Standard hier Susanne Strnadl 20. Mai 2023
Fließgewässer verändern sich von den Alpen bis in die Ebene. Flächenversiegelung, Klimawandel und Abwässer setzen den Lebensräumen und ihren Bewohnern zu
Im vergangenen Sommer kam es in der deutschen Oder zu einem Fischsterben bis dahin ungekannten Ausmaßes. Auf einer Strecke von 500 Kilometern starben 360 Tonnen Fische, ebenso Massen von Muscheln, Schnecken und Krebsen. Am Entstehen der Umweltkatastrophe waren mehrere Faktoren beteiligt: Der durch eingeleitete Industrieabwässer hohe Salzgehalt der Oder, die herrschende Trockenheit und der resultierende niedrige Wasserstand mit entsprechend erhöhten Nährstoffkonzentrationen erlaubte das Massenauftreten der Goldalge Prymnesium parvum, deren Gifte letztlich unzähligen Wassertieren den Garaus machten.
"Eine unglückliche Verkettung menschengemachter Umstände", erklärt Gewässerökologe Gabriel Singer von der Universität Innsbruck. Durch Aufstauungen verweilt das Wasser zu lange an derselben Stelle, wie Singer erläutert. Dadurch werden neu aufkommende Algen ebenso wie Nährstoffe durch das fließende Wasser nicht so rasch abtransportiert. Wetter- beziehungsweise klimawandelbedingter Wassermangel und hohe Temperaturen mit entsprechender Verdunstung verschärfen das Problem. Unter diesen Umständen haben potenziell giftige Algen sowohl gute Wachstumsbedingungen als auch genügend Zeit zum Ausbilden starker Blüten.
Wichtige und richtige Vegetation
Niedrige Wasserstände und lange Verweilzeiten sind laut Singer auch Folge der Ableitung durch Bodenversiegelung, Drainagierung und Flussbegradigung. "Für klimawandelfitte Flüsse muss das Wasser länger in der Landschaft bleiben, aber im Gewässer auch freier fließen dürfen", sagt er.
Eine Schlüsselposition hat dabei die flussbegleitende Vegetation, bestenfalls in Gestalt von intakten Auwäldern. Unter solchen Bedingungen wird Wasser gespeichert und langsamer abgegeben, der Fluss wird zudem beschattet und erfährt so auch im Hochsommer weniger Verdunstung.Derzeit wird Ufervegetation aber eher gezielt entfernt, um Verklausungen bei Hochwasser vorzubeugen. Von einer Stärkung der Auen und Ufervegetation würde neben dem Wasserhaushalt auch die bereits stark reduzierte Biodiversität von Fließgewässern massiv profitieren. Überregionale Beeinflussungen des Landschaftswasserhaushalts, etwa durch die Ausleitungen der Ötztaler Ache für den geplanten Ausbau des Kraftwerks Kaunertal in Tirol, sieht Singer kritisch: "Bis dort Strom produziert wird, ist das aus der Gletscherschmelze stammende Wasser, das dort genutzt werden soll, gar nicht mehr vorhanden", ist er überzeugt.
Wasserschwall von Kraftwerken
Der Schwallbetrieb von Wasserkraftwerken stellt laut Singer ein spezielles Problem für die Artenvielfalt in Flüssen dar: Je nach tagesaktuellem Strompreis werden diese automatisch an- und abgeschaltet, das Aufdrehen sendet jeweils einen massiven Wasserschwall das Flussbett hinab. Das schwemmt Jungfische und viele wirbellose Organismen aus ihren Lebensräumen – und das oft täglich. Dass sich die Lage heimischer Fließgewässer von selbst verbessert, ist angesichts steigender Temperaturen und zunehmender Dürren im Zuge des Klimawandels nicht zu erwarten. Erst kürzlich fand eine Langzeitstudie der Uni Innsbruck heraus, dass sich alpine Gewässer schneller erwärmen als angenommen. Das ermöglicht etwa das Einwandern gebietsfremder Arten und begünstigt zudem Parasiten.
Unter diesen Umständen "müssten wir jetzt ins Zeitalter der Renaturierung eintreten", ist Singer überzeugt, "und es wird auch viel renaturiert, aber auch noch viel kaputtgemacht". Fließgewässer und in ihnen lebende Arten leiden nicht nur unter Verbauung, sondern auch unter der Einleitung bedenklicher Stoffe. Zwar werden in Europa die meisten Abwässer geklärt, bevor sie in Gewässer gelangen, doch enthalten sie Chemikalien, die von den Kläranlagen nicht beseitigt werden können. Besonders besorgniserregend sind Emerging Contaminants, zu Deutsch auftauchende Schadstoffe, kurz EC. Darunter fallen Substanzen, deren Vorkommen in der Umwelt erst in den vergangenen 30 Jahren entdeckt wurde und nicht Standardmäßig überwacht werden, wie Kunststoffe, Kosmetik- und Pflegeprodukte und Medikamente.
Unerforschte Stoffe im Blick
Die Konzentration dieser Stoffe in Fließgewässern ist für gewöhnlich sehr niedrig, doch weiß man kaum etwas über ihre Auswirkungen auf die betroffenen Ökosysteme. So gibt es darunter auch endokrine Disruptoren: Das sind Substanzen, die wie Hormone wirken und bereits in winzigen Dosen Effekte hervorrufen können. In einer schwedischen Laborstudie reichten etwa minimale Mengen von Diazepam beziehungsweise Valium im Wasser, um Barsche risikofreudiger zu machen, was in der Natur dazu führen kann, dass sie eher gefressen werden. In Zusammenarbeit mit Ana Previšić von der Universität Zagreb führten Simon Vitecek und sein Team am Wassercluster Lunz Versuche mit Wasserinsekten durch, die sich zwei Monate lang in vier Varianten von Bachwasser entwickelten: unverändertem, künstlich erwärmtem, mit Abwässern einer Kläranlage vermischtem sowie erwärmtem und mit Abwässern vermischtem.
Alle überwachten Stoffe lagen unter den zulässigen Grenzwerten. Auf die Überlebenswahrscheinlichkeit der Tiere wirkte sich nichts aus, dafür auf ihre Entwicklung: In allen manipulierten Varianten blieben die Insekten kleiner und lagerten weniger Fett ein als die Kontrollgruppe, der Effekt war in warmem und verunreinigtem Wasser am stärksten. Auch sank in den beeinflussten Systemen die genetische Vielfalt, was die Anpassungsfähigkeit an Umweltänderungen reduziert.
Die Ergebnisse geben laut Vitecek in zweierlei Hinsicht zu denken: Zum einen ist die Fruchtbarkeit von Insektenweibchen von ihrer Größe und ihren Fettreserven abhängig, weshalb Auswirkungen auf ihre Vermehrung und damit auf die Populationsentwicklung möglich sind. Gleichzeitig spielen aquatische Insekten und ihre oft fliegenden Erwachsenenformen eine überragende Rolle für die Versorgung mit Fetten und Fettsäuren landlebender Prädatoren wie Vögel und Fledermäuse. Auch sie können durch den geringeren Nährwert der Insekten beeinträchtigt werden. Zudem lagerten die Wasserinsekten Emerging Contaminants ein, was dazu führt, dass sich die Substanzen im aquatischen und terrestrischen Nahrungsnetz verbreiten.
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