Von Ackerland-Vögeln bis zu Stadtbewohnern: Europas Vogelwelt steht vor einer Krise. Ein Viertel der Bestände ist seit 1980 bereits verschwunden. Eine neue Studie zeigt nicht nur, welche Arten betroffen sind - sondern identifiziert auch einen Hauptverursacher.
Um rund ein Viertel sind die Bestände von Vögeln in Europa von 1980 bis 2016 zurückgegangen. Hauptursache dafür ist einer Studie zufolge die intensive Landwirtschaft. Verstädterung und Temperaturanstieg sind demnach weitere Gründe für den Rückgang der Vogelpopulationen.
Doch manche Vogelarten profitierten von den sich ändernden Verhältnissen, schreibt eine Gruppe um Stanislas Rigal und Vincent Devictor vom Institut des Sciences de l'Évolution de Montpellier (ISEM) im Fachjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences" ("PNAS").
"Seit Jahrzehnten wird über einen Rückgang der europäischen Vogelpopulationen berichtet", schreiben die Studienautoren. "Die direkten Auswirkungen großer menschengemachter Belastungen auf diesen Rückgang sind jedoch noch nicht beziffert." Als Basis für ihre Untersuchung nutzten sie zum einen Beobachtungsdaten zu 170 häufig vorkommenden Vogelarten an mehr als 20.000 Standorten in 28 europäischen Ländern. Zum anderen verwendeten sie offizielle Statistiken, etwa vom Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) und von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO).
Der Rückgang der Vogelbestände ist demnach nicht gleichmäßig verteilt. Vögel, die Ackerland als Lebensraum bevorzugen, waren mit einer Reduzierung um fast 57 Prozent besonders betroffen. Bei Vögeln in kühleren Lebensräumen gingen die Bestände demnach um 40 Prozent zurück. Der Schwund bei Vögeln in städtischen Regionen war demnach mit knapp 28 Prozent etwas stärker als der allgemeine Trend. Weniger stark, um gut 17 Prozent, schrumpften Vogelpopulationen, die wärmere Lebensräume bewohnen und die vor allem in Wäldern zu finden sind.
Fehlende Insekten vertreiben Vögel
Durch statistische Trendanalysen bestimmten die Wissenschaftler dann die Größenordnung verschiedener Ursachen für die Verringerung der Vogelbestände. Demnach ist die intensive Landwirtschaft mit einem großen Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln und Düngemitteln die Hauptursache. Pestizide reduzierten die Anzahl an Insekten, die wiederum vielen Vogelarten als Futter dienen, heißt es. Dies erklärt, warum jene Vogelarten, die Ackerland als Lebensraum bevorzugen, besonders betroffen sind.
Verstädterung und die im Zuge des Klimawandels steigenden Temperaturen waren der Analyse zufolge weitere Ursachen für das Schwinden von Vögeln. Es gab aber auch Vogelarten, die von den Änderungen profitierten. Bei den 55 analysierten Waldbewohnern zeigte etwa die Hälfte einen negativen, die andere Hälfte einen positiven Trend.
"Angesichts der überwältigenden negativen Auswirkungen der Intensivierung der Landwirtschaft und der durch Temperatur- und Landnutzungsänderungen verursachten Angleichung legen unsere Ergebnisse nahe, dass das Schicksal der gemeinsamen europäischen Vogelpopulationen von der raschen Umsetzung transformativer Veränderungen in den europäischen Gesellschaften und insbesondere von Agrarreformen abhängt", mahnen die Wissenschaftler.
"Vögel halten Ökosysteme intakt"
Die Ergebnisse der Studie sind für Christian Hof von der Technischen Universität München (TUM) nicht überraschend. "Die neue Errungenschaft der Studie ist der große Umfang, die Datenqualität und die explizite Verknüpfung der Vogeldaten mit der Intensität der Landwirtschaft und anderen Faktoren", sagt er. Zur Bedeutung von Vögeln erklärte Hof: "Sie halten Ökosysteme intakt, indem sie die Insekten im Wald und in der Landwirtschaft im Zaum halten. Sie spielen eine Rolle bei der Samenausbreitung von Bäumen, Sträuchern und anderen Pflanzen."
Jörg Hoffmann vom Julius Kühn-Institut (JKI) in Kleinmachnow kritisiert allerdings Versäumnisse der Autoren. So seien die Zeiträume und Methoden der Vogelerhebungen nicht angeglichen worden. "Auch wären zum Beispiel in Bezug auf Klimaänderungen neben der Lufttemperatur im Besonderen die Niederschläge, deren jahreszeitliche Verteilung sowie Veränderungen im Landschaftswasserhaushalt zu beachten", betont er.
Süddeutsche Zeitung hier 16. Mai 2023,Von Tina Baier
Artensterben: Der Hauptverantwortliche für das Vogelsterben ist gefunden
Eine Studie legt offen, warum Vogelarten, die auf Äckern, Weiden und Wiesen leben, seit 1980 um fast 60 Prozent zurückgegangen sind. Der Schwund zeige, dass in der Natur grundsätzlich etwas aus dem Gleichgewicht geraten sei.
Die Zahl der Vögel in Europa hat in knapp 40 Jahren um ein Viertel abgenommen. Hauptursache dafür ist die intensive Landwirtschaft. Das belegt eine Studie, in der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Bestandsentwicklung von 170 Vogelarten in 28 europäischen Ländern über einen Zeitraum von 37 Jahren analysiert haben.
Für die Untersuchung, die im Wissenschaftsjournal PNAS erschienen ist, analysierte das Team um Stanislas Rigal von der Universität Montpellier mit Hilfe neuer statistischer Methoden den Einfluss verschiedener menschlicher Faktoren, die unter Verdacht stehen, für das Vogelsterben in Europa verantwortlich zu sein. Neben der intensiven Landwirtschaft, untersuchten sie auch die Rolle der Verstädterung, des Klimawandels und der Bewaldung.
"Dieses Ausmaß des Rückgangs ist dramatisch und erschreckend"
"Die Studie zeigt, dass große Flächen mit intensivem Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln zu besonders negativen Bestandstrends führen", sagt Katrin Böhning-Gaese, Direktorin am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt am Main. "Dies ist ein klarer Hinweis darauf, dass die intensive landwirtschaftliche Nutzung, der intensive Gebrauch von Pestiziden und Düngemitteln der Hauptfaktor ist, der zum Rückgang der Vögel führt.
Bestände von Vogelarten, wie Rebhuhn, Kiebitz oder Feldlerche, die in der Agrarlandschaft, also auf Äckern, Wiesen und Weiden leben, sind der Untersuchung zufolge besonders drastisch geschrumpft: im Studienzeitraum zwischen 1980 und 2016 europaweit um 57 Prozent. "Dieses Ausmaß des Rückgangs ist dramatisch und erschreckend", sagt Böhning-Gaese.
Die intensive Landwirtschaft schadet den Vögeln durch eine Reihe negativer Einflüsse: Der Einsatz von Pestiziden etwa dezimiert die Zahl der Insekten, auf die viele Vogelarten als Nahrung angewiesen sind. Sogar Arten, die als Erwachsene etwas anderes fressen, füttern zumindest ihre Jungen mit den proteinreichen Kerbtieren. Der Insektenschwund führt deshalb dazu, dass ein Teil der Brut schlicht verhungert, weil die Vogel-Eltern nicht genügend Nahrung finden, um alle durchzufüttern.
Die starke Düngung wiederum lässt Gras und Getreide innerhalb kürzester Zeit in die Höhe schießen. Die Vögel sitzen dadurch mit ihrer Brut im Dunkeln und Feuchten, was für viele Arten ein Problem ist. Der dichte Bewuchs der Ackerflächen verschärft zudem den Mangel an Insektenfutter, weil die Vögel an ihre Nahrung etwa in einem dichten Maisfeld gar nicht mehr herankommen.
Den schädlichen Einfluss der intensiven Landwirtschaft auf die Vögel in Europa belegt die Untersuchung auch indirekt durch einen Ländervergleich. Die Ergebnisse zeigten "dass in Ländern, in denen die intensive Landwirtschaft dominiert, die Vogelbestände besonders stark zurückgehen - vor allem in den westeuropäischen Industriestaaten", sagt Christian Hof, Ökologe an der Technischen Universität München.
Die Ausbreitung von Städten und die Zersiedelung der Landschaft haben der Studie zufolge ebenfalls einen negativen Effekt auf die Zahl der Vögel in Europa - allerdings in einem deutlich geringeren Ausmaß als die intensive Landwirtschaft.
In der Natur ist etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geraten
Der Klimawandel und der damit verbundene Anstieg der Temperaturen wirkt sich dagegen auf verschiedene Vogelarten sehr unterschiedlich aus. Gewinner sind wärmeliebende Arten, in Deutschland zum Beispiel mediterrane Spezies wie der Orpheusspötter. Verlierer sind Vögel, die eine kühlere Umgebung brauchen, in Deutschland etwa skandinavische Arten. "Auch wandernde Arten kommen weniger gut mit dem Klimawandel zurecht", sagt Christian Hof. Langstreckenzieher zum Beispiel, die in Europa brüten und in Afrika überwintern, bekämen nicht mit, wenn es in Europa früher warm wird. "Arten wie der Trauerschnäpper oder Halsbandschnäpper kommen dann womöglich zu spät aus Afrika zurück, wenn alle Nistplätze von konkurrierenden Arten bereits besetzt sind, und die Raupen, die diese Arten für die Aufzucht ihrer Jungen bräuchten, schon durch sind", sagt Hof. Insgesamt hat der Klimawandel den Studienautoren zufolge einen negativen Einfluss auf die Vogelbestände in Europa.
Obwohl es in Europa heute mehr Waldflächen gibt als noch vor einigen Jahrzehnten, hat auch die Zahl von Vögeln abgenommen, die typischerweise in Wäldern leben. "Eine plausible Erklärung ist, dass zwar die Fläche zugenommen hat, aber die Qualität der Wälder schlechter geworden ist", sagt Katrin Böhning-Gaese. "Für gesunde Vogelpopulationen in Wäldern brauchen wir alte Wälder mit alten Bäumen, vielen Stockwerken, Baumlücken und vor allem viel Totholz."
Der Schwund der Vögel zeigt nach Ansicht der meisten Experten, dass in der Natur etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Vögel sind Indikatoren, ihr Schwund bedeutet, dass auch viele andere - weniger gut untersuchte - Tiere und Pflanzen zurückgehen: Wildkräuter zum Beispiel, Bestäuber und wahrscheinlich auch Organismen, die im Boden leben. "Vielleicht am schmerzhaftesten ist, dass Vogeldiversität im Zusammenhang mit unserer psychischen Gesundheit und unserem Wohlbefinden steht", sagt Böhning-Gaese. "Der Rückgang der Vögel führt möglicherweise dazu, dass wir trauriger und unglücklicher werden."
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