Montag, 29. Dezember 2025

Das Bild einer Ministerin, die nicht dem großen Ganzen verpflichtet zu sein scheint

Christian Stoecker  LinkedIn

„Gerade, weil dem Ministerium klar ist, dass der privilegierte Zugang zur Ministerin problematisch ist, wird bei Details zu den Terminen gemauert.“ 

Transparency International widmet sich der „Lobbyministerin“ Katharina Reiche


hier Scheinwerfer-Magazin
Dieser Beitrag von Michael Bergius und Adrian Nennich ist ursprünglich in der 107. Ausgabe des Scheinwerfer-Magazins zum Themenschwerpunkt 
„Verstecktes Vermögen – Der Kampf gegen Geldwäsche und Korruption in der EU
 erschienen (Redaktionsschluss: 11. November 2025).

„Wir müssen weniger regulieren als vielmehr aktivieren“: So beschrieb die frisch ins Amt gekommene Katherina Reiche beim Ludwig-Erhard-Gipfel im Mai ihr wirtschaftspolitisches Verständnis. 

Für eine „zeitgemäße ordnungspolitische Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft“ wolle sie deren Prinzipien „mit Vernunft, mit Pragmatismus“ anpassen. So wolle sie „Kräfte freisetzen für einen fairen Wettbewerb“.

Klingt gut. Ihre konkrete Politik steht dazu jedoch teilweise im Widerspruch – möglicherweise auch aufgrund der Interessen einzelner Lobbygruppen. 

Energiewende: Priorität haben neue Gaskraftwerke
Sichtbar wird das beispielsweise bei der für die Energiewende zentralen Frage, wie die großen Schwankungen bei Wind- und Sonnenenergien ausgeglichen werden sollen. Expert:innen sprechen sich in der Debatte für sehr unterschiedliche Varianten aus, welche Technologien und regulatorischen Lösungen in welcher Form und Kombination zum Tragen kommen sollten. 

Einen wichtigen Baustein könnten Batteriespeicher darstellen, denn in diesem Bereich formt sich aufgrund extrem fallender Preise für Batterien ein neues Geschäftsmodell heraus: Unternehmen kaufen bei hohen Überschüssen erneuerbarer Energien den nachhaltigen Strom günstig ein und verkaufen ihn wieder in Zeiten, in denen Wind und Sonne wenig liefern.

Das lohne sich wirtschaftlich schon jetzt, wie der Klima- und Energieexperte Christian Stöcker im September im SPIEGEL berichtete. Er verweist auf eine aktuelle Analyse der Bundesnetzagentur, die dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWE) unterstellt ist. Dort heißt es: „Schon heute können sich insbesondere Batteriespeicher im Strommarkt refinanzieren, wie die aktuelle beobachtbare Ausbaudynamik beweist.“

In der Tat haben diverse Unternehmen bei den zuständigen Netzbetreibern Anträge zum Anschluss von Großspeichern gestellt. Die beantragten Kapazitäten summieren sich bereits auf mehr als 500 Gigawatt, wie Stöcker mit Blick auf Zahlen des Fachportals „Regelleistung Online“ vorrechnet. Demnach liege die benötigte Spitzenlast im deutschen Stromnetz derzeit bei etwa 75 Gigawatt – würde also, wenn alles genehmigt und gebaut würde, deutlich übertroffen. 

Allerdings: Die Genehmigungen ziehen sich hin. Dies zu beschleunigen und damit Marktkräfte freizusetzen, läge bei Katherina Reiches Ministerium. Dafür bräuchte es politischen Willen, doch „dieser Wille scheint derzeit zu fehlen“, kommentiert Stöcker im SPIEGEL.

Ein weiterer Baustein, um die Schwankungen der Erneuerbaren auszugleichen, kann neben dem verstärkten europäischen Netzausbau und besseren Anreizen für das Lastmanagement laut Expert:innen der Bau neuer Gaskraftwerke sein, perspektivisch auf grünen Wasserstoff umstellbar. Darauf setzte schon Robert Habeck. Reiche jedoch möchte deutlich mehr bauen als ihr grüner Amtsvorgänger, von 20 bis 36 Gigawatt ist die Rede. Für den Bau will sie staatliche Subventionen in Milliardenhöhe in die Hand nehmen und für den Betrieb dauerhaft eine neue Umlage auf den Strompreis einführen, den die Verbraucher:innen zahlen müssten. Ein Dämpfer für diese Pläne kam im Oktober aus Brüssel: So wird die EU-Kommission wohl nur Fördermittel für den Neubau von bis zu 12,5 Gigawatt an Erdgas-Kapazitäten genehmigen – so viel, wie zuvor bereits unter Habeck geplant war.

Reiches Politik mag aus der Überzeugung heraus geschehen, tatsächlich auf die effizientesten Lösungen zu setzen. Auffällig ist jedoch, dass sie sich insbesondere für denjenigen Zweig der Energiebranche einsetzt, in dem sie zuvor tätig war – und dass ihre Pläne teils nicht zu den eingangs zitierten Prämissen passen. Fraglich ist, ob so zentrale energiepolitische und strategische Ziele erreicht werden können – nämlich, dass Strom günstiger und grüner wird und dass gleichzeitig als Lehre aus dem Ukrainekrieg und der daraus resultierenden Energiekrise Abhängigkeiten von Ländern wie Russland, Katar, Aserbaidschan und auch den USA abgebaut werden. Stattdessen setzt Reiche insbesondere auf teure neue, fossil betriebene Kraftwerke, deren Gas weiterhin auch aus autokratischen Staaten importiert werden müsste. 

Ein Experte, der dies kritisch sieht, ist Volker Quaschning. Nach Einschätzung des Professors für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin „droht der Bau von Erdgaskraftwerken zum finanziellen Desaster zu werden“. Wie er der Zeitschrift für kommunale Wirtschaft erklärte, wäre es auf dem Weg zu einer klimaneutralen Energieerzeugung auch wirtschaftlich „sinnvoll, den Zwischenschritt der Erdgas-Kraftwerke zu überspringen“. So solle sich die Regierung neben dem Bau von Batteriespeichern vorrangig auf Flexibilitäten im Netz konzentrieren. 

Petra Pinzler, langjährige Berliner Korrespondentin der Wochenzeitung DIE ZEIT, sieht ein Problem in Reiches „offensivem Abstand zu Experten, die eine klimafreundliche Energiepolitik wollen. Das führt dazu, dass sie in ihrer Politik wichtige Fakten ausblendet. Dadurch bekommt ihre Politik eine immer deutlichere Schlagseite – zugunsten der Industrie und zu Lasten des Klimas“, sagt Pinzler im Gespräch mit dem Scheinwerfer. 

Zehn-Punkte-Plan kopiert
Als Beispiel führt Pinzler Reiches Umgang mit einem Monitoringbericht zum Stand der Energiewende an, den diese selbst in Auftrag gegeben hatte. Titel: „Energiewende. Effizient. Machen.“ Bei der Bewertung der Ergebnisse und Formulierung von Konsequenzen habe „sie sich die Fakten ausgesucht, die der fossilen Industrie nutzen, andere dagegen unterschlagen“.

Der Bericht kam unter anderem zu dem Schluss, dass „ein hohes Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren zur Erreichung klimapolitischer Ziele notwendig“ bleibe. Reiche hingegen formulierte öffentlich, der Ausbau der Erneuerbaren sei „völlig überzogen“. Als Reaktion auf den Monitoringbericht legte sie einen Zehn-Punkte-Plan zur Zukunft der Energiewende vor, der unter anderem Reduktionen bei den Subventionen für Erneuerbare vorsieht. 

Im September deckte das News-Portal TABLE „auffällige Ähnlichkeiten“ zwischen diesem Plan und einem Positionspapier der Energiekonzerne RWE und E.ON auf. Zentrale Passagen des BMWE-Papiers seien beinahe wortgleich mit dem schon vor Monaten entstandenen Aufschlag der Energiekonzerne. Das belegte TABLE anhand zahlreicher zitierter Textpassagen. Dazu gehört die Forderung, die Ausbauziele für die Erneuerbaren „kritisch“ zu überprüfen. Die zuständigen und personell gut ausgestatteten Fachabteilungen des Ministeriums seien überdies kaum in die Erstellung des Zehn-Punkte-Plans eingebunden worden, gab TABLE zu bedenken.

Damit, so Pinzler, erwecke Reiche automatisch den Verdacht, Interessenpolitik für eine Branche zu machen, bei der sie bis vor kurzem beschäftigt war. „Das ist keine offene Korruption, aber es hat ein Geschmäckle.“ Die Wirtschaftsministerin habe gleich nach ihrer Amtsübernahme die Klimaziele in Frage gestellt und angekündigt, den Ausbau der Erneuerbaren bremsen und massiv Gaskraftwerke ausbauen zu wollen. „Da Reiche vor ihrem Amtsantritt bei einem Energieversorger gearbeitet hat, der Geschäfte mit Gas macht und der durch jede Verschiebung der Ziele viel Geld verdienen würde, liegt zumindest der Verdacht nah, dass die fossile Lobby in ihr eine gute Verbündete hat“, so Pinzlers Analyse.

Werden berechtigte Informationsansprüche ausgehebelt?
Diese Recherchen sind nur ein Glied in einer Kette mehrerer Vorwürfe an das seit Mai wieder CDU-geführte Ministerium. Worüber in Terminen mit Lobbyvertreter:innen konkret gesprochen wird, mag das Ministerium beispielsweise nicht verraten. 

So traf sich Reiche Anfang Juli mit dem Verband kommunaler Unternehmen (VKU), deren Hauptgeschäftsführerin sie selbst von 2015 bis 2019 war, bevor sie zur E.ON-Tochter Westenergie wechselte. Man kennt sich, und man teilt sehr ähnliche Vorstellungen. abgeordnetenwatch beantragte im August auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) Einsicht in Unterlagen zu diesem und sieben weiteren Terminen des BMWE mit Lobby-Vertreter:innen. Für derlei Anfragen fallen – meist – keine Gebühren an, zumindest wenn deren Bearbeitungsaufwand sich in Grenzen hält. Ist dieser größer – etwa durch Sichtung, Prüfung und Schwärzung umfangreicher Unterlagen – können laut IFG bis zu 500 Euro erhoben werden.

Doch das Wirtschaftsministerium machte „eine ganz andere Rechnung auf“, so abgeordnetenwatch: Weil es sich um acht Termine handele, sei nicht ein IFG-Antrag gestellt worden, sondern es handele sich um acht. Entsprechend würden auch achtmal Gebühren fällig. „Nach erster Einschätzung dürfte Ihr untenstehender Informationsantrag Gebühren in Höhe von bis zu EUR 4.000,00 verursachen“, schrieb das Rechtsreferat im BMWE dem Rechercheportal. Dessen Fazit: „Der Zweck des Informationsfreiheitsgesetzes – staatliches Handeln für Bürger:innen nachvollziehbar und kontrollierbar zu machen – würde damit ausgehebelt.“

Persönliche Beratung für Lobby-Strategie der Familienunternehmer
Ebenfalls mithilfe des IFG deckte das Online-Portal FragDenStaat unter der wenig schmeichelhaften Überschrift „Reiche berät Reiche“ vor wenigen Wochen eine weitere Lobbyverquickung auf. Die Ministerin persönlich sowie ihr Parlamentarischer Staatssekretär Stefan Rouenhoff (CDU) hätten die Stiftung Familienunternehmen in Treffen ermuntert, bei Themen wie der Senkung der Körperschaftssteuer und der Reform der sogenannten Wegzugbesteuerung – sie soll Kapitalflucht ins Ausland verhindern – Druck auf die Unionsfraktionen zu machen. Falls von parlamentarischer Seite dann „einschlägige Initiativen“ gestartet würden, könne das BMWE diese „flankieren“ – so stellte es Reiche den Stiftungsvertretern laut internen E-Mails des Ministeriums in Aussicht. Lobbycontrol bezeichnet die Stiftung Familienunternehmen, hinter der sich Namen wie Kaufland, Lidl, Haribo oder Würth verbergen, als „Lobby der Superreichen“. 

Die Erkenntnisse könnten nach Einschätzung von FragDenStaat auf einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot hinauslaufen. Dessen Kern besagt: Staatliche Stellen dürfen nicht in den Parteienwettbewerb eingreifen. Die Reaktion des Ministeriums auf Nachfrage des Portals: Es sei Aufgabe von Regierungsvertreter:innen, für ihre Politik zu werben. Kennenlerngespräche seien üblich und würden mit vielen Verbänden gepflegt. 

Norman Loeckel, Lobbyexperte und Co-Leiter der Arbeitsgruppe Politik von Transparency Deutschland, erklärte in diesem Kontext, die Bundesregierung sei per Amtseid verpflichtet, gemeinwohlorientiert zu handeln. „Auch wenn es unterschiedliche Ansichten gibt, worin das Gemeinwohl liegt, so ist es schwer nachvollziehbar, dass besonders vermögende Gruppen und Industrien mit tiefen persönlichen Beziehungen zur Ministerin einen privilegierten Zugang zum BMWE bekommen – und im Anschluss in Wort und Tat unterstützt werden“, so Loeckel.

Lobby-Termine werden intern nicht erfasst
Wenig Wille zu Transparenz erlebte auch der Scheinwerfer bei einer Presseanfrage im Oktober. Wir baten das Ministerium um Auskunft, mit welchen Personen und Organisationen, die im Lobbyregister offiziell als Interessenvertreter:innen geführt sind, sich Katherina Reiche seit ihrem Amtsantritt ausgetauscht hat.

Eine Sprecherin des Ministeriums erklärte, dass diese Informationen im BMWE nicht nachgehalten würden: „Bei der Anberaumung und Vorbereitung von Gesprächsterminen der Ministerin erfolgt kein Abgleich mit dem Lobbyregister. Hierzu besteht auch keine rechtliche Verpflichtung. Ein solcher Abgleich ließe sich auch nicht nachhalten, da sich die Ministerin regelmäßig spontan und ungeplant mit Personen austauscht, z.B. am Rande von Veranstaltungen.“

In der Tat besteht keine Pflicht, Lobbytermine gesondert zu dokumentieren. Dennoch wäre es, auch für die Nachvollziehbarkeit innerhalb des Ministeriums, sicherlich von Vorteil, dies zu tun. „Es ist naheliegend: Gerade, weil dem Ministerium klar ist, dass der privilegierte Zugang zur Ministerin problematisch ist, wird bei Details zu den Terminen gemauert“, so die Einschätzung von Norman Loeckel. „Eine verpflichtende detaillierte Offenlegung der Terminkalender wie bei der EU würde also Druck ausüben, Interessen ausgewogener zu berücksichtigen.“ 

Er verweist zudem darauf, dass es bei der Anwendung des sogenannten Lobby-Fußabdrucks noch immer hapert. Dieser wurde von der Ampel-Koalition eingeführt und soll die Wirkung von Lobbyarbeit bei konkreten Gesetzesvorhaben transparent machen. „Theoretisch müssten die Ministerien jetzt offenlegen, woher die Ideen und Formulierungen für ihre Gesetzesentwürfe kommen. Die Umsetzung dieses Fußabdrucks wird aber derzeit durch die meisten Ministerien ignoriert“, meint Loeckel (vgl. Scheinwerfer 106, S. 32).

Reiches Amtsführung wirft viele Fragen auf
Transparenz und Offenheit gegenüber der Öffentlichkeit gehören offenbar ohnehin nicht zu den besonders ausgeprägten Eigenschaften der Wirtschaftsministerin. Während ihre unmittelbaren Vorgänger Robert Habeck und Peter Altmaier (CDU) fleißig Interviews gaben und (für manche zu viele) Auftritte in diversen Talk-Runden absolvierten, verhält sich die Nachfolgerin im Amt eher abweisend. 

Auch die Mitnahme von Journalist:innen auf Auslandsreisen – früher üblich und als Gelegenheit zum Austausch in Hintergrundgesprächen von beiden Seiten durchaus geschätzt – bildet jetzt allenfalls die Ausnahme. Laut Tagesschau beäuge Reiche „den Medientross eher misstrauisch, vermeidet jedes Gespräch“. Interviews und Pressetermine, in denen sie ihre Positionen erklärt und sich kritischen Fragen stellt, sind rar. 

Zusammen genommen ergibt sich das Bild einer Ministerin, die noch nicht in ihrem neuen Amt angekommen und dem großen Ganzen verpflichtet zu sein scheint. Bleibt die Hoffnung, dass gesamtgesellschaftliche ökonomische, ökologische wie auch geostrategische Ziele dadurch am Ende nicht auf der Strecke bleiben.


Dieser Artikel ist im Scheinwerfer 107 (S. 26) zum Schwerpunktthema „Verstecktes Vermögen − Der Kampf gegen Geldwäsche und Korruption in der EU“ im Dezember 2025 erschienen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen