären, dass sie bereit sind, das Problem zu lösen: Indem sie einfach weiterhin reines Gas oder Feigenblatt-Gas mit 20 Prozent Wasserstoff an möglichst viele Haushalte liefern.

Deutschland muss aber in 22 Jahren klimaneutral sein.

Trump-Realität

Es gibt Kreise, die zum dauerhaften Schutz zivilisationsgefährdender Geschäftsmodelle nicht nur jede Klimaschutzmaßnahme torpedieren wollen, sondern gleichzeitig eine Parallelrealität konstruieren. Eine Parallelrealität, in der Kühe kein Methan ausstoßen und nur Weidegras fressen, in der Diesel umweltfreundlich und mit Wasserstoff heizen sinnvoll ist. Eine Trump-Realität gewissermaßen.

Das ist nicht nur extrem kurzsichtig, es reflektiert im politischen Diskurs auch schamlose Wählerverachtung. Jemanden permanent anzulügen, um ihn zu manipulieren, ist ja kein Zeichen von Respekt, sondern von extremer Respektlosigkeit.

Deutschland muss von der aus den USA und Großbritannien importierten Unsitte der permanenten Politik der Lüge dringend wieder wegkommen. Denn am Ende helfen populistische Lügen immer nur einer Gruppe: den Populisten. 

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