Mittwoch, 10. Dezember 2025

Der Kern des Denkfehlers: direkter Widerspruch zur Zielsetzung Deutschland als Industriestandort sicher und wettbewerbsfähig zu halten.

Futurezone hier  Philipp Rall  10.12.25

Absurder Merz-Plan entlarvt: Neue Studie belegt milliardenschweren Denkfehler bei Erneuerbaren

Eine neue europäische Energiesystemstudie macht deutlich, dass eine verlangsamte Energiewende die EU bis 2050 rund 1,6 Billionen Euro mehr kosten könnte als ein konsequenter Ausbau erneuerbarer Energien. 

Genau dieses langsamere Tempo stellen Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Energieministerin Katherina Reiche (CDU) jedoch öffentlich in Aussicht. Der Widerspruch zwischen politischer Linie und empirischer Evidenz ist gravierend.

Verlangsamte Energiewende könnte teure Folgen haben

Als Kanzler Merz Mitte September vor Betriebsräten der Energiewirtschaft erklärte, Deutschland könne beim Ausbau von Wind- und Solarenergie künftig „etwas weniger“ tun, klang das wie eine nüchterne Kostenabwägung. Ministerin Reiche stützte diese Linie wenige Tage später, als sie den neuen Monitoringbericht zur Energiewende vorstellte und einen Kurswechsel hin zu „besserer Steuerung“ sowie weniger Förderung ankündigte. Der Ausbau müsse verlässlicher, kosteneffizienter und systemdienlicher werden.

Die nun veröffentlichte Analyse „Delivering a cost-effective energy system for Europe“ von WindEurope und Hitachi Energy zeigt hingegen, dass ein verlangsamter Übergang nicht stabilisiert oder spart – sondern die teuerste aller Optionen ist. Sie modelliert verschiedene Wege zum klimaneutralen Energiesystem 2050, darunter ein ambitioniertes Erneuerbaren-Szenario („Renewables+“) und einen gebremsten Pfad („Slow Transition“).

Das Resultat ist eindeutig: Eine gedrosselte Energiewende verursacht bis Mitte des Jahrhunderts 1,637 Billionen Euro zusätzliche Gesamtsystemkosten

Gemeint sind nicht nur Investitionen in Windkraft- oder Solaranlagen, sondern der vollständige Kostenkatalog eines Energiesystems: Netze, Speicher, Wasserstoffinfrastruktur, fossile Im- und Exporte, Transformation von Industrie, Wärme und Verkehr sowie Betriebskosten über Jahrzehnte hinweg.

Diese enorme Kostenlücke ergibt sich vor allem durch fortgesetzte Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten. Während Europa im Renewables+-Szenario seine Importquote bis 2050 auf ungefähr 22 Prozent senkt, liegt sie im Slow-Transition-Pfad noch immer bei rund 54 Prozent.

Anders formuliert: Wer den Ausbau erneuerbarer Energien bremst, bindet das Energiesystem länger an Öl- und Gasimporte – und damit an volatile Weltmärkte, geopolitische Risiken und langfristig steigende Brennstoffkosten.

Kurzfristige Kosten vs. langfristige Realität

Reiche und Merz argumentieren häufig mit aktuellen Belastungen wie steigenden Netzengpasskosten oder sogenannten Grenzkosten an komplizierten Standorten. Tatsächlich summierten sich die Redispatch-Kosten im Jahr 2024 laut Bundesnetzagentur auf rund 1,5 Milliarden Euro. Diese Zahl ist für Haushalte und energieintensive Unternehmen spürbar, da sie über Netzentgelte umgelegt wird. Doch in der Größenordnung der Gesamtsystemkosten ist sie marginal.

Die Energiesystemstudie macht klar: Ökonomisch entscheidend ist, wie viel Geld Europa bis 2050 in fossile Importe, Reservekraftwerke und Verzögerungseffekte steckt. Die Mehrkosten eines verlangsamten Ausbaus übersteigen heutige Netzengpasskosten um Größenordnungen.

Hinzu kommt, dass die Analyse die Finanzierungskosten – also die Kapitalkosten für erneuerbare Projekte – ausdrücklich als entscheidenden Hebel benennt. Wenn Reiche nun zentrale Förderregime wie feste Einspeisevergütungen für neue Photovoltaik-Dachanlagen abschaffen will, steigt die Unsicherheit für private und kommunale Investor*innen. Höhere Unsicherheit führt zu höheren Finanzierungskosten und damit zu höheren Systemkosten – genau das Gegenteil dessen, was die Bundesregierung verspricht.

Argument „Versorgungssicherheit“ kippt ins Gegenteil

Ein Kernargument der Regierung Merz lautet, dass Windkraft und Photovoltaik wetterabhängig seien und deshalb durch „steuerbare“ Kraftwerke, insbesondere neue Gaskraftwerke, ergänzt werden müssten. Diese Einschätzung ist nicht falsch, aber sie führt bei dem CDU-Duo zu dem problematischen Schluss, dass eine verlangsamte Ausbaudynamik die Systemstabilität erhöhe.

Die europäischen Modellierungen zeigen jedoch etwas anderes. In allen Szenarien, selbst im ambitioniertesten, bleibt ein deutlicher Puffer an gesicherter Kraftwerkskapazität bestehen – die gesicherte Leistung liegt 2050 im Renewables+-Szenario rund ein Drittel über der minimalen Last.

Bemerkenswert ist ein weiterer Befund: Im Slow-Transition-Pfad steigt der Bedarf an Reservekapazitäten sogar stärker als im Erneuerbaren-Szenario. Das liegt an der geringeren Flexibilität fossiler Kraftwerke und an einer dauerhaft höheren Importabhängigkeit. Die politische Erzählung, ein langsamer Ausbau verbessere die Versorgungssicherheit, wird damit wissenschaftlich nicht gestützt – im Gegenteil.

Unterschätzter Strombedarf als politische Stellschraube

Reiche begründet die angestrebte Verlangsamung zusätzlich mit einem vermeintlich geringeren Strombedarf bis 2030. Elektrifizierungstrends, etwa Wärmepumpen, Elektroautos, industrielle Prozesse, lägen hinter Erwartungen zurück, weshalb der Verbrauch eher bei 600 als bei 700 Terawattstunden liegen werde. Ein niedrigerer Bedarf ermögliche einen flacheren Ausbaupfad, ohne das Ziel von 80 Prozent erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch zu gefährden.

Zahlreiche Studien widersprechen dieser Schlussfolgerung. Sowohl das zugrunde liegende S2-Szenario der Europäischen Kommission als auch nationale Analysen von Agora Energiewende und Aurora Energy Research zeigen, dass Elektrifizierung der zentrale Kostensenker des Übergangs ist. Selbst bei moderatem Verbrauchswachstum sinken die Großhandelsstrompreise spürbar, wenn der Ausbau erneuerbarer Energien konsequent erfolgt. Wird er gebremst, bleiben Strompreise und Industrieausgaben langfristig höher – unabhängig vom exakten Verbrauchsniveau.

Die strategische Bedeutung des Strombedarfs wird dabei oft missverstanden: Ein niedrigerer kurzfristiger Verbrauch ist kein ökonomisches Argument für einen geringeren Ausbau, sondern ein Warnsignal dafür, dass Sektoren wie Heizung und Verkehr hinter der Transformation zurückliegen. Die langfristigen Kosten dieser Verzögerungen sind nicht eingepreist.

Unsichtbare Bremse der Fördereinschnitte

Die geplante Abschaffung der Einspeisevergütung für neue Photovoltaik-Dachanlagen ist ein Beispiel für eine still wirkende Verlangsamung. Reiche argumentierte im August gegenüber der Augsburger Allgemeinen, die Technologie sei inzwischen wirtschaftlich und brauche keine Förderung mehr. Das trifft für viele Projekte zu, aber nicht für alle – insbesondere nicht für Haushalte, die Investitionskosten über Kredite finanzieren müssen.

Da Kapital- und Finanzierungskosten einen wichtigen Anteil der Gesamtkosten von Wind- und Solarenergie ausmachen, wirkt sich eine destabilisierte Förderlandschaft unmittelbar auf die Ausbaugeschwindigkeit aus.

In der Praxis führt ein solcher Kurs in Ländern wie Deutschland erfahrungsgemäß zu kurzfristigen Markteinbrüchen, einer Konsolidierung der Projektpipeline und einem Verlust von Planungssicherheit für Unternehmen. Genau das beobachten Branchenverbände aktuell bereits: Wo Förderkürzungen angekündigt werden, sinken Projekteinreichungen, Investitionen werden verschoben, Arbeitsplätze geraten unter Druck.

Der Kern des Denkfehlers

Die politische Linie von Merz und Reiche beruht auf der Annahme, dass kurzfristige Entlastungen, etwa geringere Förderausgaben oder niedrigere Redispatch-Kosten, gesamtwirtschaftlich vorteilhaft seien. Doch die wissenschaftliche Evidenz zeigt, dass der relevante Kostenraum nicht die kommenden ein oder zwei Jahre umfasst, sondern die Phase bis 2050. Ein langsamer Ausbau erneuerbarer Energien verlängert die Phase hoher fossiler Brennstoffabhängigkeit und verschiebt notwendige Investitionen in Netze und Speicher nach hinten. Die Modellierungen zeigen: Je länger Europa wartet, desto teurer wird der Weg.

Diese Fehlentwicklung steht in direktem Widerspruch zur Zielsetzung, die die Regierung selbst betont: Deutschland als Industriestandort sicher und wettbewerbsfähig zu halten. Denn für energieintensive Industrien zählt nicht nur Versorgungssicherheit, die in beiden Szenarien gewährleistet ist, sondern vor allem der langfristige Strompreis. Und dieser ist im Renewables+-Pfad nachweislich niedriger.

Der politische Balanceakt ist offensichtlich: Die Bundesregierung will formal an den Zielen der Energiewende festhalten, gleichzeitig aber den Ausbaupfad „realistischer“ gestalten. Die Studienlage legt jedoch den gegenteiligen Schluss nahe. Der Weg zur Kosteneffizienz führt nicht über Verzögerungen, sondern über Beschleunigung. Jede verlangsamte politische Entscheidung erhöht die Gesamtkosten signifikant – nicht nur für staatliche, sondern für Privathaushalte und Unternehmen gleichermaßen.


Quellen: „Energiewende. Effizient. Machen.“ (EWI, 2025); „Delivering a cost-effective energy system for Europe“ (WindEurope/Hitachi, 2025); Bundesnetzagentur; Europäische Kommission; „Powering the transition: Balancing electrification, power prices, and climate goals in Germany“ (Agora/Aurora, 2025); Augsburger Allgemeine; SolarPower Europe

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