Mittwoch, 13. März 2024

"Atlas der Zivilgesellschaft": Klimaaktivisten im Visier

 hier im ZDF  von Marcel Burkhardt  13.03.2024 

Der globale Trend zur Repression der Zivilgesellschaft setzt sich fort. Klimaaktivisten geraten laut einer neuen Studie auch in Deutschland "unverhältnismäßig unter Druck“.


Bislang galt die Bundesrepublik Deutschland als Staat mit einer "offenen" Zivilgesellschaft. Nun aber stuft der neue "Atlas der Zivilgesellschaft" Deutschland aus der höchsten Kategorie in "beeinträchtigt" ab.

Die von der Hilfsorganisation "Brot für die Welt" am heutigen Mittwoch veröffentlichte Studie stützt sich dabei auf eigene Recherchen und Bewertungen von Civicus, eines weltweiten Netzwerkes für bürgerschaftliches Engagement.

Was will der Atlas der Zivilgesellschaft zeigen?

Kritik an Umgang mit Mitgliedern der Letzten Generation

Einige Gründe für Deutschlands Rangverlust: Demonstrationsverbote, zu wenig Schutz für Journalisten vor Gewalt bei Demonstrationen und der "unverhältnismäßige Druck", der auf Klimaaktivisten ausgeübt worden sei.

Zu den Kritikpunkten zählen hierbei unter anderem, dass Mitglieder der Letzten Generation teils mit langer, "menschenrechtlich umstrittener Präventivhaft" belegt wurden und Gerichte Gefängnisstrafen ohne Bewährung verhängt haben.

Pruin: Abstufung ein "Weckruf für Deutschland"

Dagmar Pruin, Präsidentin von "Brot für die Welt", nennt den Umgang deutscher Behörden und der Justiz mit den Klimaaktivisten als "mindestens umstritten".

Dass die Bundesrepublik zu einer "beeinträchtigten" Zivilgesellschaft herabgestuft wurde, "
sollte uns allen ein Weckruf sein, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
und mit ihr verbundene Freiheitsrechte vollumfänglich zu verteidigen",
so Pruin.

Wie entstehen die Länderbewertungen?

Um die Daten zu erheben, kombiniert der Civicus mehrere unabhängige Datenquellen. Zu diesen zählen nach eigenen Angaben aktualisierte Bewertungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie etwa Reporter ohne Grenzen und Berichte von zahlreichen regionalen, nationalen und internationalen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Daten staatlicher Stellen fließen nicht ein.

Relevant sind hierbei die Informationen, wie in den jeweiligen Ländern die Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit in Gesetz, Politik und Praxis geachtet wird - Rechte, die der Staat schützen muss. Die externen Analysen führt Civicus dann mit der eigenen Analyse zu diesen Rechten zusammen; beides fließt in die Länderbewertungen ein. Die Staaten werden in fünf Kategorien eingeteilt: "offen", "beeinträchtigt", "beschränkt", "unterdrückt" oder "geschlossen".

Zivilgesellschaftliches Engagement für Klima- und Umweltschutz ist dringlicher denn je.
Die Klimakrise ist an vielen Orten der Welt brutal spürbar.
Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt


Erst am Montag warnte die Europäische Umweltagentur, dass die Klimarisiken bereits jetzt ein kritisches Niveau erreicht hätten und sich Europa bislang nur unzureichend auf den Klimawandel vorbereite.

Dürren, Überschwemmungen, Stürme, ausbleibende Ernten, Hunger, Konflikte und Kriege - die Folgen der Klimakrise gelten heute bereits vielerorts als verheerend. Darunter leidet laut "Brot für die Welt" inzwischen knapp jeder dritte Mensch massiv, vor allem im Globalen Süden.

Regierungen und Mafia "drangsalieren" Umweltaktivisten

Gleichzeitig dokumentiert der Atlas der Zivilgesellschaft, wie der Einsatz für mehr Klimagerechtigkeit und Umweltschutz global "immer gefährlicher" wird. Regierungen, Unternehmen, Milizen und die Mafia nähmen Umweltaktivisten in vielen Staaten der Erde gezielt ins Visier:

Wer für den stärkeren Schutz von Wäldern,
den Erhalt indigener Lebensräume oder für mehr Klimagerechtigkeit kämpft,
wird vielerorts drangsaliert, verfolgt, diffamiert - oder gar getötet.

Dagmar Pruin, Präsidentin Brot für die Welt

Insgesamt zeichnet die Studie ein düsteres aktuelles Bild: Ganze 71 Prozent der Weltbevölkerung, das sind 5,6 Milliarden Menschen, leben demnach heute in Staaten, in denen Machthaber die Zivilgesellschaft stark oder sogar komplett unterdrücken.

Civicus: Alarmierender Verfall zivilgesellschaftlichen Raums

Nur 170 Millionen Menschen - circa zwei Prozent der Weltbevölkerung - lebten in "offenen" Zivilgesellschaften, in denen Grundfreiheiten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert seien.

Was zeigen die aktuellen Civicus-Daten?

Die Civicus-Daten belegen, dass das der Handlungsraum der Zivilgesellschaft nur in 37 Staaten "offen" ist. In 43 Staaten ist der Handlungsraum "beeinträchtigt" - neben Deutschland ist das zum Beispiel auch so in Italien, Belgien, Albanien, Chile oder Namibia.


Laut Civicus "beschränken" 40 Länder den zivilgesellschaftlichen Handlungsraum, darunter die Ukraine, Israel, Griechenland und Großbritannien. 50 Staaten "unterdrücken" die Zivilgesellschaft, etwa die Türkei und Tunesien. "Geschlossen" ist der Raum für zivilgesellschaftliche Akteure in 27 Staaten, darunter Russland, Syrien, Saudi-Arabien und China. Insgesamt gibt es sieben Absteiger im Ranking: Deutschland, Bosnien und Herzegowina, Kirgisistan, Senegal, Sri Lanka, Bangladesch und Venezuela.

"Wir sind Zeugen eines beispiellosen globalen Angriffs auf den zivilen Raum",
Die Welt steht kurz vor einem Wendepunkt,
an dem die bereits weitverbreitete Unterdrückung dominant wird.

Marianna Belalba Barrero, Netzwerk Civicus


Die Weltgemeinschaft müsse dringend daran arbeiten, diesen Abwärtstrend umzukehren, so Belalba Barrero. Schließlich sei die globale Zivilgesellschaft die Triebkraft für nötige Transformationen. Barrero warnt: "Schrumpft ihre Handlungsfreiheit, erstarrt die Gesellschaft."

Forderungen an Politik, Behörden und Medien

Mit Blick auf die Lage in Deutschland fordern die Autorinnen und Autoren der Studie die Politik auf, "das Versammlungsrecht umfassend zu schützen und keine pauschalen Versammlungsverbote zu erlassen".

Zudem müssten Behörden und Justiz bei allen Handlungen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und menschenrechtlicher Pflichten befolgen. Dazu gehöre etwa, dass Präventivhaft - gedacht zum Verhindern schwerer Gewalttaten - nicht zum Abschrecken von Klimaaktivisten eingesetzt werde.

Zudem rufen die Organisationen hinter dem "Atlas der Zivilgesellschaft" Politiker und Medien dazu auf, "zu einer Versachlichung der Debatte um Klimaaktivismus beizutragen". Pauschales Diffamieren von Aktivisten, etwa als "Klima-Terroristen", sei ein Weg in die falsche Richtung.

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