Blätter hier Juni 2023 von Anja Krüger
Es klingt wie ein schlechter Scherz: „Straßenbau und Klimaschutz sollen zusammen gedacht werden. Es soll kein Kilometer Autobahn mehr geplant werden, ohne die Möglichkeiten der Erzeugung erneuerbarer Energien auszuschöpfen“, heißt es im Beschluss des Koalitionsausschusses, auf den sich SPD, Grüne und FDP bei einer rund 48 Stunden dauernden Sitzung Ende März einigten.[1] Nach monatelangem Streit konnte die FDP sich mit ihrer Forderung nach einem beschleunigten Autobahnausbau durchsetzen. Für die Grünen ist das Ergebnis eine Niederlage auf ganzer Linie, garniert mit einem bizarren Zugeständnis: Die beschlossene Beschleunigung von 144 Bauprojekten flankiert die Vorgabe, entlang der Autobahnen Solarpaneele aufzustellen – als würde es hierzulande an Flächen für Photovoltaikanlagen mangeln und als würden diese Anlagen den erheblichen Mehrausstoß an CO2 durch zusätzliche Fernstraßen kompensieren können.
Die Kombination einer rückwärtsgewandten Autoförderung und einer zukunftsweisenden Energiepolitik ist bezeichnend für die Politik der Ampelregierung
: Ob Tankrabatt oder 9-Euro-Ticket, E-Fuels und E-Autos, wasserstofffähige Gasheizungen und Wärmepumpen – stets konterkarieren die Liberalen einen richtigen Schritt der Regierung. Das ist nicht nur ideologiegetrieben. Denn bei der von der FDP forcierten Verschleppung eines konsequenten Klimaschutzes geht es auch um wirtschaftliche Interessen, etwa die der Mineralölindustrie oder der Autobranche, die mit der Verbrennertechnologie noch viel Geld verdienen will.Hinter dem von der FDP durchgesetzten beschleunigten Ausbau verbergen sich laut Bundesverkehrsministerium insgesamt 988 Kilometer neue Straßen. Dabei hat Deutschland keinen Mangel an Straßen, erst recht nicht an Autobahnen. Das war das Credo der Grünen, als sie noch in der Opposition waren. Und das ist weiterhin richtig: Schon jetzt durchziehen rund 13 200 Kilometer Autobahn das Land, hinzu kommen 39 000 Kilometer Bundesstraßen und 179 000 Kilometer Kreis- und Landesstraßen. Das Schienennetz der Deutschen Bahn umfasst dagegen lediglich noch 33 400 Kilometer – es wurde in den vergangenen Jahrzehnten massiv abgebaut. Anstatt weiterhin auf den Individualverkehr zu setzen, als gäbe es die drohende Klimakatastrophe nicht, wäre es dringend angeraten, hier entscheidende Weichen zu stellen. Doch das ist mit der FDP ganz offenbar nicht zu machen.
Der aktuelle Bundesverkehrswegeplan, das in dieser Sache zentrale Planungsinstrument des Staates, sieht über die nun schneller zu bauenden Straßen hinaus einen drastischen Ausbau des Straßennetzes vor. Demnach sollen nach wie vor zusätzliche 850 Kilometer Autobahn neu entstehen, 1700 Kilometer Autobahn mehrspurig ausgebaut werden und weitere 3500 Kilometer Bundesstraßen hinzukommen. Obwohl der liberale Finanzminister Christian Lindner ansonsten immer wieder auf die angespannte Haushaltslage hinweist, stören die damit verbundenen Kosten die FDP offenbar nicht. Dabei explodieren nach einer Studie der Umweltorganisationen BUND und Greenpeace die Ausgaben für den Straßenneubau. So würden sich die Kosten für den Bau von 800 im Bundesverkehrswegeplan als höchst prioritär eingestuften Projekten bis 2035 von den veranschlagten 50,9 Mrd. Euro auf 153 Mrd. Euro verdreifachen. Grund dafür sind steigende Baukosten, aber auch zu niedrig angesetzte Berechnungen. Je geringer die Kosten ausgewiesen werden, desto größer sind die Chancen, dass das Projekt realisiert wird. „Das Verkehrsministerium rechnet sich seine klimaschädlichen Straßenbaupläne systematisch schön“, sagt Greenpeace-Verkehrsexpertin Lena Donat.[2]
Völlig veraltete Pläne
Umweltverbände und Klimaaktivist:innen fordern zu Recht seit langem die Überprüfung des aktuellen Bundesverkehrswegeplans. Denn der ist völlig veraltet: 2016 verabschiedete der Bundestag die aktuelle Fassung, die zugrunde liegenden Berechnungen wurden in den Jahren davor erstellt. Die damaligen Planer:innen gingen von ganz anderen Voraussetzungen aus, als sie heute gelten: Wachstum stand an erster Stelle, die Abkehr vom individuellen Autoverkehr und die Verlagerung des Gütertransports auf die Schiene spielten kaum eine Rolle. Die Grundlagen wurden vor dem Pariser Klimaabkommen und vor dem Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffen – deren Vorgaben wurden also gar nicht berücksichtigt. Daher müsste der Plan zwingend den nötigen Veränderungen angepasst werden. Darauf berufen sich auch immer wieder Umwelt- und Klimaaktivist:innen, die, wie Ende 2020 im Dannenröder Wald in Hessen, mit Besetzungen und anderen Aktionen den Ausbau der A 49 zu verhindern versuchten.
Der Koalitionsvertrag der Ampel greift diese Kritik durchaus auf. SPD, Grüne und FDP sprechen sich darin für einen neuen „Infrastrukturkonsens bei den Bundesverkehrswegen“ aus: „Dazu werden wir parallel zur laufenden Bedarfsplanüberprüfung einen Dialogprozess mit Verkehrs-, Umwelt-, Wirtschafts- und Verbraucherschutzverbänden starten mit dem Ziel einer Verständigung über die Prioritäten bei der Umsetzung des geltenden Bundesverkehrswegeplans“, heißt es dort.[3] Tatsächlich gab es erste Vorgespräche zwischen Verbänden und Verkehrsministerium, im Sommer soll der Dialog für den „neuen Infrastrukturkonsens“ mit 150 Organisationen starten.
Doch das Ganze ist lediglich ein Feigenblatt. Denn als prioritär erachtet Verkehrsminister Volker Wissing allein eine schnellere Umsetzung – und nicht die Frage, welche Projekte aus heutiger Sicht nicht mehr gebaut werden dürften. Mit den nun beschlossenen 144 zu beschleunigenden Projekten hat er das Ergebnis des Dialogs ohnehin bereits vorweggenommen. Dabei geht es ausschließlich um Bauvorhaben in Westdeutschland, kein einziges befindet sich in den ostdeutschen Bundesländern. Den größten Beschleunigungsbedarf gibt es nach Wissings Plänen mit mehreren Dutzend Projekten in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen. Der umstrittene Weiterbau der A 100 in Berlin steht nicht auf Wissings Prioritätenliste – das heißt aber nicht, dass er nicht erfolgt, denn er findet sich nach wie vor im Bundesverkehrswegeplan und Wissing hält eisern daran fest, ungeachtet des großen Widerstands in Berlin. Das Land Brandenburg fürchtet hingegen, dass sich aufgrund der Prioritätenliste dortige notwendige Ausbauten etwa für die Anbindung der Fabrik des E-Autobauers Tesla verzögern könnten. Denn die Baukapazitäten sind begrenzt. Werden Arbeiter:innen oder Maschinen an einer Stelle eingesetzt, fehlen sie an einer anderer.
Als Blaupause für den beschleunigten Straßenbau dient der FDP ausgerechnet der schnellere Ausbau der erneuerbaren Energien. Dazu ergriff die Bundesregierung ein ganzes Bündel an Maßnahmen wie Auflagen für die Bundesländer, künftig Flächen für Windräder auszuweisen oder verkürzte gerichtliche Kontrollverfahren für große Infrastrukturprojekte wie Stromnetze. Um die Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien zu straffen, legte die Koalition gesetzlich fest, dass der Ausbau im „überragenden öffentlichen Interesse“ liegt. Damit verbunden sind erhebliche Erleichterungen bei der Prüfung des Arten- und Naturschutzes, der dadurch massiv aufgeweicht wird. Angesichts des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und der Energiekrise werden diese Maßnahmen von der breiten Öffentlichkeit und auch der FDP wenn schon nicht begrüßt, so doch zumindest nicht infrage gestellt. Das ist angesichts der Haltung vieler Liberaler vor allem gegenüber der Windkraft nicht selbstverständlich.
Vor diesem Hintergrund ist Wissing im vergangenen Herbst mit der Forderung vorgeprescht, dass auch für den Fernstraßenbau ein „überragendes öffentliches Interesse“ festgestellt werden müsse. Ein Industrieland wie Deutschland brauche eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur, durch den schnelleren Ausbau werde der Verkehr flüssiger und Staus würden vermieden, argumentierte er. Zudem seien Autobahnen klimaneutral, wenn bald nur noch E-Autos auf ihnen fahren würden.
Das stimmt jedoch nicht, denn sowohl beim Bau von Autobahnen wird CO2 freigesetzt als auch bei ihrer Nutzung. Auch Elektroautos belasten das Klima. Zudem weisen Verkehrswissenschaftler:innen immer wieder darauf hin, dass mehr Straßen auch mehr Verkehr hervorrufen. Weniger Staus sind deshalb nur zu erreichen, indem die Zahl der Autos reduziert wird. Das wäre etwa mit Prämien für deren Abschaffung und vor allem mit dem massiven Ausbau des öffentlichen Transports mit Bus und Bahn zu erreichen.
Straßen statt Naturschutz
Doch die Zahl der Fahrzeuge nimmt kontinuierlich zu: Zum Jahresbeginn 2023 waren in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt 48,8 Mio. Pkw zugelassen, vor zehn Jahren waren es 43,4 Mio., 2018 bereits 46,5 Mio. Das ist das Resultat einer Politik, die das Autofahren fördert – mit direkten Subventionen etwa beim Diesel, Steuervorteilen wie bei Dienstwagen[4] oder dem kostenlosen oder zu günstigen Bereitstellen öffentlichen Parkraums. Die FDP und weite Teile der Sozialdemokratie verteidigen diese Politik. Die Grünen lehnen das zwar ab, haben in der Koalition aber keine Chance, daran zu rütteln. Im Gegenteil müssen sie jetzt hinnehmen, dass die Bundesregierung den Bau bestimmter Autobahnprojekte per se über den Natur-, Umwelt- und Gesundheitsschutz stellt. Denn durch die Festlegung des „überragenden öffentlichen Interesses“ müssen im Planungsverfahren in Mitleidenschaft gezogene Wälder oder Naturschutzgebiete nicht mehr betrachtet werden. Die SPD steht dabei deutlich auf Seiten der FDP, so beschloss die SPD-Bundestagsfraktion im Januar dieses Jahres einen „Turbo“ für den Ausbau der Infrastruktur, einschließlich der Straßen.
Anfang Mai brachte Wissing das Beschleunigungsgesetz durchs Kabinett. Dieser Gesetzentwurf listet nicht die beim Koalitionsausschuss vorliegenden 144 Projekte auf. Stattdessen sollen Bauten mit vordringlichem Bedarf und zur Engpassbeseitigung kategorisiert und die einzelnen Bauvorhaben per Verordnung bestimmt werden. Das eröffnet die Möglichkeit, den noch ausstehenden Klärungsprozess mit den Landesregierungen in Ruhe anzugehen, denn die Beschleunigung soll im Einvernehmen mit den Ländern erfolgen. Vor allem mit den Verkehrsministern der schwarz-grünen Landesregierungen in NRW, Hessen und Baden-Württemberg dürfte das zwar schwierig werden –, doch das ändert nichts daran, dass die Grünen im Bund vor der FDP kapituliert haben.
Das gilt erst recht für das Klimaschutzgesetz: Es schreibt vor, dass die Treibhausgasemissionen des Verkehrs bis zum Jahr 2030 auf 84 Mio. CO2-Äquivalente sinken müssen, das entspricht fast einer Halbierung im Vergleich zu 2019.[5] Doch die FDP wehrt alle sinnvollen Vorhaben ab, mit denen dieses Ziel erreichbar wäre; die bislang ergriffenen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus. An Möglichkeiten und Vorschlägen mangelt es nicht: So würde ein Tempolimit auf Autobahnen sofort und ohne große Kosten zu einer erheblichen Reduzierung des CO2-Ausstoßes führen, eine Autobahn-Maut voraussichtlich auch. Doch anstatt endlich konkrete Maßnahmen einzuleiten, weichen SPD, Grüne und FDP das unter Angela Merkel beschlossene Klimaschutzgesetz auf: Die damalige Große Koalition wollte mit sogenannten Sektorzielen erreichen, dass verschiedene Bereiche wie Energie, Gebäude oder eben Verkehr jeweils die nötigen Einsparungen umsetzen. Werden diese Ziele nicht erreicht, müssen die zuständigen Fachminister:innen ein Sofortprogramm vorlegen, um Abhilfe zu schaffen.
Weil im Verkehrsbereich 2021 die Emissionen nicht ausreichend gesenkt wurden, musste Wissing 2022 ein entsprechendes Maßnahmenpaket vorlegen. Doch das fiel so mangelhaft aus, dass es der für die Bewertung zuständige Expert:innenrat zurückwies. Die vorgeschlagenen sechs Maßnahmen – vor allem mehr Radverkehr und Homeoffice – erfüllten nicht die Anforderungen an ein Sofortprogramm, stellte der Rat fest.[6] Bislang unternahm Wissing keinen neuen Anlauf – und künftig wird ihm so eine Blamage erspart bleiben, denn die Bundesregierung will das Klimaschutzgesetz ändern: Ob die Vorgaben eingehalten werden, wird in Zukunft anhand einer mehrjährigen Gesamtrechnung geprüft werden, Defizite in einzelnen Bereichen wie dem Verkehr können dann durch Fortschritte in anderen Sektoren ausgeglichen werden. Wissing kann also seinen Kurs ohne Konsequenzen fortsetzen. Dabei hat jüngst die OECD, wenig überraschend, insbesondere für den hiesigen Verkehrssektor umfangreichere Reformen und Klimaschutzmaßnahmen eingefordert, um bis 2045 klimaneutral zu werden.[7] Zugleich forderte sie höhere Erbschafts- und Schenkungssteuern, um die notwendigen Investitionen zu finanzieren und sozial abzufedern. Das aber liegt nicht im Interesse der FDP, die aus den Akzeptanzproblemen der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen politisches Kapital schlagen will –, ohne dass SPD oder Grüne sich dem entgegenstellen. Vom Klimageld für die Bürger:innen, mit dem die Grünen die drastisch steigenden Preise zumindest teilweise kompensieren wollten, ist keine Rede mehr. So aber ist die Erderhitzung nicht aufzuhalten und die weitere soziale Spaltung der Gesellschaft erst recht nicht.
[1] SPD, Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung, www.spd.de, 28.3.2023.
[2] Schotterpisten: Warum in den Autobahnplänen des Verkehrsministeriums Kostensteigerungen in Milliardenhöhe lauern, www.greenpeace.de, März 2023.
[3] Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, www.bundesregierung.de, 24.11.2021.
[4] Vgl. Benjamin Fischer, Dienstwagenprivileg: Wie die Ampel die Verkehrswende ausbremst, in: „Blätter“, 2/2022, S. 17-20.
[5] Vgl. Klimaschutz im Verkehr, www.umweltbundesamt.de, 15.3.2023.
[6] Vgl. Prüfbericht zu den Sofortprogrammen 2022 für den Gebäude- und Verkehrssektor, www.expertenrat-klima.de, 25.8.2022.
[7] Vgl. Bausektor und Verkehrspolitik. OECD rügt Deutschlands Klimaschutzpolitik, www.zdf.de, 8.5.2023.
Themen: Ökologie
Aus: »Blätter« 6/2023, S. 35-38
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