Montag, 22. Mai 2023

Klimabedingte Katastrophen: Augen zu und runter

Spiegel hier  Eine Kolumne von Christian Stöcker   21.05.2023

Jens Spahn stellt die Menschenrechtskonvention zur Disposition, die FDP sabotiert die eigene Koalition, die SPD zaudert. Deutschland braucht aber Tempo, nicht Abschottung – sonst geht es bald bergab.

An dem, was Jens Spahn kürzlich in einer Talkshow zum Besten gab, kann man bereits vage erkennen, was die eigentliche Strategie der Union mit Blick auf die Klimakrise ist: Nichtstun und Abschotten.

Spahn erklärte bei Markus Lanz, dass man doch jetzt einmal darüber nachdenken müsse, »ob die Flüchtlingskonvention und die europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren«. Spahn will weniger Geflüchtete nach Europa lassen und stellte deshalb ganz nonchalant die Menschenrechte zur Disposition. Er leitete diesen ethischen Dammbruch gewissermaßen mit vorweggenommener Opferpose ein: »Ich sage jetzt mal was, was wieder tausend Shitstorms bringt.«

Der Arme. Aber wenigstens muss er nicht in einem Schlauchboot übers Mittelmeer fahren.

Im Kern ging es Spahn um den Gedanken, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern – »außer aus der Ukraine« – in Zukunft keinen generellen Anspruch mehr auf einen sicheren Hafen in Europa haben sollten. Spahn hat, wie viele seiner Parteifreunde, irgendwo tief drin sicher verstanden, was gerade passiert. Die Klimakrise verwandelt sich Schritt für Schritt in eine Klimakatastrophe. Die Völkerwanderung des 21. Jahrhunderts hat noch gar nicht richtig begonnen.

Wir haben eure Heimat zerstört, bleibt bitte zu Hause

Diese Katastrophe lässt auch Europa nicht ungeschoren: Wir haben in diesem noch nicht einmal zur Hälfte vergangenen Jahr bereits Dürrekatastrophen in Spanien und Frankreich und aktuell eine Flutkatastrophe in Italien zu verzeichnen. Aber anderswo wird es noch viel schlimmer.

Der Welt stehen gewaltige Migrationsbewegungen bevor. Spahn denkt also jetzt schon einmal laut und zynisch darüber nach, wie Europa sich vor den Flüchtenden schützen sollte, die nicht zuletzt Europas Wirtschaften in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich mitverursacht haben.

Schon jetzt werden zwei der Staaten an den südlichen und östlichen Außengrenzen Europas von rechtsradikalem bis neofaschistischem Personal regiert. Für Leute wie Spahn ist die Vorstellung sicher attraktiv, die unappetitlichen Menschenrechtsverletzungen, die man für die Abdichtung der Festung Europa schon jetzt plant, an solche unappetitlichen, aber nützlichen Verbündeten wie Viktor Orbán und Giorgia Meloni outsourcen zu können. Da stören Menschenrechte nur.

Es wird noch schneller noch heißer

Die kommenden fünf Jahre werden aller Wahrscheinlichkeit nach die heißesten in der Geschichte der Aufzeichnungen. Vermutlich wird die Erde die Temperaturgrenze von 1,5 Grad plus im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten schon in diesem Zeitraum überspringen, wenn auch – vorläufig! – nur vorübergehend. Die klimabedingten Katastrophen, die wir im Moment erleben, sind immer noch nur ein Vorgeschmack.

Wer nicht völlig verblendet ist, hat das auch längst begriffen. Man kann darauf unterschiedlich reagieren: Wenn man für einen Kohle-, Öl- oder Gaskonzern arbeitet, oder für ein Unternehmen, dessen Geschäftsmodell von Kohle, Öl oder Gas abhängig ist, vermutlich mit doppelter Panik: Einerseits ist das mit der Klimakatastrophe, die das eigene Wirken mitverursacht, ja schon sehr beunruhigend. Aber mindestens ebenso beunruhigend ist doch, dass ausgerechnet das eigene Unternehmen, die eigene Branche, das eigene Geschäftsmodell jetzt zum Ende kommen soll. Also wird verzögert, gebremst, lobbyiert und gelogen. Nur ein paar Quartale noch Geld drucken! Ein paar Quartale nur!

Finanzielle Verluste vs. existenzielle Verluste

Noch immer stecken so gewaltige Summen in fossilen »Assets« , dass auch die globale Finanzindustrie nicht in der Lage scheint, diese kognitive Dissonanz in der einzig menschheitsdienlichen Weise aufzulösen: Indem man akzeptiert, dass es Verluste finanzieller Natur geben wird, damit Verluste existenzieller Natur vermieden werden können. Das aber würde voraussetzen, dass beispielsweise Bankmanager akzeptieren, dass es wirklich so ist: Um die Katastrophe abzumildern, müssen wir aufhören, fossile Brennstoffe zu verfeuern. So schnell wie möglich.

Die Fossilbranchen planen aber weiterhin, neue Vorkommen zu erschließen, die die Menschheit definitiv in den Abgrund reißen werden, wenn sie wirklich verfeuert werden. Kohle-, Öl- und Gaskonzerne sowie Petrostaaten von Aserbaidschan über Russland bis zu Saudi-Arabien und Qatar möchten gern, dass wir alle weiterhin mitmachen bei ihrem Selbstmordpakt. Und die Branchen, Firmen, Personen, die Anteile an solchen Investitionsgütern haben, kämpfen jetzt mit allen Mitteln. Obwohl sie damit ja auch sich selbst, ihren Kindern und Enkeln schaden.

Es ist absolut machbar

In der Psychologie gibt dafür den Fachbegriff »sunk costs fallacy«: Weil man in etwas Falsches schon so viel Zeit oder Geld investiert hat, bleibt man daran kleben, obwohl eigentlich längst klar sein müsste, dass das ein Fehler ist.

Die einzig rationale Antwort auf die Klimakrise und die zwangsläufige Transformation ist: keine neuen Gasheizungen, keine Verbrennungsmotoren mehr, alles elektrifizieren, was sich elektrifizieren lässt , gewaltige Anstrengungen beim Netzausbau, bei der Implementierung von Speichertechnik. Aber auch: Deregulierung für Privathaushalte und Bürgernetze, Strom vom Dach für die eigene Wärmepumpe, Dämmen, Energie sparen, weniger Autoverkehr, mehr Schiene, mehr ÖPNV, mehr Fahrrad, weniger Fleisch, weniger Verschwendung und so weiter.

Das schöne Geld! Die schönen Rohre!

All das ist absolut machbar, gerade für eine im globalen Vergleich unfassbar reiche Gegend wie die Europäische Union, und noch einfacher für ein selbst im EU-Vergleich reiches Land wie Deutschland. Außerdem lohnen sich solche Investitionen ziemlich schnell. Aber sie würden eben dazu führen, dass bestimmte Investitionsgüter und Besitztümer sehr schnell ihren Wert verlieren. Das ist zum Beispiel für Gashändler, Gasnetzbetreiber, Stadtwerke und andere Energieversorger ein Problem: Jetzt geht plötzlich alles viel zu schnell . Das schöne Geld! Die schönen Rohrleitungen!

Dementsprechend ist zu allen Facetten der Wende weg vom CO₂ weiterhin atemberaubend viel Desinformation im Umlauf.

Folgendes stimmt tatsächlich:

Ja, erneuerbarer Strom ist wirklich billiger. Deshalb wollen die südlichen Bundesländer, wo wenig Windstrom produziert wird, auf gar keinen Fall Strompreiszonen , und deshalb war schon 2021 80 Prozent der global zugebauten Kapazität erneuerbar . 

Ja, Wärmepumpen sind wirklich sehr effizient. Deshalb boomen sie, und zwar global . Nein, sie heizen nicht »mit Strom«, sondern mit Thermodynamik. Ja, die Investition lohnt sich. Ja, sie funktionieren auch in sehr vielen Alt- und Bestandsbauten. Ja, Elektroautos haben wirklich eine deutlich bessere CO₂-Bilanz als Verbrenner, auch schon mit dem aktuellen Strommix. Ja, wer jetzt noch eine fossile Heizung einbaut, wird es bald bereuen.

Wir Hinterherläufer

Die Frage ist nur noch, wer ab jetzt vorn ist, und wer hinterherläuft. Im Augenblick ist China dabei , dem Rest der Welt auf fast allen relevanten Gebieten zu enteilen, neue Kohlekraftwerke hin oder her. China baut erneuerbare Energien , Pumpspeicherkraftwerke , Elektroautos  in rasendem Tempo. Das sind eigentlich gute Nachrichten für die Welt, aber weniger gute für Europas Wirtschaft.

Wir gehören längst zur Gruppe der Hinterherläufer, und das hat viel mit Lobbyismus, politischer Trägheit und Realitätsverweigerung zu tun. In deutschen Parteien, im Bundestag und auch in der aktuellen Bundesregierung sitzen immer noch viele Leute, die jahrzehntelang aktiv mitgearbeitet haben an der Verzögerung, der Lähmung, der Realitätsverweigerung.

Gut für die Gasbranche, schlecht für Deutschland

Jetzt haben wir eine Automobilindustrie, die sich in einem akuten Abstiegskampf befindet. In den nächsten Jahren werden ihr rapide Absatzmärkte wegbrechen, weil sie sich vor dem Umbau hin zum Elektroauto zu lange gedrückt hat. 

Wir haben praktisch keine heimische Solar- und Windenergiebranche mehr. Wir haben zu wenig Fachleute für den Einbau und die Wartung von Fotovoltaikanlagen, Stromspeichern, Wärmepumpen. Wir haben ein überaltertes, schlecht ausgebautes und nach wie vor nicht smartes Stromnetz. 

Und wir haben eine Bevölkerung, der zwar die Dringlichkeit der Klimakrise längst mehrheitlich bewusst ist, die aber zu einem guten Teil weiterhin in dem Irrglauben lebt, eigentlich müsste sich gar nicht allzu viel ändern. Das liegt nicht zuletzt darin, dass sie viele Jahre lang falsch informiert wurde.

Realitätsverweigerung führt aber nicht dazu, dass die Klimakrise oder die unabdingbare Transformation unserer Industrie und Wirtschaft mal eine Pause macht. Entweder, wir passen uns an, sehr viel schneller als bisher, oder wir steigen ab. Das ist längst keine rein ökologische Frage mehr, sondern eine ökonomische. Wir haben es wirklich sehr eilig.

Eine Mauer um Europa wird uns vor der unausweichlichen Transformation der Weltwirtschaft nicht bewahren.

Wenn Deutschlands Antwort auf die Klimakrise von Leuten wie Jens Spahn kommen sollte, wird sie weiterhin lauten: Abschotten, Abwarten, Abwiegeln, Ablenken. Das mag gut für die Quartalsgewinne der Gasbranche sein, und vielleicht sogar gut für die Wahlaussichten der Union im Jahr 2025. Für Deutschland aber wäre es fatal.

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