Montag, 27. Januar 2025

In Losparlamenten sitzen nicht, wie im Bundestag, besonders viele ältere männliche Juristen.....

Wenigstens der Proporz wäre dann gewahrt: wo heute Frauen rar sind, wäre Gleichberechtigung hergestellt. Wenn ich da an unseren heutigen Stand denke  hier erscheint mir das unbedingt als erstrebenswert  - ganz einfach weil es richtig wäre!

FAZ hier  Artikel von Jannis Koltermann  23.1.25

Ist Losen die Zukunft der Demokratie?

Losverfahren sind im Herzen der Debatte um Demokratiereformen angekommen. Was vor zehn Jahren noch als Spinnerei einiger Utopisten erschien, wird mittlerweile von etablierten Wissenschaftlern wie Herfried Münkler und Steffen Mau vertreten. 

Auch immer mehr Politiker sprechen sich für geloste Bürgerräte zu Sachfragen aus, die Grünen haben die Forderung danach 2020 sogar in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Und seit der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode erstmals selbst einen solchen Bürgerrat eingesetzt hat, erscheint die Idee auch gar nicht mehr so praxisfern. Wie konnte es dazu kommen und wie könnte es von hier aus weitergehen?

Geschichtlich gesehen handelt es sich um eine Wiederentdeckung, nicht um eine Neuerfindung. Die athenische Demokratie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. ist heute vor allem für ihre Volksabstimmungen bekannt, doch ebenso wichtig im politischen Prozess war die „Boule“, ein Rat aus 500 durch Los bestimmten, jährlich wechselnden Bürgern. Die „Boule“ bereitete die Beschlüsse der Volksversammlung vor und überwachte ihre Ausführung; in tagespolitischen Fragen entschied sie autonom. Ausgelost wurden auch die Richter der Volksgerichte, die zunehmend politische, gleichsam „verfassungsgerichtliche“ Funktionen übernahmen. Selbst die Mehrzahl der Beamten wurde so bestimmt; Wahlen gab es nur für wenige Ämter, für die es besonderer Kompetenzen bedurfte.

Dahinter scheinen zweierlei Überlegungen gestanden zu haben. Einerseits die Idee, dass eine gleichmäßige Machtverteilung für eine Demokratie essenziell sei: „Zur Freiheit gehört“, heißt es bei Aristoteles, „dass man sich im Wechsel beherrschen lässt und herrscht.“ Andererseits die Erkenntnis, dass eine solche Machtverteilung durch Wahlen nicht zu erreichen sei, weil darin einige durch Abstammung, Bildung oder Vermögen Vorteile genössen.

So dürfte Aristoteles eine allgemeine Meinung wiedergeben, wenn er schreibt: „Es gilt als demokratisch, Ämter durch Los zu besetzen, doch als oligarchisch, wenn es durch Wahl geschieht.“ Nach dieser Auffassung leben wir heute zweifellos in einer Oligarchie. Tatsächlich ist das ein weit verbreiteter Eindruck, da sich nicht nur die politischen Eliten in Deutschland aus einem relativ begrenzten Kreis rekrutieren.

Erst im 18. Jahrhundert begann der Siegeszug der Wahlen

Die demokratische Funktion des Losverfahrens war auch in den italienischen Stadtstaaten der Renaissance noch lebendig. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts, mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution, etablierte sich die heute selbstverständliche Gleichsetzung von Republik (und später auch Demokratie) mit Wahlen. Dahinter stand bei James Madison, Thomas Jefferson und anderen nicht nur die Skepsis gegenüber dem Zufall, wie ihn das Los verkörperte, sondern auch gegenüber dem Volk – statt unmittelbar selbst zu herrschen, sollte es die Besten zur Herrschaft auswählen.

Das Comeback des Losverfahrens im politischen Diskurs lässt sich ziemlich genau auf das Jahr 2016 datieren. Damals erschütterte die Wahl Donald Trumps für viele den Glauben an die Rationalität von Wahlen und deren Eignung zur Bestenauslese. Nicht weniger irrational erschien den meisten Kommentatoren das britische Brexit-Votum ein paar Monate zuvor. Das ließ den Stern der Volksabstimmungen als bis dahin beliebtester Alternative sinken: Die Grünen strichen die Forderungen danach auf demselben Parteitag, auf dem sie die Forderung nach Bürgerräten in ihr Grundsatzprogramm aufnahmen. Und ebenfalls 2016 erschienen in vielen Ländern Übersetzungen von „Gegen Wahlen“, einem flammenden Plädoyer für Losverfahren aus der Feder des belgischen Historikers David Van Reybrouck, das rasch zu einem internationalen Bestseller wurde.

Die Spaltung zwischen Volk und Elite überwinden

Das zentrale Versprechen des Losverfahrens ist, die gefühlte Spaltung zwischen Volk und politischer Elite zu überwinden, die von Populisten aller Couleurs seit mindestens einem Jahrzehnt so erfolgreich bespielt wird. Denn in Losparlamenten sitzen nicht, wie im Bundestag, besonders viele ältere männliche Juristen, sondern es findet sich dort ein Querschnitt der (volljährigen) Bevölkerung wieder. So wurden für den vom Bundestag eingesetzten Bürgerrat zur Ernährung zunächst knapp 20.000 zufällig ausgeloste Bürger angeschrieben.

Aus den gut 2000 Zusagen wurden dann mehrere Varianten eines Bürgerrats mit 160 Mitgliedern erstellt, die in den Kategorien Wohnsitz nach Bundesländern und Gemeindegrößen, Geschlecht, Alter, Bildungsstand und Einstellung zu veganer oder vegetarischer Ernährung dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprachen. Nach welcher Variante letztlich der Bürgerrat besetzt wurde, entschied abermals das Los. Würde man solche Verfahren in großem Stil einführen, ließe sich wie im klassischen Athen von wechselweisem Herrschen und Beherrschtwerden sprechen.

Im Ziel, die Kluft zwischen Volk und Elite zu überwinden, ähneln Losparlamente den Volksabstimmungen. Van Reybrouk und andere argumentieren jedoch, dass Volksabstimmungen einen Sachverhalt auf ein Ja oder Nein zuspitzten, während Losparlamente auch Kompromisse ausarbeiten könnten. Zudem ging den Entscheidungen dort ein konstruktiver Austausch von Argumenten der Bürger untereinander und mit Experten voraus, wie es ihn in der öffentlichen Debatte kaum gebe. Tatsächlich zeigen Studien, dass sich die Teilnehmer von Bürgerräten intensiv mit den Themen befassen und nicht selten ihre Meinung ändern.

Wie weit reicht die Legitimität von Losparlamenten?

Könnte die Zukunft unserer Demokratie also im Losen liegen? Die Zahl der Bürgerräte in Deutschland ist stark gestiegen, laut dem Verein „Mehr Demokratie“ von weniger als zehn auf mehr als dreißig pro Jahr seit 2020. Befürworter hoffen, dass Bürgerräten, wenn sie sich bewähren, schrittweise mehr Verantwortung übertragen werde: von nicht bindenden Empfehlungen über die Ausarbeitung einzelner Gesetze bis hin zur Konstituierung einer ständigen Kammer, vielleicht sogar irgendwann der einzigen.

Hier stellt sich freilich die Frage, wie weit die Legitimität von Losparlamenten reicht. Bislang ist die Umsetzung von Vorschlägen fast aller Bürgerräte von der Zustimmung von Parlamenten abhängig gewesen. Was der Bundestag mit den Empfehlungen des Bürgerrats zur Ernährung macht, ist beispielsweise noch vollkommen unklar. Von Verfechtern der Idee wird das verständlicherweise kritisiert.

Man stelle sich aber einmal vor, ein Losparlament hätte echte Entscheidungsgewalt und würde nach reiflicher Beratung eine unpopuläre Entscheidung treffen – würden sich die übrigen Bürger dann wirklich daran gebunden fühlen, obwohl sie selbst in keiner Weise am Entscheidungsprozess beteiligt waren? Dass die Bürger immer noch eine kleine Gruppe für vermeintlich falsche Entscheidungen verantwortlich machen können, ist ein Nachteil gegenüber Volksentscheiden. Vielleicht sollte man sich beide ergänzend denken – auch im antiken Athen stand neben der „Boule“ schließlich die Volksversammlung (und einige gewählte „Experten“).

Das Grundgesetz sieht Wahlen vor

Hinzu kommen praktische Hindernisse. Damit Bürgerräte an Macht gewinnen, müssten Parlamente Macht abgeben. Man muss kein Machiavellist sein, um das für wenig wahrscheinlich zu halten: Ein Blick auf die endlosen Versuche zur Föderalismusreform zeigt, wie schwer solche Veränderungen fallen. CDU und CSU lehnen Bürgerräte ab, selbst die Grünen wollen ihnen kein bindendes Votum zugestehen.

Wenn die repräsentative Demokratie noch stärker unter Druck gerät, könnten sich die Haltungen der etablierten Parteien ändern. Für eine wirklich bedeutsame Rolle von Losparlamenten bräuchte es freilich nicht weniger als eine neue Verfassung: Im von der Ewigkeitsklausel geschützten Artikel 20 des Grundgesetzes heißt es, alle Staatsgewalt werde durch das Volk „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt.

Auch der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein hält einen punktuellen Einsatz von Bürgerräten daher für sinnvoller und realistischer. Den Aufstieg der Losidee hat er seit seinem Standardwerk „Demokratie und Lotterie“ von 2009 verfolgt, ist über den gegenwärtigen Boom aber nicht nur glücklich: „Manchmal scheint mir die Forderung nach Bürgerräten ein Ausdruck von Ratlosigkeit zu sein. Sie sind aber kein Allheilmittel.“

Eine Idee, womit sich ein nächster Bürgerrat auf Bundesebene befassen könnte, hat Buchstein auch: Die Debatte um die Wahlrechtsreform sei dermaßen von Parteiinteressen geprägt, dass man sie den Parteien entziehen und einem Bürgerrat anvertrauen solle. Folgt der nächste Bundestag Buchsteins Vorschlag, könnte ausgerechnet ein Losparlament zur Verbesserung von Wahlen beitragen.

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