Montag, 31. Oktober 2022

Plötzlich ist die Hiroshima-Bombe „klein“

Schwäbische Zeitung  hier Von Elke Oberländer

Neues Talk-Format mit Wolfram Frommlet greift Vergangenes für die Zukunft auf

„Zu oft wurde nicht zurückgeblickt, zu oft wurde die Zukunft auf Verdrängtem und Lügen aufgebaut“, sagt Wolfram Frommlet. Klar also, dass er sein neues Talk-Format „Gespräche über die Zukunft“ mit einem Blick in die Vergangenheit eröffnet. Im Theatercafé hat er mit seinen Gästen über Atomwaffen, Euthanasie und die vergessenen Leistungen von Frauen diskutiert.

Angesichts des Krieges in der Ukraine würden Politiker und Journalisten so oft von Atombomben sprechen - „und doch scheinen sie keine Vorstellung davon zu haben“, sagt Frommlet.
Regina Hagen ergänzt: Die „taktischen Atomwaffen“, von denen heute so viel die Rede ist, haben die Kraft der Hiroshima-Bombe. Diese schrecklichen Bomben, die 1945 auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden, gelten nach Hagens Worten heute als „klein“.

Regina Hagen ist Sprecherin der Kampagne „Büchel ist überall - atomwaffenfrei.jetzt“ des Trägerkreises „Atomwaffen abschaffen - bei uns anfangen“. Am deutschen Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern amerikanische Atomsprengköpfe, berichtet die Aktivistin.

Weltweit gibt es nach ihren Worten knapp 13 000 Atomsprengköpfe. Wenn nur hundert davon zum Beispiel in einer Auseinandersetzung zwischen Indien und Pakistan eingesetzt würden, gerate bereits so viel Asche in die Atmosphäre, dass Hunderte Millionen Menschen in einem „atomaren Winter“ verhungern würden. Von den Folgen der Radioaktivität noch ganz abgesehen. Würden 4000 Atomwaffen gezündet, würden fünfeinhalb Milliarden Menschen sterben. „Dann ist es am besten, wenn man da mittendrin ist“, sagt Hagen. Denn die Zeit danach will sie nicht erleben.

„Eigentlich wissen das alle: Forscher, Militärs, Politiker…“, sagt Regina Hagen. Aber warum es dann überhaupt noch Atomwaffen gebe, will Frommlet wissen. Großmachtstreben sei das eine, und weil es für die Industrie ein extrem lukratives Geschäft sei, erklärt die Friedensaktivistin. Verkauft würden die Atomwaffen aber als Abschreckung.

Um das Frauenmuseum Hittisau geht es im Gespräch mit Stefania Pitscheider Soraperra. Sie ist Direktorin des einzigen Frauenmuseums in Österreich - zugleich weltweit das einzige im ländlichen Raum. Gerade im ländlichen Raum sei es wichtig, dass demokratische Kräfte sichtbar gemacht werden, sagt die Museumsdirektorin. Immerhin würden populistische Bewegungen wie diejenigen um Trump oder Orban alle aus dem ländlichen Raum kommen.

„Frauengeschichte ist oft vergessene Geschichte“, sagt Pitscheider Soraperra. Dabei hätten Frauen überall Großes geleistet. Sie erinnert an den Frauen-Friedens-Kongress 1915 in Den Haag: Mitten in einer Kriegszeit hätten 1136 Frauen aus zwölf Nationen über den Frieden diskutiert. Eine ihrer Forderungen war der Internationale Gerichtshof - er hat noch heute seinen Sitz in Den Haag.

Die „Pflicht zur ehelichen Beiwohnung“, bis vor einigen Jahrzehnten noch im deutschen und österreichischen Familienrecht verankert, gibt es heute nicht mehr. Die Museumsdirektorin ist stolz auf die Rechte und Freiheiten, die Frauen sich erkämpft haben. Aber sie warnt auch: „Verbriefte Rechte sind nicht in Stein gemeißelt.“ Im Gegenteil - sie könnten schnell Stück für Stück wieder infrage gestellt werden. Frauen müssten „Augen und Herzen offenhalten“.

Das Denkmal der grauen Busse steht im Mittelpunkt des Gesprächs mit Andreas Knitz. Er ist einer der beiden Künstler, die das Werk geschaffen haben. In den Jahren 1940 und 1941 wurden Frauen, Kinder und Männer von solchen Bussen abgeholt. Sie waren Psychiatriepatienten oder Menschen mit Behinderung. Fahrtziel der Busse waren Tötungsanstalten wie Grafeneck auf der Schwäbischen Alb.

Wie ist Knitz auf das Thema gekommen? Seine Mutter habe ihm erzählt, dass graue Busse durch die Dörfer fuhren, berichtet der Künstler und Architekt. Damals habe es noch keine Umgehungsstraßen gegeben. Weil der Treibstoff knapp war, seien nur wenige Fahrzeuge unterwegs gewesen. Also müssen die grauen Busse aufgefallen sein, folgert Knitz: „Die waren ein bekanntes Bild zu dieser Zeit.“ Trotzdem habe keiner aufgemuckt. Und später habe man die Vorgänge verdrängen wollen.

Verdrängung begegnet einem überall in der Geschichte, bestätigt Frommlet: „Die Muster sind immer die gleichen.“ Unerträglich findet er, dass es in Ravensburg noch immer einen Petersweg gibt, benannt nach dem Rassisten und Gründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika, Carl Peters. Oder ein Denkmal für Kaiser Wilhelm - den „Inbegriff des deutschen Kolonialismus“.

Nach jedem der drei Gespräche gibt es kräftigen Applaus. Fast noch mehr Beifall bekommt Andieh Merk, der nach jedem Gespräch das Gesagte eindrucksvoll in Musik übersetzt.

Viermal im Jahr soll künftig im Theatercafé diskutiert werden. Den nächsten Talk gibt es am 30. November um 20 Uhr. Eingeladen sind Professor Wolfgang Ertel, Klimaaktivist und Leiter der Abteilung Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, Udo Gattenlöhner, Geschäftsführer des Global Nature Fund mit Sitz in Radolfzell, sowie Anneliese Schmeh, Bio-Bäuerin aus Überlingen-Lippertsreute.

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