Süddeutsche Zeitung hier 29. März 2024, Interview von Leila Al-Serori
Mehr Kinder sind immer besser. Oder doch nicht?
Eine höhere Geburtenrate würde derzeit nur Probleme schaffen, sagt Soziologe Aladin El-Mafaalani. Woran das liegt - und was gegen den Wohlstandsverlust zu tun wäre.
SZ: Herr El-Mafaalani, die Geburtenrate in Deutschland ist stark gesunken, Demografen sind alarmiert. Wie bewerten Sie die Situation?
Aladin El-Mafaalani: Wir wissen seit einem halben Jahrhundert, dass der demografische Wandel so kommen wird, und nun ist er mit aller Wucht da. Aber sich jetzt mit der Geburtenrate zu beschäftigen, die nicht mehr zu ändern ist auf die Schnelle, bringt wenig. Denn wagen wir einmal ein Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn die Geburtenzahl jetzt kurzfristig deutlich ansteigen würde?
Also wenn Frauen nicht mehr im Schnitt 1,36, sondern zwei Kinder bekommen?
Genau. Das hätte in der aktuellen Situation viele Nachteile. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer gehen gerade in den Ruhestand, wir haben in den kommenden Jahren so viele Rentner wie nie zuvor und wie wahrscheinlich nie wieder. Das in Kombination mit vielen neugeborenen Kindern würde die Situation akut verschärfen, Deutschland stünde vor dem Kollaps.
Das müssen Sie ausführen.
Wir hätten noch weniger Menschen auf dem Arbeitsmarkt, weil neben vielen Rentnern auch viele Kinder versorgt werden müssten. Vor allem Mütter würden ausfallen, der Fachkräftemangel sich massiv verschärfen. Frauen arbeiten vermehrt in der Pflege, in Kitas und Schulen - man kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn noch mehr Fachkräfte ausfallen und gleichzeitig mehr gebraucht werden, denn wir bräuchten dann ja mehr Kita- und Schulplätze. Dazu würden die Folgen für den Wohnraum kommen, der jetzt schon knapp ist. Wir sind also in einer enorm schwierigen demografischen Phase. Wir wissen nicht, mit welchen Mitteln wir die Geburtenzahlen realistisch steigern können, aber gleichzeitig, wenn wir das schaffen würden, würden sich die Probleme kurz- und mittelfristig verschärfen.
Es wird dennoch vor einer steigenden Kinderlosigkeit gewarnt.
Kinderlose hat es immer schon gegeben, die Zahl steigt auch nur leicht. Ohne Kinderlose stünden wir in vielen Bereichen schlechter da. Der wichtigste Grund, warum es insgesamt weniger Geburten gibt, ist auch nicht, dass viel weniger Frauen Kinder bekommen, sondern vielmehr, dass sie selten drei oder mehr bekommen. Es gibt seit Jahrzehnten den Trend weg von der Großfamilie, hin zur Kleinfamilie. Auch, weil es beide Elternteile aus finanziellen Gründen in der Erwerbstätigkeit braucht.
Man muss sich eine größere Familie heutzutage auch leisten können.
Ja. Unsere ganze Gesellschaft, unser Arbeits- und Immobilienmarkt sind auf eine Infrastruktur für größere Familien immer weniger ausgerichtet. Studien zufolge wünschen sich die Deutschen auch nicht mehr als zwei Kinder. Dazu kommen Ukrainekrieg, Pandemie, Klimawandel - das erleichtert es nicht, Menschen zu animieren, größere Familien zu gründen. Wir sollten uns also auf die Kinder konzentrieren, die da sind, mit ihnen vernünftig umgehen, bevor wir über mehr Kinder nachdenken. Unsere Infrastruktur bekommt jetzt schon nicht alle Kinder unter und fördert sie nicht so, wie es erforderlich wäre. Lern- und Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen verschlechtern sich seit Jahren.
Was müsste verbessert werden?
Familien müssen sich auf gute Qualität in Schule und Kita, auf funktionierende Ganztagsbetreuung verlassen können. Kindheit hat sich durch die zunehmende Berufstätigkeit beider Eltern verändert und wird sich noch mehr verändern. Kinder sind biografisch immer früher und täglich immer länger in Bildungsinstitutionen, diese sind zunehmend Ersatz für Teile des Familienlebens. Hier muss eine grundlegende Transformation stattfinden.
Sie sagen, Kitas und Schulen müssen Familienleben ersetzen. Wie kann man sich das vorstellen?
Bisher haben Familien Hilfe bei den Hausaufgaben geleistet, sind eingesprungen, wenn es Erziehermangel in den Kitas gab, sie haben die Freizeitgestaltung übernommen. Das muss sich jetzt umdrehen, weil beide Elternteile noch stärker am Arbeitsmarkt gebraucht werden - und sie wollen es ja auch mehrheitlich. Ganztageseinrichtungen müssen Freizeitangebote machen, Gesundheitsprävention anbieten, mehr Sport, ordentliche Mahlzeiten, aber auch größere Räume. Nur Lernen nach Lehrplan reicht nicht mehr.
Wird hier genug unternommen?
Die Bemühungen sind erkennbar. Ab Sommer 2026 gibt es einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen. Ob diese Vollversorgung bis dahin flächendeckend klappt, bezweifle ich. Und das bezieht sich nur auf die Quantität, die Qualität ist noch lange nicht so, wie sie sein muss. Gerade aus diesen Gründen ist die Diskussion um mehr Geburten im Moment für mich nicht zielführend.
Aber wenn die Geburtenrate weiter so sinkt, steht Deutschland langfristig vor enormen Problemen.
Die enormen Probleme haben wir jetzt schon, die nächsten dreißig Jahre werden sehr angespannt durch die alternde Generation der Babyboomer. Wir sind jetzt einfach zu spät dran, um das mit mehr Geburten aufzufangen, wir brauchen ganz akut mehr Menschen im erwerbsfähigen Alter. Viele haben den Ernst der Lage bis jetzt nicht begriffen, das ist wie beim Klimawandel, da fangen wir auch zu spät an zu handeln. In den nächsten Jahren werden alle die Folgen spüren.
Mehr alte Menschen, weniger Fachkräfte - wie werden wir noch die Folgen spüren?
Wir werden Wohlstand verlieren, es wird mehr Zielkonflikte geben. Deutschland wird nicht zusammenbrechen, wir werden immer noch anständig leben können. Aber die Zeiten, in denen es von Jahr zu Jahr besser wurde, man sich auf die Infrastruktur verlassen konnte, sind vorbei.
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