Montag, 18. März 2024

Erzählen gegen die Krise - Worte finden für das Unvorstellbare

Podcast im  Deutschlandfunk hier  Von Jasmin Schreiber | 17.03.2024

In unserer heutigen Welt gehören Klimawandel und Biodiversitätsverlust zu den kritischsten und beängstigendsten Problemen, mit denen wir konfrontiert sind. Diese Phänomene zu verstehen, ist eine gewaltige Aufgabe. Literatur macht die „Katastrophe ohne Ereignis“ erfahrbar.

Der Klimawandel umfasst globale Auswirkungen wie Treibhausgasemissionen und Entwaldung. Die Folgen sind vielfältig und reichen von extremen Wetterereignissen bis hin zu subtilen Klimaveränderungen. Der Verlust der Biodiversität betrifft Arten, Ökosysteme und die genetische Vielfalt. Wie können wir das Ausmaß und die Folgen abschätzen? Ist unser Verstand dazu überhaupt in der Lage?

Erzählen ist eine uralte Kulturtechnik, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit zieht. Diese Kunst, die sich über Jahrtausende entwickelt hat, ist nicht nur eine Form der Unterhaltung, nicht nur ein Zeitvertreib, sondern ein grundlegender Aspekt unseres Seins. Als erzählende Wesen finden wir in Geschichten Sinn, Verständnis und Verbundenheit. Durch sie lernen wir, entwickeln wir uns weiter.

Literatur, Musik, Radio und Kunst bieten hier einzigartige Möglichkeiten, die Dringlichkeit und Bedeutung dieser Themen zu vermitteln, die Kluft zwischen abstrakten wissenschaftlichen Daten und persönlichen menschlichen Erfahrungen zu überbrücken und das Unvorstellbare dann doch etwas greifbarer zu machen. Das Erzählen in diesen Formaten reduziert das Abstraktionslevel. Es ist ein Angebot, sich miteinander zu verbinden, Ängste und Sorgen zu teilen, aber auch Ideen und Lösungsansätze zu finden – um vielleicht doch rechtzeitig zu verstehen, sodass wir retten können, was noch zu retten ist.

Jasmin Schreiber ist Schriftstellerin und Sachbuchautorin. Ihre Romane wie „Mariannengraben“ (2020) oder „Endling“ (2023) sind Bestseller geworden, ihr Sachbuch „Biodiversität“ (2022) führt in die aktuellen Fragen des Mensch-Natur-Verhältnisses ein. Als Biologin gilt ihr Interesse allen Organismen, die kleiner als eine Maus sind, zum Beispiel Insekten, Spinnen, Moosen oder Flechten. Sie ist Bloggerin und veröffentlicht regelmäßig ihre Kolumne „Schreibers Naturarium“, ihr Buch unter diesem Titel ist 2023 zum „Wissensbuch des Jahres“ gekürt worden. Zudem hostet Jasmin Schreiber mit Lorenz Adlung den Biologie-Podcast „Bugtale.FM“......


Im Englischen gibt es den Begriff „cautionary tale“, was so viel heißt wie „warnende Geschichte“.

Eine solche Geschichte ist meist in drei Teile gegliedert: Es gibt etwas, das verboten oder moralisch verwerflich ist. Eine Figur hält sich nicht daran, das ist der zweite Teil, und die Strafe folgt im dritten Teil. Wem das Beispiel mit dem Clown schon extrem erscheint, der sollte sich noch einmal den Struwwelpeter anschauen, der ist noch viel schlimmer. Da werden Daumen abgeschnitten, Kinder verbrannt oder vom Sturm weggetragen – weil sie nicht auf ihre Eltern hören. Wir haben das damals im Kindergarten und in der Grundschule gelesen, heute tut man das kleinen Kindern wahrscheinlich nicht mehr an.

Das Erzählen an sich ist jedenfalls eine uralte Kulturtechnik, die sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte zieht. Und sie hatte immer einen bestimmten Zweck, wie beispielsweise in diesen Kindergeschichten. Die Erzählung war lange Zeit eine zentrale Kraft bei der Herausbildung gesellschaftlicher Normen und definierte eben auch erwünschte Verhaltensweisen. Das Erzählen von Geschichten hat sich zu einem ausgeklügelten Instrument kultureller Vermittlung entwickelt, das die Komplexität menschlicher Psychologie und sozialer Strukturen, aber auch unserer Erfahrungswelt abbildet, diskutiert und verhandelt.

Der tiefgreifende Einfluss des Erzählens auf die soziale Konformität und die Durchsetzung von Regeln und Gesetzen lässt sich über Jahrtausende zurückverfolgen, wobei die Bibel als Paradebeispiel für die Anleitung zu Verhalten gilt, was damals eben als moralisch und ethisch erwünscht galt.

Und die von uns Schreibenden geschätzte Maxime „show, don’t tell“, also zeigen und nicht nur behaupten oder erzählen, fasst die Essenz des effektiven Geschichtenerzählens recht gut zusammen. Dieses Prinzip unterstreicht, wie wichtig es ist, Erfahrungen lebendig werden zu lassen, anstatt nur Fakten aufzulisten, um die Sinne und Gefühle des Publikums anzusprechen und so eine tiefere und nachhaltigere Wirkung zu erzielen. Einem Kind zu sagen, dass etwas verboten sei, ist die eine Sache. Es in eine Geschichte einzubetten und damit gleich auch Ursache und Wirkung mitzuliefern, eine ganz andere. Damit geht das Geschichtenerzählen über die reine Unterhaltung hinaus und wird zu einem wichtigen Bestandteil der menschlichen Existenz, denn wir sind von Natur aus erzählende Wesen; Geschichten bilden einen für uns greifbareren Rahmen, aus dem wir Sinn ableiten können, aus dem wir Einsichten gewinnen und durch den wir uns mit der Welt um uns herum verbinden. Geschichten sind von Kindesbeinen an entscheidend für unsere kognitive und emotionale Entwicklung und prägen unsere Wahrnehmung und unsere Reaktionen auf die unzähligen Herausforderungen des Lebens.

Studien haben dies bestätigt. Es ist tatsächlich so, dass wir uns Informationen besser merken, wenn sie in Geschichten verpackt sind. Dieses Prinzip macht sich die Werbung zunutze, indem sie Geschichten erzählt, um zu fesseln und zu überzeugen, wobei die Grenze zwischen Erzählung und Werbebotschaft oft fließend ist und wir manchmal gar nicht merken, dass wir Werbung sehen. Solche Geschichten sind mit der Absicht verbunden, die öffentliche Meinung und das Verhalten zu beeinflussen und zu formen. Es liegt also meist eine direkte Absicht vor.

Im Laufe der Geschichte wurden Erzählungen jedoch nicht nur benutzt, um Gemeinschaften zu vereinen und zu definieren, sondern auch, um den „Anderen“ abzugrenzen und zu verleumden, um Feindbilder zu schaffen. Ein eklatantes Beispiel für das dunkle Potenzial des Geschichtenerzählens findet sich in der Propaganda des Nationalsozialismus, wo Geschichten strategisch eingesetzt wurden, um Juden und andere Gruppen zu entmenschlichen und ein Gefühl der Einheit unter der „deutschen“ Bevölkerung zu fördern, indem diese Gruppen als „die Anderen“ dargestellt wurden.

Die Macht des Geschichtenerzählens ist also zweischneidig. Es kann Verbindungen schaffen und Verständnis fördern, aber auch Wahrnehmungen manipulieren und Gemeinschaften gegeneinander ausspielen. Das erleben wir auch heute noch allzu oft: Kriegspropaganda, Social Media, sogenannte Fake News.

Narrative können Konflikte auslösen, politische Landschaften prägen und den Lauf der Geschichte verändern; sie können Wahlen gewinnen oder Kriege auslösen. Diese Macht unterstreicht die ethische Verantwortung von Geschichtenerzähler:innen und die Notwendigkeit, sich kritisch mit Erzählungen auseinanderzusetzen, unabhängig davon, ob sie aus alten Texten oder modernen Medien stammen.

Doch was erzählen wir uns eigentlich?

Höhlenmalereien gehören zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Geschichte. Sie zeigen Szenen aus dem täglichen Leben, Jagdstrategien und spirituelle Überzeugungen. Diese Bilder waren keine bloße Dekoration, sondern erzählerische Instrumente, mit denen Wissen, Erfahrungen und Werte von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Durch diese Kunstwerke, die uns heute zu Unrecht primitiv erscheinen, aber in Wirklichkeit eine tiefe Bedeutung haben, konnten die frühen Menschen überlebenswichtige Fähigkeiten weitergeben, zum Beispiel wie man effektiv jagt oder Nahrung zubereitet, und ihr Verständnis der Welt, die sie umgab, dokumentieren.

Mit der Entwicklung der Menschheit haben sich auch die Methoden des Geschichtenerzählens verändert. Antike Epen wie Homers Ilias und Odyssee dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern vermittelten auch moralische Werte, dienten der Bewahrung historischer Ereignisse, der Verkörperung der Ideale der jeweiligen Kultur und waren aus religiöser Sicht wichtig – es geht darin ja auch viel um die Götter. Diese mündlich überlieferten Geschichten festigten soziale Normen und trugen zu einem gemeinsamen Identitätsgefühl bei. Sie sind zahlreich und überall zu finden. Goethes Werther, Shakespeares Macbeth, Fontanes Effi Briest. Alles Geschichten, die nicht nur unterhalten, sondern auch kommentieren, belehren, kritisieren, einordnen sollten.

Hach, der Kanon. Schön männlich, oder? Deshalb lassen wir uns heute nur noch über Schriftstellerinnen sprechen, also Frauen.

Was bei dieser Aufzählung auffällt: Die weiblichen Geschichtenerzählerinnen werden oft übersehen und übergangen, aber auch sie, also WIR – denn ich bin ja eine von ihnen – haben diese Erzählungen entscheidend geprägt, indem Frauen oft einzigartige Perspektiven einbrachten und gesellschaftliche Normen in Frage stellten – und das bis heute tun.

In der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts haben Autorinnen wie Mary Shelley neue Maßstäbe gesetzt; so führte sie mit ihrem bahnbrechenden Roman Frankensteindie Welt in das Genre Science Fiction ein und erforschte Themen wie Schöpfung, Verantwortung und die ethischen Grenzen wissenschaftlicher Forschung. Shelleys Werk ist ein Paradebeispiel dafür, wie das Erzählen von Geschichten aktuelle wissenschaftliche Debatten aufgreifen und deren Konsequenzen ausloten kann.

Geschichtenerzählen ist immer auch immer: Die Realität üben.....

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