Süddeutsche Zeitung hier 19. Februar 2024 Interview von Bastian Brinkmann
Wohlstand: Hurra, das Wachstum sinkt
Was, die Wirtschaft wächst kaum? Der Ökonom Dietrich Vollrath sagt: Historisch betrachtet ist das sogar eine gute Nachricht - nur für eine Gruppe nicht.
Alles über null wäre besser. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Bundesrepublik wächst derzeit kaum, zuletzt ist es sogar etwas geschrumpft. Deutschland leidet unter schwachem Wirtschaftswachstum. Der Ökonom Dietrich Vollrath von der University of Houston in Texas hat einen etwas anderen Blick auf das Wirtschaftswachstum, einen historischen. Er schaut nicht auf das kurzfristige, konjunkturelle Auf und Ab, sondern erforscht, wie Volkswirtschaften sich über Jahrzehnte verändern. Und er ist auf eine erstaunliche Erkenntnis gekommen: Niedriges Wachstum ist ein Zeichen des Erfolgs. Vollrath ist kein esoterischer Wachstumsfeind, sondern anerkannter Forscher und Co-Autor eines Standard-Lehrbuchs.
SZ: Niedriges Wachstum als gute Nachricht - wie kommen Sie auf so etwas?
Dietrich Vollrath: Das kann ich mit dem Kühlschrank erklären. Der ist viel effizienter als früher, er kühlt viel schneller und größer ist er auch noch. Außerdem sind Kühlschränke wegen des technischen Fortschritts deutlich billiger geworden.
Bei Kühlschranken hat der Kapitalismus abgeliefert. Aber solche ökonomischen Erfolgsgeschichten sollten doch gut sein für das Wirtschaftswachstum?
Diese in der Tat großartige Entwicklung hat paradoxe Folgen für das Bruttoinlandsprodukt. Denn man muss viel weniger von seinem Lohn ausgeben, um sich einen tollen Kühlschrank zu kaufen. Von den gesamten Ausgaben einer Volkswirtschaft fließen also deutlich weniger an Kühlschränke. Ökonomisch gesprochen ist der relative Preis von Kühlschränken gesunken.
Was bedeutet das?
Man gibt einen größeren Anteil des Gehalts für andere Dinge aus. Mehr Geld fließt in Sachen, die das Wirtschaftswachstum nicht ganz so schnell steigen lassen. Was die Menschen beim Kühlschrankkauf sparen, geben sie zum Beispiel für einen zusätzlichen Urlaub aus.
Die Wirtschaft wächst nicht mehr so stark, weil die Menschen nicht ganz viele Kühlschränke besitzen wollen?
Vor allem bei materiellen Gütern stoßen wir an Grenzen. Wir haben so viel, wie wir wollen und brauchen. Ein Smartphone ist toll, aber wer hat schon ein Dutzend zugleich im Einsatz. Ich habe in Texas ein riesiges Haus im Vergleich zu dem, was in der Welt als Standard gilt, aber ich habe keine fünf Häuser.
Aber Sie haben in Texas bestimmt einen aus deutscher Sicht absurd großen Kühlschrank?
Ich habe zweieinhalb Kühlschränke. Einen neuen, einen alten und einen kleinen auf der Terrasse für Bier. Das zeigt ja, wie günstig Kühlschränke in reichen Ländern wie den USA geworden sind. Ich könnte mir viel mehr Geräte leisten, mache ich aber nicht.
Der Konsum der Menschen nimmt insgesamt nicht mehr stark zu?
Wir haben einen Punkt erreicht, an denen wir ziemlich satt und zufrieden sind mit dem, was wir haben. Das gilt in Relation selbst für Milliardäre wie Jeff Bezos, Bill Gates oder Warren Buffett. Die haben vielleicht jeweils zehn Häuser und somit vielleicht 20 Kühlschränke. Aber der Punkt ist: Obwohl die x-mal so viel Geld haben wie ich, haben die eben nicht x-mal so viele Kühlschränke, sondern weniger.
Aber jetzt kommt künstliche Intelligenz. KI bringt einen satten Wachstumsschub, hoffen viele.
Ich bin nicht davon überzeugt, dass KI uns Superwachstum bringen wird. Technische Durchbrüche können einen kleinen Wachstumsschub auslösen, klar. Aber eine neue, 50 Jahre anhaltende industrielle Revolution, die alles radikal verändert und ständig fünf Prozent Wirtschaftswachstum bringt, ist sehr unwahrscheinlich.
Die KI wird allerdings exponentiell besser, ihre Fähigkeiten wachsen wie verrückt.
Und das führt dazu, dass Dienstleistungen billiger und billiger werden. Nehmen wir als Beispiel Anwälte. Ich habe gelesen, dass KI Rechtsanwaltsfachangestellte arbeitslos machen könnte. Falls das so kommt, könnten juristische Dienstleistungen außerordentlich billig werden. Ich könnte mir also viel mehr Schreiben vom Anwalt leisten als bisher. Meine Nachfrage danach ist aber nicht unendlich - wie bei den Kühlschränken. Und dann wiederholt sich der Prozess: Juristische Dienstleistungen werden viel verfügbarer, ihr relativer Preis sinkt. Der Wachstumsschub von KI wird sich selbst auffressen.
Niedrige Wachstumsraten haben einen schlechten Ruf, machen Politiker nervös. Warum sehen Sie das entspannter?
Der menschliche Instinkt findet es schlecht, wenn etwas sinkt. Und wir haben uns daran gewöhnt, dass das BIP sehr eng verbunden ist mit dem Lebensstandard, dem Wohlstand, der Lebensqualität. Das BIP ist ein guter Maßstab, wenn die Volkswirtschaft arm ist.
Warum?
Denken Sie an das westdeutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt mehr Lebensmittel, es gibt mehr Wohnungen für die Menschen, das Verkehrsnetz wird ausgebaut: Der Lebensstandard verbessert sich rasant, das schlägt sich fast eins zu eins im steigenden BIP nieder.
Und jetzt ist es anders?
Das BIP wird immer unwichtiger, weil wir viel reicher geworden sind. Vergessen dürfen wir aber nicht, dass wir trotzdem noch wachsen. Nur nicht mehr so schnell. Aber das geringe Wachstum ist weniger greifbar für unser Gefühl, wie gut es uns geht. Und natürlich kann man über den Arbeitsmarkt diskutieren, über Steuersätze, Regulierung und so weiter, ob diese politischen Entscheidungen die Wachstumsrate ein wenig erhöhen würden oder nicht, klar. Aber selbst wenn Deutschland einen perfekten Arbeitsmarkt hätte, was gut wäre für das Wachstum, gäbe es die strukturellen Entwicklungen, die in die andere Richtung ziehen.
Langfristig betrachtet gilt also: Hurra, das Wachstum sinkt?
So kann man es sagen. Eine stagnierende Wirtschaft ist ein Zeichen des Erfolgs. Es ist unser Privileg, dass langsames Wachstum in Ordnung ist. Wir können mit unserer Zeit, mit unseren Ressourcen andere Dinge tun. Zum Beispiel das Klima schützen.
Wie hilft niedriges Wachstum im Kampf gegen den Klimawandel?
Wir können Innovationen und neue Technologien nutzen, um Ressourcen einzusparen, anstatt noch mehr Kühlschränke zu produzieren. Dann schließen wir lieber eine Kohlemine. Das ist nicht so gut fürs BIP, aber insgesamt sind wir als Gesellschaft besser dran. Solche Entscheidungen können wir jetzt treffen, da wir wirtschaftsgeschichtlich an einem Punkt angelangt sind, an dem wir relativ reich sind.
Deutschland diskutiert die Vier-Tage-Woche. Unternehmensvertreter warnen, dass das das Wirtschaftswachstum gefährdet. Wie sehen Sie das?
Wir sind so innovativ geworden, dass wir materielle Güter und Dienstleistungen günstig und leicht herstellen können. Wenn daher einige Menschen ganz bewusst die Forderung stellen, dass wir uns weniger anstrengen sollen, ist das völlig legitim. Ich glaube nicht, dass man Menschen auspeitschen sollte, damit sie zur Arbeit gehen.
Das glauben die deutschen Arbeitgeber auch nicht.
Aber ich glaube auch nicht an das Argument, dass wir als Selbstzweck ein hohes Wachstum einfordern müssen, damit Menschen weiterhin arbeiten. Innovation dient ausdrücklich dazu, dass wir fauler werden. Das ist der Sinn der Sache. Und wenn zu viele Leute aufhören zu arbeiten und es zu wenig Güter und Dienstleistungen gibt, dann werden die Dinge knapp und teuer - und Firmen können dank der höheren Preise wieder mehr Menschen in die Arbeit locken, durch höhere Löhne. Der Markt regelt das schon.
Aber Wirtschaftswachstum macht Regierungen das Leben leichter. Sie bekommen zusätzliche Steuereinnahmen, die sie dann verteilen können. Das ist viel angenehmer, als manchen etwas wegzunehmen, um politische Projekte zu finanzieren.
Das stimmt. Hohes Wirtschaftswachstum ist wie ein Kuchen, der ständig wächst. Jeder bekommt ein Stückchen mehr, das dämmt Konflikte. In einer Welt mit niedrigem Wachstum muss die Politik zwischen Gruppen mehr umverteilen und ihnen sagen, dass sie ihnen ihr Stück Kuchen wegnehmen. Das erzeugt Reibung, diesen Preis müssen wir zahlen. Aber ich lebe immer noch lieber in einer reichen Volkswirtschaft, in der wir diese schwierigen Verteilungsfragen entscheiden müssen als in einer Welt, in der wir zwar viele Wachstumsgewinne verteilen können, aber arm sind. Oder wollen Sie zurück ins Deutschland des Jahrs 1951 und dort leben?
hier Focus Autor Oliver Stock Donnerstag, 22.02.2024
Große Depression? Unsere Wirtschaft geht den Bach runter? Nein, selbst diese Regierung schafft das nicht
Die Deutschen leiden an einer Art Volkskrankheit: der großen Depression. Die Fieberkurve steigt. Die Politik ist vergiftet. Die Wirtschaft marode. Wirklich? Nein. In Wahrheit sind viele Deutsche tiefenentspannt, weil sie darauf vertrauen, dass sie es auch diesmal schaffen.
Die Stiftung Gesundheitswissen beschreibt das Krankheitsbild der Depression wie folgt: Der Begriff (von lateinisch depressus „nieder“, „niedergedrückt“) bezeichnet eine „krankhafte Gemütsstörung. Typische Anzeichen sind gedrückte Stimmung und anhaltende Interessenlosigkeit. Außerdem fällt es schwer, alltägliche Aufgaben zu bewältigen. Und das über längere Zeit“.
Gedrückte Stimmung, Interessenlosigkeit - es klingt, als habe die Stiftung den aktuellen Gemütszustand der Deutschen analysiert: Hierzulande herrscht die große Depression. Und die hat sogar noch eine spezifische Ausprägung, die in der Definition nicht ausdrücklich erwähnt wird, aber zum Krankheitsbild gehört: nämlich die Unfähigkeit, das wahrzunehmen, was gut läuft. Das Bad im Selbstmitleid, verbunden mit dieser Früher-war-alles-besser-Haltung, führt dazu, dass das meiste, was dieses Gefühl stören könnte, einfach ausgeblendet wird.
In einem Kraftakt das Land wiedervereinigt
Dabei ist Deutschland ein wunderbares Land. Und wenn niemand seine wahre Geschichte erzählt, dann erzähle ich sie hier: Ihre Menschen haben dieses Land aus den Trümmern eines selbst verschuldeten Weltkrieges wieder aufgebaut. Ihr Fleiß und ihre Schaffenskraft haben es zu einem wohlhabenden Staat in Europa gemacht. Bereits elf Jahre nach der Gründung überholte das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf das des Kriegssiegers Großbritannien. Die 68er stellten diese Leistung nach rund 20 Jahren in Frage, weil sie der Kriegsgeneration misstrauten. Es war der erste Aufstand gegen die Herrschenden in der jungen Bundesrepublik, der mit einem demokratischen Machtwechsel und Willy Brandt als erstem SPD-Kanzler seit Kriegsende endete. Der Konflikt hatte das Land nicht gespalten, sondern gestärkt.
Wiederum 20 Jahre später haben die Deutschen in der DDR in einer friedlichen Revolution das sozialistische Regime hinweggefegt und beide Seiten, die Menschen in Ost und West, haben in einem Kraftakt das Land wiedervereinigt. Dabei half ihnen das Bekenntnis zu „einem Volk“ ebenso wie das Bekenntnis zu Europa, das der Welt deutlich machte, dass hier kein neues, machtversessenes Deutschland entstand, sondern ein Deutschland, das seine Rolle in einem größeren Zusammenhang definierte.
Das Bekenntnis zu Europa war am Ende so stark, dass die Menschen auch dann noch zu ihrer Regierung standen, als sie 20 Jahre später noch einmal ihre ganze wirtschaftliche Kraft aufbieten mussten, um den Süden Europas nicht in Schulden versinken zu lassen. Auch das hat funktioniert. Inzwischen ist Griechenland teilweise auch eine Erfolgsgeschichte, und mancher Deutsche reibt sich verwundert die Augen, wie gut sich seine Investitionen in griechische Staatsanleihen rentieren. Deutschland hat im Jahr 2023 die meisten Flüchtlinge in der EU aufgenommen, was ebenso eine Leistung wie eine große Herausforderung ist.
Unsere Wirtschaft geht nicht den Bach runter
Heute steht Deutschland wieder an einem Punkt, den Dichter Scheideweg nennen und von dem normale Wanderer sagen würden: „Kannste links herum gehen oder kannste rechts herum gehen“. Wir sind an diesem Punkt angelangt, weil eine grüne Generation das Land unmissverständlich auf die Probe stellt: „So geht es nicht weiter“, sagt sie, aber die andere Hälfte antwortet mit wachsender Vehemenz: „Wir lassen uns nicht alles kaputt machen.“ Was sich derzeit anfühlt wie Scheideweg, Kulturkampf, links oder rechts, Geld oder Leben, ist in Wirklichkeit nur ein Konflikt, wie wir ihn in der Bundesrepublik schon mehrfach erfolgreich ausgetragen haben. Weder unsere Demokratie noch unsere Wirtschaft sind daran zugrunde gegangen, sondern die Konflikte, die wir mit uns selbst austragen mussten, haben uns alle stärker gemacht. Darauf können wir auch diesmal vertrauen.
Und natürlich geht auch unsere Wirtschaft nicht den Bach runter. Wir wollen nur nicht sehen, was funktioniert. Oder hat jemand mitbekommen, dass Microsoft letzte Woche das größte Investitionsprogramm in seiner 40-jährigen Geschichte angekündigt hat? Wo es stattfindet: hier. Der US-Konzern will bis Ende 2025 ziemlich genau 3,2 Milliarden Euro ausgeben, um die KI- und Cloud-Kapazitäten seiner Rechenzentren in Deutschland zu verdoppeln. Außerdem will der Konzern mehr als 1,2 Millionen Menschen in digitalen Kompetenzen weiterbilden. Das Ziel: Die deutsche Wirtschaft soll von KI profitieren und ihre globale Spitzenposition weiter ausbauen.
Natürlich kann man einwenden, dass ein amerikanischer Konzern hier investiert und wir es nicht aus eigener Kraft schaffen, in der IT ganz vorne mitzuspielen. Aber so wie Frankreich für Haute Couture und Luxus steht und nicht für IT, so steht Deutschland für Maschinenbau und Ingenieurskunst.
Bei den Patentanmeldungen lag Deutschland 2022 auf Platz fünf
Unsere Maschinen sind in Metall gegossenes Know-how. Von hier kommen die besten Autos der Welt. 87 Nobelpreise gingen an Deutsche. Die meisten in Chemie und Physik. Russland hat übrigens nur rund 30 und China kommt auf neun Nobelpreisträger, wenn man den Dalai Lama als Friedensnobelpreisträger mitzählt, der sich in China besser nicht blicken lassen sollte. Bei den Patentanmeldungen lag China im Jahr 2022 vorn und Deutschland auf Platz fünf, aber die Chinesen sind mehr als zehnmal so viele wie die Deutschen. 2500 Startups wurden zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen im Jahr 2023 gegründet. Darauf kann jeder stolz sein oder es lassen, aber klar ist: Seit die Amerikaner immer unsicherer werden, sind wir es, die der Ukraine tatkräftig helfen, ihren Existenzkampf gegen Russland und die Unabhängigkeit ihres Staates zu unterstützen.
Und zu guter Letzt: Ja, hier wird viel Meinung geäußert, oberhalb und unterhalb der Gürtellinie. Und es gibt eine politische Kultur, die versucht, mit dem Verweis auf rechte Schmuddelecken auch diskussionswürdige Themen von Bauern, Rechtsparteien und Medien, die nicht dem Mainstream folgen, zu diffamieren. Aber hierzulande wird niemand für seine Meinung eingesperrt, solange er nicht plant, den Staat gewaltsam abzuschaffen. Bei aller Aufregung sind die Deutschen nämlich in Wahrheit tiefenentspannt. Schon jetzt liegt die Zahl der Urlaubsfrühbucher für 2024 deutlich über dem Wert des vergangenen Jahres.
Es gibt also nicht wirklich einen ausreichenden Grund für Dauer-Depression in diesem Land. Es gibt vielmehr Grund zur Hoffnung, dass es doch wieder einmal vorangeht. Selbst diese Regierung wird dieses Land nicht ruinieren, sondern der Konflikt zwischen rechts und links, zwischen Bewahren und Verändern, wird es voranbringen. Wieder einmal.
hier Focus 9.3.24
„Industrie ist nicht Schuld“ - Ökonom identifiziert drei Hürden, die unsere Wirtschaft ausbremsen
Eine Mini-Rezession und düstere Aussichten dominieren die Diskussion über den bedauerlichen Zustand der Wirtschaft in der Republik. Besonders die Industrie stehe angeblich schlecht da, heißt es. Doch eine neue Analyse zeigt: Das stimmt so gar nicht.
In vielen Kundengesprächen, schreibt UBS##chartIcon-Volkswirt Felix Hüfner, gehe es derzeit vor allem um ein Thema: Deutschlands schwache Konjunktur. „Viele Kunden sehen die aktuelle Talsohle zwar durchschritten“, so Hüfner, „doch die Sorge über strukturelle Hürden, welche Deutschlands Unterperformance gegenüber anderen Ländern verlängern könnten, ist geblieben.“
Einmal mehr werde dabei der angeblich so schwachen Industrie der schwarze Peter zugeschoben. Hüfner, der Chefökonom für die Region Deutschland ist, und sein Team haben die Daten daher genauer untersucht. Ihr Fazit: Die Industrie ist gar nicht der Schuldige.
Es stimme zwar, dass die deutsche Wirtschaft schon seit geraumer Zeit hinterherhinke. „Real betrachtet ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit dem vierten Quartal 2019 nur um 0,1 Prozent gestiegen, während es in Italien um 3,6 Prozent wuchs, 1,8 Prozent in Frankreich, 2,9 Prozent in Spanien und 3,0 Prozent in der Eurozone insgesamt“, erklärt Hüfner.
Zahlen „widersprechen der gängigen Meinung“
Der genauere Blick aber zeige, dass die Industrie anderswo deutlich stärker leidet. „Auf der Nachfrageseite schwächelten besonders der Konsum der Haushalte und die Investments. Die Angebotsseite hingegen überrascht: Verglichen mit anderen großen Euroraum-Ländern wies insbesondere der Dienstleistungssektor eine schwache Aktivität auf.“ Das sei vor allem in den Branchen Handel, Reisen sowie in der Beherbergung sichtbar.
„Das widerspricht der gängigen Meinung, dass das herstellende Gewerbe der Hauptschuldige hinter der schwachen Konjunktur Deutschlands ist“, sagt Hüfner. So sei beispielsweise die Industrieproduktion in Frankreich über die vergangenen vier Jahre um 4,3 Prozent geschrumpft, in Deutschland aber gerade mal um 0,8 Prozent.
Dennoch zeige die anhaltende Schwäche der Wirtschaft, dass es hier nicht nur um einen zyklischen Abschwung handele. Hüfner identifiziert dabei drei strukturelle Hürden:
Die alternde Gesellschaft: „Das sinkende Angebot an Arbeitskräften kostet Deutschlands Potenzialwachstum in den 2020er Jahren im Schnitt von einem halben Prozentpunkt.“
Hohe Energiepreise: „Auch wenn nicht alle strukturellen Probleme Deutschlands auf das produzierende Gewerbe geschoben werden können, sieht sich der Sektor eindeutig mit diversen Herausforderungen konfrontiert – und eine davon sind die hohen Energiepreise.“ (inzwischen wurde darauf hingewiesen, dass die Strompreise wieder auf Vor-Kriegs-Niveau zurück gekehrt seien)
Exporte nach sowie Konkurrenz mit China: „Die deutsche Automobilindustrie hat den größten Anteil an den Exporten, und ist dabei am stärksten von China abhängig.“ Daher sei sie einerseits verwundbar durch eine schwächere Nachfrage im Reich der Mitte, während die globale Konkurrenz, besonders durch chinesische Hersteller, immer großer wird.
Gleichzeitig, argumentiert der Ökonom, gebe es auch gleich mehrere Gründe, nicht allzu pessimistisch zu sein. Einerseits werde „die strukturelle Schwäche durch das derzeit real stagnierende BIP überbewertet“, mahnt Hüfner. Es gebe Raum für einen Aufschwung – „immerhin deuten sich in Umfragen steigende Exportorder an, und der Arbeitsmarkt ist sehr robust“.
Darüber hinaus hätten die vergangenen Jahre gezeigt, dass die Fähigkeit der Industrie, sich nach Schocks anzupassen, nicht unterschätzt werden darf. Das habe sich beispielsweise bei energieintensiven Industrien gezeigt, besonders während der Energiepreiskrise.
Die Regierung hätte Spielraum für mehr Unterstützung
Zuletzt erinnert Hüfner daran, dass Deutschlands fiskalische Position weitaus bequemer sei als anderswo. Anders ausgedrückt: Wenn der Staat wollen würde, hätte er den Spielraum, die Wirtschaft zu entlasten.
„Die Schuldenquote ist etwa auf demselben Niveau wie vor 25 Jahren, was der Wirtschaftspolitik Raum gibt. Mögliche Ansätze wären niedrigere Unternehmenssteuern sowie höhere öffentliche Investionen“, schreibt Hüfner. Denn während die Unternehmenssteuern zu den höchsten im OECD-Raum zählen, sind Deutschlands öffentliche Investitionen, gemessen am BIP, niedriger als in vielen anderen Industrieländern.
Doch die Frage bleibe, ob dieser Spielraum genutzt werde. Dafür, so der UBS-Ökonom, müsse es „eine Form der Lockerung bei der strengen Schuldenbremse“ geben. Zwar erwartet Hüfner einige Schritte in diese Richtung. Doch eine komplette Reform der Schuldenbremse hält er, zumindest kurzfristig, kaum für möglich – „wegen den anstehenden Wahlen im kommenden Jahr und der mangelnden Unterstützung für die Regierungskoalition“.
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