hier Neue Zürcher Zeitung Geschichte von Katharina Fontana • 27.3.24
An grossen und dramatischen Worten fehlt es nicht, wenn über die diversen Klimaklagen berichtet wird, die am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hängig sind......
Einst belächelt, nun gefeiert
Anlass ist eine Klage, welche der Verein Klimaseniorinnen 2020 gegen die Schweiz eingereicht hat. Die Frauen argumentieren, dass der Bund seine Schutzpflichten ihnen gegenüber ungenügend wahrnehme und damit ihr Recht auf Leben verletze. Hitzewellen bedeuteten gerade für ältere Frauen ein erhöhtes Gesundheitsrisiko. Zu Beginn wurde die Gruppe belächelt, das hat sich geändert. Inzwischen gelten die Rentnerinnen weitherum als mutige Pionierinnen, die dem Staat die Stirn bieten und ihn zu einer ehrgeizigen Klimapolitik verpflichten wollen. Sie verlangen, dass die Schweiz beim Klimaschutz ambitionierter handelt und die Treibhausgasemissionen stärker reduziert.
In der Heimat sind sie mit ihrer Beschwerde durch alle Instanzen unterlegen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es sich um ein politisches Anliegen handelt und dieses nach schweizerischem Verständnis nicht mit den Mitteln der Justiz, sondern mit jenen der Politik durchzusetzen ist.
Die Schweizer Klimaseniorinnen sind mit ihrer Beschwerde nicht allein. Auch andere organisierte Aktivisten haben das Instrument der menschenrechtlichen Klimaklage gegen Staaten oder gegen Unternehmen für sich entdeckt, ja man kann von einem eigentlichen internationalen Trend sprechen. Hunderte Klimaklagen wurden in den letzten Jahren weltweit eingereicht und beschäftigen die Gerichte. Im Vordergrund steht die Frage, ob es Aufgabe der Justiz ist, der Politik vorzuschreiben, wie rasch und auf welche Weise sie den Klimaschutz umzusetzen hat.
Zusammen mit dem Urteil in Sachen «Klimaseniorinnen gegen die Schweiz» wird der Strassburger Gerichtshof am 9. April auch seinen Entscheid zu zwei weiteren hängigen Klimaklagen verkünden. Eine von ihnen stammt vom ehemaligen Bürgermeister einer französischen Küstengemeinde am Ärmelkanal, der Frankreich vorwirft, nicht genug gegen die Klimaerwärmung zu unternehmen und seine Gemeinde dem Untergang in den Meeresfluten zu überlassen.
Die grösste Aufmerksamkeit zieht der dritte Fall auf sich: Sechs Jugendliche aus Portugal klagen in Strassburg gegen 33 europäische Staaten, darunter die Schweiz, weil sie aufgrund der Klimaerwärmung ihr Recht auf Leben und Privatsphäre verletzt sehen und sich gegenüber den älteren Generationen als Diskriminierungsopfer fühlen.
Der portugiesische Fall wird gerne im Stile eines Heldenepos erzählt, doch die David-gegen-Goliath-Erzählung trifft nur bedingt zu. Die jungen portugiesischen Klimaschützer sind nämlich nicht mutterseelenallein vor den Gerichtshof in Strassburg gezogen, sondern werden von einer Reihe von NGO unterstützt beziehungsweise begleitet. Auch die Schweizer Klimaseniorinnen sind nicht allein unterwegs: Sie werden von der Umweltorganisation Greenpeace intensiv umsorgt und wurden auch schon als deren «Kampagnenexperiment» bezeichnet.
Grosse Bandbreite
Der EGMR hat die drei Klagen als wichtig und dringlich eingestuft und sie prioritär behandelt. Man kann das als Indiz sehen, dass die Richter eine historische Rolle beim Klimaschutz wahrzunehmen gedenken und sich nicht in richterlicher Zurückhaltung üben werden. Die erste Frage wird sein, ob die Beschwerden überhaupt zulässig sind. Wer in Strassburg klagen will, muss im Prinzip den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft haben.
Die portugiesischen Kläger haben sich allerdings direkt an Strassburg gewandt mit dem Argument, es sei unverhältnismässig, angesichts des fortschreitenden Klimawandels noch zuzuwarten und zuerst den Rechtsweg in jedem einzelnen Konventionsstaat beschreiten zu müssen. Ob der EGMR diese Sichtweise teilt und die prozeduralen Hürden herabsetzt, wird man sehen.
Bei den Schweizer Klimaseniorinnen ist die Ausgangslage eine andere. Sie haben ihren Fall erfolglos bis vor das Bundesgericht gezogen, zudem richtet sich ihre Beschwerde einzig gegen die Schweiz und nicht gegen eine Vielzahl von Staaten. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Klage dürften damit eher erfüllt sein als bei den Portugiesen. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass ihr Fall zum ersten Klima-Leiturteil des EGMR werden wird und für alle weiteren Klagen die Richtung vorgibt.
Was genau auf die Schweiz zukommen wird, sollte der Gerichtshof die Klage der Seniorinnen gutheissen und die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechte rügen, darüber kann nur spekuliert werden. .....
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