Donnerstag, 25. Mai 2023

Extremismusforscher zur Ermittlung gegen die Letzte Generation: "Das Exempel, das statuiert werden sollte, könnte «Abschreckungseffekte haben, die nach hinten losgehen»"

Man kann die Proteste der Aktivisten gut heißen oder ärgerlich finden. Das ist jedem selbst überlassen.
Wenn aber friedliche Proteste von Politikern 
vorsätzlich  kriminalisiert werden, von Politikern die selbst in heftiger Weise gegen das gültige Klimaschutzgesetz verstoßen, dann muss Schluss sein.
Spätestens jetzt ist es höchste Zeit für die besorgte Zivilgesellschaft, die Notbremse zu ziehen.
Dass ausgerechnet die Generalstaatsanwaltschaft München dieses Vorgehen in ganz Deutschland antreibt, hat ein würziges Söder-Populismus-Geschmäckle angesichts des dortigen Wahlkampfes.
Man darf gespannt sein, wie es weiter geht.

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Deutschlandfunk hier 25.05.2023

Klima-Aktivisten rechtfertigen ihr Vorgehen

Nach den bundesweiten Razzien gegen Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ hat die Gruppierung ihre Proteste gerechtfertigt.

Fahrradfahrer umfahren eine Sitzblockade von zwei Klimaaktivisten der Gruppe "Letzte Generation" in Berlin. Die beiden halten ein Transparent mit der Aufschrift "Letzte Generation vor den Kipppunkten".
Sitzblockade von zwei Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ in Berlin (AP / Michael Sohn)
Ihre Sprecherin Rochel sagte im Deutschlandfunk, die Proteste seien dringend notwendig und legitim angesichts der Klimakrise. Dabei sei Friedlichkeit die rote Linie, die immer eingehalten werde. Die „Letzte Generation“ könne sich nicht einschüchtern lassen.....

Zeit hier 25. Mai 2023,  Quelle: dpa

Extremismus: Letzte-Generation-Razzia:
Forscher warnt vor Radikalisierung
(aufgrund des Polizei-Vorgehens)

Der Extremismusforscher Matthias Quent sieht die Gefahr, dass das Vorgehen der Ermittler gegen die Klimaschutzgruppe Letzte Generation zu einer Radikalisierung führen könnte. Das Exempel, das statuiert werden solle, könne «Abschreckungseffekte haben, die nach hinten losgehen», sagte Quent der Deutschen Presse-Agentur.

Diese könnten dazu führen, dass sich Menschen, die sich für Klimaschutz einsetzen, vom Staat nicht unterstützt, sondern im Stich gelassen fühlten. «Das kann dazu führen, dass sich Einzelne radikalisieren», sagte Quent.

Ermittlungen gegen Klimaschutzgruppe

Polizei und Staatsanwaltschaft waren gestern mit einer bundesweiten Razzia gegen die Klimaschutzgruppe vorgegangen. Rund 170 Beamte durchsuchten 15 Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern, wie die Generalstaatsanwaltschaft München und das bayerische Landeskriminalamt mitteilten. Der Tatvorwurf lautet auf Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung.

Ermittelt wird gegen sieben Beschuldigte, die zwischen 22 und 38 Jahre alt sind. Festnahmen gab es zunächst nicht. Die Aktivisten bestritten vehement, kriminell zu sein. Am Mittwochabend demonstrierten in Berlin Hunderte Menschen aus Solidarität mit der Gruppe. Für heute ist ein Protestmarsch in München geplant.

Hintergrund der Ermittlungen und Durchsuchungen sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft zahlreiche Strafanzeigen. Die Gruppe macht regelmäßig mit Sitzblockaden und Aktionen in Museen auf die Folgen der Erderhitzung aufmerksam. Die Mitglieder kleben sich dabei häufig fest - an Straßen oder auch an Kunstwerken.

Quent: Mittel der Aktivisten ist Provokation

Forscher Quent betonte, er sehe bisher keine Hinweise auf eine Radikalisierung bei der Letzten Generation. «Im Gegenteil: Ich finde es bemerkenswert, wie ruhig die bleiben, auch wenn sie angegriffen werden.»

Die Aktivisten machten stoisch das, was sie die ganze Zeit gemacht hätten. «Ich sehe im Sinne einer Radikalisierung hin zu extremeren Mitteln oder zu Gewalt oder zu der Ablehnung von Demokratie - also das, was wir unter Extremismus beschreiben - da sehe ich eigentlich keine Indikatoren», sagte Quent.

Die Strategie dieser Gruppe sei nicht, durch Gewalt einen Schaden zu verursachen, sondern es gehe immer um den öffentlichen Effekt. Das Mittel der Aktivisten sei nicht die Beschädigung, sondern die Provokation und die Irritation. Quent verwies auch darauf, dass keine Steigerung der Aktionen erkennbar sei.

Die Letzte Generation habe bislang immer ausgezeichnet, dass die Aktivisten ihr Gesicht zeigten, dass sie reformistische Forderungen stellten und keine revolutionären. Es bestehe aber die Gefahr, «dass solche Dinge kippen, weil das letzte Vertrauen, das vielleicht noch in Demokratie und Rechtsstaat da ist, bei einigen verloren geht», sagte Quent. Das habe man in der Forschung in sozialen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten immer wieder gefunden.

Zweifel an Einstufung als kriminelle Vereinigung

Berlins neue Justizsenatorin Felor Badenberg nannte das Vorgehen der Gruppe «befremdlich». «Wer trägt die Verantwortung, wenn da jemand zu spät ins Krankenhaus kommt?», sagte die frühere Vizepräsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz der dpa.

Sie kritisierte weiter: «Es gibt Menschen, die ihre Kinder nicht pünktlich von der Kita abholen können, nicht zu ihren pflegebedürftigen Eltern gelangen bis hin zu Geschäftsleuten, die Termine nicht wahrnehmen können, Flüge verpassen, finanzielle Einbußen haben.»

Natürlich sei es gut, dass sich junge Menschen für Politik interessieren, auf die Straße gingen und demonstrierten. «Was mich bei der Letzten Generation irritiert, ist die gewählte Protestform. Ich finde es belastend, dass die Aktivisten andere Menschen mittels Gewalt - im juristischen Sinne - tagtäglich nötigen.»

In den ARD-«Tagesthemen» sagte Badenberg aber, in Gänze könne die Gruppe nicht als eine kriminelle Vereinigung eingestuft werden, «sondern es geht ja immer um dem konkreten Einzelfall, den dann die Gerichte zu bewerten haben».

Gysi mahnt engeren Austausch mit Aktivisten an

Der SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, die Staatsanwaltschaften in einem demokratischen Rechtsstaat handelten erst dann, wenn ein Anfangsverdacht vorliege und die Vorermittlungen abgeschlossen seien. «Wenn man sich zu einem solchen Schritt entschließt, scheint es offenbar eine Änderung der Strategie der Letzten Generation zu geben.» Der Rechtsstaat müsse eine Trennlinie ziehen zwischen legitimem Protest und der Verabredung zur Begehung von Straftaten. Am Ende müssten Gerichte darüber entscheiden.

Der Linken-Politiker Gregor Gysi mahnte erneut einen engeren Austausch mit den Aktivisten an. Dem «Tagesspiegel» sagte er: «Die Eskalation durch die Justiz ist der falsche Weg.» Viele Aktionen gehen ihm demnach zu weit. Aber: «Wenn die Politik und die Justiz eskalieren, werden auch die jungen Leute eskalieren. Wo soll die Entwicklung hingehen?» Gysi hatte Ende November in Berlin als Anwalt einen Aktivisten vor Gericht verteidigt, der sich bei Straßenblockaden in Berlin auf den Asphalt geklebt hatte.

© dpa-infocom, dpa:230525-99-816986/6 


Zeit hier 24. Mai 2023, Quelle: dpa

Razzia gegen Klimaschützer - Letzte Generation macht weiter

Frühmorgens stürmen Dutzende Polizisten Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern. Ziel der Razzien: Beweise sichern für eine Strafverfolgung der Klimaschutzgruppe Letzte Generation. Gesucht wird nach Mitgliederlisten und Spendengeldern in Millionenhöhe.
Auch Berlin-Kreuzberg ist unter den 15 Adressen. Beamte brechen die Wohnung der bundesweit bekannten Aktivistin Carla Hinrichs auf. Geweckt wird die 26-Jährige von ihren lauten Rufen, wie sie auf Twitter schildert. «Und plötzlich steht ein Polizist mit schusssicherer Weste vor deinem Bett und richtet eine Waffe auf dich.» Mit brüchiger Stimme fügt sie an: «Sie versuchen mir Angst zu machen.» Die Polizei will zum Hergang nichts mitteilen und spricht von einem friedlichen Einsatz.
Aktuelles: Schlagzeilen

Verantwortlich für die Aktion ist die Generalstaatsanwaltschaft München. Sie geht dem Verdacht nach, dass die «Klimakleber», die mit ihrem Protest quasi täglich den Straßenverkehr stören, eine kriminelle Vereinigung bilden.

Eskalation auf juristischer Ebene

Mit dem spektakulären Einsatz eskaliert der politische Kampf um mehr Klimaschutz nun auch auf juristischer Ebene. Begleitet wird er von einer zähen Schlammschlacht in der Ampel-Koalition über ihr Heizungsgesetz und vielen, vielen verstörenden Nachrichten über die fatalen Folgen der Erderhitzung: Mehr Überschwemmungen wie jetzt in Italien, lange Dürren in diesem Winter in Frankreich, oder verheerende Waldbrände wie jüngst in Kanada. Und die Extreme sind erst der Anfang, wie die Klimaforschung unisono warnt.

Der Polizeieinsatz wirft Fragen auf - vor allem, ob sich der Vorwurf, die Aktivisten gehörten einer kriminellen Vereinigung an, stichhaltig zu begründen ist. Eher nicht, meinen viele Experten.
Denn nur, wenn man die erklärten klimapolitischen Motive der Gruppe als vorgeschoben abtue, könnte man ihre illegalen Handlungen - wie etwa Nötigung - zum eigentlichen Hauptzweck der Gruppierung umdeuten. «Dafür sehe ich keine Anhaltspunkte», schreibt dazu etwa der Protestforscher Dieter Rucht im «Tagesspiegel». Die Strafrechtsexpertin Inga Schuchmann von der Humboldt-Universität gibt in dem Blatt zu bedenken, die Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt sein: Die Straßenblockaden seien wohl für manche lästig, aber keine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit.

Der Co-Chef der Grünen-Jungend, Timon Dzienus, wird auf Twitter deutlicher und zieht einen kontroversen Vergleich: «600 Neonazis, die per Haftbefehl gesucht werden, laufen in Deutschland frei rum. Reichsbürger und Verschwörungsideologen begehen Morde, Anschläge und entwerfen Umsturzpläne. Und die Polizei ermitteln gegen ein paar Klimaaktivist*innen mit Sekundenkleber.»

Doch geht es nicht nur um das Ankleben auf Straßen und an Bilderrahmen in Museen, wie die Münchener Ermittler mitteilten. Zwei der sieben Beschuldigten im Alter zwischen 22 und 38 Jahren sollen im April 2022 versucht haben, die Öl-Pipeline Triest-Ingolstadt zu sabotieren. LKA-Sprecher Ludwig Waldinger sagte, dies sei die zentrale Pipeline, die Bayern mit Öl versorgt. «Diese wurde angegangen, wurde beschädigt.» Die Versorger hätten die Ölzufuhr für mehrere Stunden unterbrechen müssen. Gegen fünf der Beschuldigten wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt, gegen zwei wegen Unterstützung.

Erste Razzia schon im Dezember

Erst Mitte des Monats hatte auch das Landgericht Potsdam den Anfangsverdacht der Staatsanwaltschaft in Neuruppin bestätigt, dass die Gruppe eine kriminelle Vereinigung sein könnte. Hintergrund auch hier: eine Attacke auf eine Öl-Anlage, konkret die Raffinerie PCK Schwedt. Dort wurde unter anderem die Ölzufuhr unterbrochen. Schon Mitte Dezember hatten deswegen Polizei und Staatsanwaltschaft elf Wohnungen und Räume von Mitgliedern der Letzten Generation in mindestens sechs Bundesländern durchsucht.

Begleitet wird das Vorgehen der Justiz von überwiegend verständnislosen Kommentaren aus der Politik. Diese Woche äußerte sich auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) für seine Verhältnisse extrem kritisch - und nannte die Anklebe-Aktionen «völlig bekloppt». Die Antwort der Aktivisten kam prompt: Die SPD-Zentrale wurde mit Farbe beschmiert, um «den Kanzler an seine Verantwortung zu erinnern» und dessen «asoziale und verfassungswidrige Politik» zu brandmarken, wie es hieß. Am Mittwoch legte die Gruppe nach und erklärte, die Regierung Scholz führe die Gesellschaft «in eine Klimahölle».

Aber auch die allermeisten Bürger halten nichts von den Blockaden. Laut einer YouGov-Umfrage von Mitte Mai lehnen drei Viertel den Versuch ab, mit Aktionen wie Straßenblockaden mehr Klimaschutz durchzusetzen. 60 Prozent gaben an, dies «voll und ganz» zu tun, 16 Prozent «eher». Und selbst die allermeisten Grünen und viele andere Klimaschützer bleiben auf Distanz.

Auch Habeck sieht die Protestformen kritisch

Vize-Kanzler Robert Habeck, zurzeit ebenfalls wegen seiner Heizungspläne in der Kritik, sieht die Protestformen der Gruppe ebenfalls kritisch, weil sie keine politischen Mehrheiten für den Kampf gegen die Erderwärmung schaffe. Doch sagte er Ende April auch, die Ernsthaftigkeit und Courage der Aktivisten beeindrucke ihn mehr als die große Gleichgültigkeit vieler anderer.

Tatsächlich hat es die Letzte Generation zumindest geschafft, auch die Defizite der deutschen Klimapolitik auf die Agenda zu bringen - namentlich die immensen klimaschädlichen Emissionen des Autoverkehrs. Fast 49 Millionen Personenkraftwagen rollen hierzulande über die Straßen, zum allergrößten Teil mit Verbrennermotor. Die zwei Hauptforderungen der Gruppe betreffen denn auch diesen Sektor, verantwortet von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP): Verlangt wird Tempo 100 auf Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr.
Einordnung durch einen Protestforscher

Schon aus diesen recht moderaten Forderungen lasse sich schwerlich ein extremistisches oder radikales Gedankengut ableiten, meint der Berliner Protestforscher Vincent August. Von Methoden wie Ermordungen und Entführungen, wie man es von anderen Gruppen aus der Geschichte kenne, sei die Letzte Generation weit entfernt, sagte er im rbb-Inforadio.

Auch die Aktivisten selbst widersprachen am Mittag auf einer Pressekonferenz vehement dem Vorwurf, eine kriminelle Vereinigung zu sein. «Wir stehen mit unseren Namen und Gesichtern für unseren Protest. Wir kündigen an, was wir vorhaben. Wir führen Gespräche mit Politiker:innen, mit der Polizei, mit Kirchenoberhäuptern. Was ist daran kriminell?», fragten sie. Staatsanwälte aus ganz Deutschland hätten bereits klargemacht, dass sie den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung für absurd halten.

Die Gruppe rief ihre Unterstützer auf, am nächsten Mittwoch mit Protestmärschen ihre Solidarität zu bekunden - die ersten Demos soll es schon diese Woche in Berlin, Leipzig und München geben.

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