Montag, 15. Mai 2023

"Klimawandel und Artensterben gleichzeitig anpacken"

Tagesschau ARD hier  29.04.2023 Von Bernd Großheim, tagesschau.de

Artenschwund und Klimawandel sind zwei aktuelle Krisen - und sie werden von Wissenschaft und Gesellschaft häufig getrennt betrachtet. Dabei bedingen und verstärken sie sich gegenseitig. Forscher fordern ein Umdenken.

Der Mensch hat im Laufe der Geschichte rund 75 Prozent der Landoberfläche und 66 Prozent der Ozeangebiete der Erde verändert. Das hat unter anderem dazu geführt, dass inzwischen 80 Prozent der natürlich vorkommenden Säugetiere sowie 50 Prozent der Pflanzen verloren sind und mehr Arten vom Aussterben bedroht sind als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Neben der intensiven Nutzung und Zerstörung natürlicher Ökosysteme durch Landwirtschaft, Fischerei und Industrie ist zunehmend der menschengemachte Klimawandel Auslöser für den Verlust von Biodiversität.

Beide Krisen bedingen und verstärken sich

Doch beide Krisen, die des Artenschwundes und die des Klimawandels, werden - einer neuen Studie zufolge - von Wissenschaft und Gesellschaft zu oft isoliert betrachtet.

Dabei bedingten und verstärkten sie sich gegenseitig. Hans-Otto Pörtner vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, ist einer der Autoren der Studie, die im Fachmagazin "Science" erschienen ist.

Im Gespräch mit tagesschau.de fordert er, die einzelnen Institutionen müssten verstärkt fachübergreifend zusammenarbeiten, sonst drohten die für 2030 und 2050 geplanten neuen globalen Biodiversitäts-, Klima- und Nachhaltigkeitsziele zu scheitern. "Ein Beispiel sind die separaten UN-Konventionen zu Biodiversitäts- und Klimaschutz. Beide internationale Abkommen betrachten die zwei Krisen zu isoliert und sind noch dazu fokussiert auf die nationalen Interessen der Vertragsstaaten. Hier brauchen wir dringend einen ganzheitlichen Ansatz."

Auch in der Gesellschaft sei es so, dass Natur und Klima oft getrennt gesehen werden, so Pörtner. "Nicht jedem ist bewusst, dass uns die Natur schon jetzt einen gehörigen Teil der CO2-Emissionen abnimmt. Einmal machen das die Ozeane physikalisch, indem sie einen Teil des sich anhäufenden CO2 lösen und speichern, und dann macht das die Biologie an Land. Diese Dienstleistungen gefährden wir, indem wir den Klimawandel laufen lassen und damit die Fähigkeit der Natur - also der Pflanzenwelt an Land und im Meer - schwächen, uns das Kohlendioxid abzunehmen."

Zusätzlich wird die Natur beispielsweise dadurch geschwächt, dass tropische Regenwälder wie die im Amazonasgebiet abgeholzt werden, um die Flächen industriell oder landwirtschaftlich zu nutzen. Durch den Verlust an Biomasse entstehen zusätzlich Treibhausgase. "Wir haben im Bereich Landnutzung und Landwirtschaft weltweit einen Emissionsanteil von 25 bis 30 Prozent", so der Klimaforscher.

"Netz von Schutzgebieten schaffen"

Das internationale Team aus Forscherinnen und Forschern hat Vorschläge erarbeitet, mit denen die Menschheit dem Klimawandel und dem Artenschwund begegnen und die schon heute drastischen sozialen Folgen abmildern kann. Ganz oben auf der Liste stehen laut Pörtner die massive Reduktion der Treibhausgasemissionen und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels.

Zusätzlich bekräftigen die Expertinnen und Experten die Forderung, mindestens 30 Prozent der Land-, Süßwasser- und Ozeanflächen unter Schutz zu stellen und zu renaturieren, "um die größten Biodiversitätsverluste zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme zu erhalten. Das hilft uns dann auch im Kampf gegen den Klimawandel."

Pörtner zufolge könnte schon eine weitgehende Renaturierung von lediglich 15 Prozent der zu Nutzland umgeformten Flächen ausreichen, um 60 Prozent der heute bedrohten Tier- und Pflanzenarten vor dem Aussterben zu bewahren. "Das kann man nachhaltig machen. Das ist ein realistischer Vorschlag."

"Nicht 30 Prozent des Landes in Nationalparke verwandeln"

Dabei sollten Schutzgebiete nicht als isolierte Rettungsinseln für Artenvielfalt begriffen werden. Vielmehr müssten sie Teil eines weltumspannenden Netzwerks zu Wasser und zu Land sein, das Gebiete mit naturnaher Wildnis für die Arten miteinander verbindet, damit sie von einem zum anderen gelangen können.

Doch Pörtner betont: "Wir vertreten nicht diese Schwarz-Weiß-Vorstellung aus westlichen Ländern, dass es entweder Schutz gibt oder menschliche Nutzung. Wir haben sicherlich den Schutz geeigneter Lebensräume für Arten in bestimmten Regionen vorrangig zu sehen, aber wir schließen in benachbarten Gebieten eine nachhaltige Nutzung durch den Menschen nicht aus." Man müsse nicht 30 Prozent des Landes in Nationalparke verwandeln, sondern Konzepte der nachhaltigen Nutzung entwickeln und wegkommen von der industriellen Landwirtschaft.

Voraussetzung für den Klimaforscher ist dafür ein Umdenken in der Gesellschaft. "Wir müssen Landflächen frei machen für Renaturierung und für ökologischen Landbau. Dafür müssen wir auch unsere Ernährung auf eine fleischarme und pflanzenreiche Kost umstellen."

Ziel müsse es sein, wegzukommen davon, dass in Deutschland 60 Prozent und weltweit 80 Prozent der Kulturflächen benutzt würden, um Tierfutter herzustellen und über ineffiziente Tierproduktion menschliche Ernährung voranzutreiben.

"Von indigenen Gruppen lernen"

In ein globales Schutzmanagement sollten zudem indigene Gesellschaften eingebunden werden. Pörtner hält dies für extrem wichtig. "Indigenen Gruppen müssen ihre traditionellen Rechte der nachhaltigen Nutzung zugestanden werden. Darin sind die sehr viel geschickter als unsere westlichen Zivilisationen. Von ihnen kann man lernen."

Man könne mit einer ökologischen und Kreislaufwirtschaft Nahrungsmittelproduktion regional sichern. Letztendlich gehe es um ein harmonisches Miteinander von Mensch und Natur, wobei auch die Natur das Recht haben müsse, sich zu entfalten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen