60 Jahre nach Rachel Carsons Buch „The silent spring“
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Vor 60 Jahren, im Spätherbst 1962, wurde in den USA das Buch von Rachel Carson „The silent spring / Der stumme Frühling“ veröffentlicht. Obwohl es weltweit noch keine starke Umweltbewegung gab und die damalige Naturschutzbewegung eher defensiv und konservativ war, wurde es 1962 das meistgelesene Buch in den USA. Die Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson zeigte, welche Folgen der Einsatz des Insektenvernichtungsmittels DDT auf die Umwelt hat. Es war ein Weckruf für eine global erwachende Bewegung.
Drastisch und berührend schrieb sie: „Es
war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit
ihrer Umwelt zu leben schienen. (…) Die Gegend war berühmt wegen ihrer an Zahl
und Arten so reichen Vogelwelt.“
„Dann tauchte überall in der
Gegend eine seltsame schleierhafte Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann
sich alles zu verwandeln. (…) Rätselhafte Krankheiten rafften die Kükenscharen
dahin, Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Es herrschte eine
ungewöhnliche Stille.“
1962 war in den USA, aber auch in Deutschland noch die Zeit der „guten, alten, offenen“ und vor allem sichtbaren Umweltzerstörung und Umweltvergiftung. Flüsse waren stinkende Kloaken, Kinder in der Umgebung von Verbrennungsanlagen litten an Pseudokrupp, in der Umgebung deutscher Bleichemiewerke starben die Kühe an Bleivergiftung. 1957 kam Contergan auf den Markt und die ersten AKW wurden gebaut. Es war die unkritisch-technikbesoffene Nachkriegszeit, in der, trotz des Konzernwissens um die Gefahren, noch hemmungslos Asbest verbaut wurde. Nicht nur mit dem Werbespruch „DDT is good for me-e-e“ wurde für das Insektenvernichtungsmittel DDT geworben.
Doch langsam zeigten sich die negativen Folgen des DDT-Einsatzes, denn auch nützliche Insekten starben massenweise. Das langlebige Gift lagerte sich im Fettgewebe von Tieren ab. Auch ging die Zahl der Vögel zurück. Die Schalen der Vogeleier waren zu dünn und zerbrachen beim Brüten. In Deutschland war ein Aussterben der Wanderfalken zu befürchten. Beim Menschen, am Ende der Nahrungskette, reicherte sich das langlebige Gift in Leber, Nervensystem und Fettgewebe an.
Rachel Carson wurde von der Argrochemielobby massiv und aggressiv angegriffen. Ein Lobbyist der landwirtschaftlichen Chemieindustrie, Robert White-Stevens sagte damals Sätze, die heutigen Umweltaktiven seltsam vertraut vorkommen: „Wenn die Menschen den Lehren von Miss Carson treu folgten, würden wir ins finstere Mittelalter zurückkehren. Krankheiten und Ungeziefer würden die Erde wieder übernehmen.“
Die Zeit war reif für Carsons Buch und für das Wachsen der Umweltbewegung. DDT wurde nach langen Kämpfen verboten und 10 Jahre nach dem Erscheinungstermin entstanden auch in Deutschland, gerade auch am Oberrhein, immer mehr Bürgerinitiativen und aus der konservativen Nur-Naturschutzbewegung wurde eine politischere Umwelt- und Naturschutzbewegung.
Der stumme Frühling
2.0
Während weltweit Medien und die Umweltbewegung an das
Erscheinen des wichtigen Buches vor 60 Jahren erinnern, geht eine erschreckende
aktuelle Nachricht durch die Medien: „Der
jüngste Bericht zur Lage der Weltvögel (State of the World's Birds 2022)
zeichnet das bisher besorgniserregendste Bild für die Zukunft unserer
Vogelarten und damit des gesamten Lebens auf Erden. Fast die Hälfte aller
Vogelarten ist rückläufig. Jede achte
Vogelart ist derzeit vom Aussterben bedroht."
Rachel Carsons Buch und die global wachsende Umweltbewegung waren und sind
einerseits eine Erfolgsgeschichte. Luft- und Abwasserreinigungsanlagen wurden
gebaut, Kraftwerke entschwefelt, Filter eingebaut, Autos bekamen Katalysatoren,
DDT und Asbest wurden in den westlichen Staaten verboten und die
kostengünstigen, zukunftsfähigen
Energien begannen ihren langsamen Aufschwung. Die (Alb-)Träume der
Atomlobbyisten sind nicht nur wegen Tschernobyl und Fukushima, sondern auch
ökonomisch ausgeträumt, auch wenn manche PolitikerInnen das noch nicht
begriffen haben. Die Produktionsprozesse wurden zumindest in vielen Ländern des
Westens sauberer.
Das nur scheinbar unbegrenzte Wachstum brachte mehr Konsum, Handys, Plastik,
Müll, Autos, PS, Straßen, SUVs, Rüstung, Flüge, Wohnraum, Agrargifte
wie Neonicotinoide, Agrarfabriken, Urlaubsfabriken, Flächenverbrauch,
Straßenbau, gigantische Bildschirme, Regenwaldvernichtung für Konsum, energiefressende
Bitcoins und mehr soziale Ungleichheit ... Die frühen Erfolge gegen die
„gute, alte, offene“, sichtbare Umweltverschmutzung wurden und werden schlicht
vom unbegrenzten
exponentiellen Wuchern des Kleinen aufgefressen und dieses Wachstum bringt
der Mehrzahl der Menschen nicht einmal mehr Glück und Zufriedenheit.
Und die alte Vision des stummen Frühlings wird erneut zur globalen Realität.
Fünfmal gab es in den vergangenen 540 Millionen Jahren gewaltige Artensterben, zeigen
Fossilienfunde. Forscher sehen eine aktuelle, menschengemachte sechste Welle in
vollem Gange. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen zur Artenvielfalt
sterben bis zu 130 Tier- und Pflanzenarten täglich aus. Andere
wissenschaftliche Quellen gehen von einem täglichen Aussterben von 150 Arten
aus. Der Mensch im Anthropozän hat auf die Artenvielfalt eine ähnlich
verheerende Wirkung wie der große Meteor-Einschlag vor 65 Millionen Jahren.
In kriegerischen Zeiten versuchen Konzerne, Lobbyisten und PolitikerInnen auch
im Umwelt- und Naturschutzbereich das Rad der Geschichte zurückzudrehen und
teilweise ist die unkritisch-zerstörerische Technikbesoffenheit der 60 Jahre
des letzten Jahrhunderts zurück.
Der gelenkte Hass, dem Rachel Carson
ausgesetzt war, war nie verschwunden, wie (nicht nur) die perfiden
Anzeigenkampagnen gegen Greta Thunberg zeigen. Durchsetzungsstrategien und
Greenwash wurden optimiert. Aktuell wird das in der Fast-Nicht-Debatte um die Gefahren
eines atomaren Endlagers in der Schweiz sehr deutlich.
Die Kämpfe gegen Klimakatastrophe, Artenausrottung, Atommüllproduktion,
Überkonsum, Rohstoffverschwendung, gegen den verheerenden Traum vom
unbegrenzten Wachstum und gegen den "stummen Frühling 2.0" stehen
trotz vieler Teilerfolge auch 60 Jahre nach Rachel Carsons wichtigem Buch erst
am Anfang.
Axel Mayer, Mitwelt Stiftung Oberrhein (der Autor ist seit 50 Jahren in der
Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg)
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