Die Straße ist ein legitimer Ort demokratischer Teilhabe - diese Auffassung war lange Konsens. Doch Sicherheitsbehörden neigen bei Demos mehr und mehr zum präventiven Einschreiten. Verfassungsrechtlich ist das fragwürdig.
Vor ein paar Tagen konnte man in einem auf Twitter verbreiteten Video besichtigen, wie nachdrücklich sich die Polizei für die Freiheit des Autoverkehrs auf den Straßen Regensburgs einsetzt. Die "Letzte Generation" hatte dort eine Blockade angekündigt, weshalb die Beamten vorsorglich bei Simon Lachner an der Haustür klingelten, um ihn nach ein paar einleitenden Worten zum Einsatzfahrzeug zu schleifen und aufs Revier zu bringen. "Ich werde aus meinem eigenen Haus rausgetragen, als wäre ich ein Schwerverbrecher, der festgenommen werden muss", durfte der Aktivist noch in die Kamera rufen.
Lachner kam in jenen "Präventivgewahrsam", der in Artikel 17 des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes geregelt ist. Ein Paragraf, den der Bayerische Verfassungsgerichtshof soeben für rechtens erklärt hat. "Gewichtige Gründe des Gemeinwohls" könnten einen vorbeugenden Gewahrsam zulassen, als "letztes Mittel", heißt es in dem Urteil.
Das "letzte Mittel" gegen die "Letzte Generation"? Eher das zweite oder dritte, manchmal auch das erste, wie es erscheint. Vergangenes Jahr steckte die Münchner Polizei mehrere Aktivisten tagelang in Gewahrsam, einer blieb einen ganzen Monat eingesperrt. Im Februar wurde erneut ein Aktivist nach Stadelheim gebracht. Und auch aus Hamburg wurde berichtet, dass Aktivisten nach einer Brückenblockade vorsorglich inhaftiert wurden. Motto: Wer festsitzt, kann sich nicht festkleben.
"Da setzt sich gerade eine Praxis durch, die jahrzehntelang tot war."
Ob der vorbeugende Entzug der persönlichen Freiheit - zugeschnitten auf Gefährder aus dem Terrormilieu - wirklich das verhältnismäßige Mittel gegen den nervigen, aber ungefährlichen Straßenprotest sein kann, werden Gerichte entscheiden müssen. Jedenfalls fällt in letzter Zeit auf, dass die Behörden die Bevölkerung lieber gleich von vornherein vor den Zumutungen des Protests bewahren wollen - nicht nur durch Festnahmen, sondern auch durch präventive Demonstrationsverbote. "Ich habe den Eindruck, da setzt sich gerade eine Praxis durch, die jahrzehntelang tot war", sagt Clemens Arzt, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin.
...Das Bundesverfassungsgericht hat Verbote wirklich nur zur Abwehr von Gefahren für "elementare Rechtsgüter" akzeptiert, eben als "letztes Mittel", wenn selbst Versammlungsauflagen und Polizeiaufgebot keine Abhilfe schaffen. Das galt auch bei absehbar widerwärtigen Rechtsextremisten-Demos....
"Protest darf und muss stören."
Und natürlich hat man es mit Präventiverboten auch bei Klimaaktivisten versucht. Anfang Dezember 2022 untersagte die Berliner Polizei einer Aktivistin, sich bis zum 1. Juni auf Berliner Straßen "festzukleben, einzubetonieren oder in ähnlicher Weise dauerhaft mit der Fahrbahn zu verbinden". Laut Verwaltungsgericht war das schon deshalb rechtswidrig, weil die vorauseilende Verfügung viel zu unbestimmt war - sie sollte für das gesamte "übergeordnete Straßennetz" gelten.
Sind die Behörden restriktiver geworden? Joschka Selinger, Koordinator für Klagen zur Versammlungsfreiheit bei der "Gesellschaft für Freiheitsrechte" (GFF), weist darauf hin, dass in der geltenden Rechtsprechung eben nicht Ruhe und Ordnung im öffentlichen Raum ganz oben stehen: "Protest darf und muss stören." Von dieser Linie entferne sich die Behördenpraxis allmählich.
Die Neigung zum Komplettverbot hat es sogar ins Gesetz geschafft, und zwar in Nordrhein-Westfalen. Dort gilt seit vergangenem Jahr - bundesweit ohne Vorbild - ein pauschales Verbot von Versammlungen auf Autobahnen. Dagegen zieht die GFF vor Gericht, denn die freie Wahl des Ortes gehört zum Kern der Versammlungsfreiheit. Und kommunikativ betrachtet ist die Autobahn gerade beim Klimaprotest kein schlechter Ort, um das Anliegen zu transportieren. "Ein grundrechtliches Sonderrecht für Autobahnen gibt es selbst in Deutschland nicht", schrieb der Rechtsprofessor Tim Wihl vergangenes Jahr in einem Aufsatz.
Leidet das Versammlungsrecht an Long Covid?
... "Die präventiven Verbote während der Pandemie haben Schule gemacht."
Leidet das Versammlungsrecht also an Long Covid? Das Bundesverwaltungsgericht hat soeben einen ersten Schritt zur Heilung unternommen und ein sehr pauschales sächsisches Verbot vom April 2020 als "schweren Eingriff in die Versammlungsfreiheit" beanstandet....
Der Protest ist die Meinungsfreiheit der kleinen Leute
Nun muss man hinzufügen, dass auch lange vor Corona versucht worden war, Proteste rundweg zu untersagen. 2017 zum Beispiel, als die Stadt Hamburg gegen ein Protestcamp zum G-20-Gipfel vorging; der Rechtsstreit darüber ist immer noch nicht beendet. Und manchmal mag ein Verbot die richtige Entscheidung sein. Dass die Stadt Leipzig kürzlich Kundgebungen der linksautonomen Szene zum "Tag X" untersagt hat, war allem Anschein nach keine Übervorsicht, sondern beruhte auf einer validen Gefahrenprognose.
Von Ausnahmen wie "Tag X" in Leipzig abgesehen: Warum muss eine Gesellschaft die Zumutung massiver Proteste aushalten? Die Antwort findet sich bereits im Karlsruher Brokdorf-Beschluss von 1985, in dem es um ein Komplettverbot jeglicher Demonstrationen in einem großzügig bemessenen Umkreis des geplanten Kernkraftwerks ging. "Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt", erläuterte das Gericht. Und identifizierte die Straße als Ort demokratischer Teilhabe und den Protest als die Meinungsfreiheit der kleinen Leute.....
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