hier Von Stefan Brunnhuber Schwäbische Zeitung 10.9.22
Stefan Brunnhuber ist Psychiater und Soziologe - Er plädiert angesichts der akuten Energie- und Preiskrise für ein Neudenken des gesellschaftlichen Zusammenlebens
Es ist Weihnachten, die Familie versammelt sich um den Esstisch. Zahlreiche Kerzen spenden Licht, wer Glück hat, dem spendet ein Kamin Wärme, man trägt in der guten Stube warme Festtagskleidung samt Pantoffeln. Was wie eine Szene aus bürgerlichen Romanen des 19. Jahrhunderts klingt, könnte in diesem Winter in deutschen Wohnzimmern so oder so ähnlich stattfinden: Die Preisexplosionen bei Strom und Heizung zwingen Menschen zum Sparen - für manche geht es um die Existenz. Verzichten müssen jedenfalls nahezu alle. In zwei Gastbeiträgen für die „Schwäbische Zeitung“ gehen renommierte Autoren der Frage nach, ob in diesem Krisenherbst und -winter auch Chancen für eine Neuverhandlung gesellschaftlichen Zusammenlebens liegen. Oder ob diese Monate eine Falle für die Freiheit sind.
Wir werden im Herbst mit großer Wahrscheinlichkeit die Heizung zurückdrehen müssen, weniger Auto und vielleicht mehr Fahrrad fahren oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Und vielleicht fangen wir auch an, Veggieburger zu essen, Insekten zu zählen und den Wasserverbrauch zu reduzieren. Aber mit diesen Einschränkungen geht eine grundsätzlichere Überlegung einher. Die anstehenden Krisen (Corona, Klima, Artenverlust) gehen nicht weg. Es wird dabei wenig helfen, dass wir jetzt die Luft anhalten, um dann wieder so weitermachen zu können wie früher.
Auch der Verweis auf eine V-, W- oder U-Kurve der ökonomischen Vernunft hilft hier nicht weiter.
Es sind im Kern auch gar keine Krisen im engeren Sinne, sondern Symptome einer Änderung im gesellschaftlichen Aggregatzustand. Wie Wasser einen festen, flüssigen oder gasförmigen Zustand einnehmen kann und der Phasenwechsel immer mit einer Veränderung in der Zuordnung der einzelnen Moleküle einhergeht, so ändert sich jetzt unser gesellschaftlicher Zustand und damit die Art, wie wir zusammen leben wollen grundsätzlich. .....
Stattdessen haben wir nicht einmal aufgeräumt (Vermüllung) und andere (globaler Süden, Natur, zukünftige Generationen) müssen dies nun bezahlen. Es drängt sich hier die Sozialfigur des vorsätzlichen Zechprellers auf. Wir sind dann die Generation, die sich chronisch verweigert, die Rechnungen für unser Wohlstandsmodell zu zahlen. Und jetzt, in den Wirren des Krieges, mutieren wir zudem zu einer Heuchler-Generation, die jahrzehntelang der ganzen Welt und vor allem dem globalen Süden die Geschichte der erneuerbaren Energie erzählt hat. Nun, wo es für uns selbst eng wird, bauen wir die Kohleindustrie aus und erschließen neue Ölquellen. Einfach so. So einfach ist es aber nicht, da wir uns nicht zumuten wollen, die richtigen Fragen zu stellen.
Die richtigen Fragen handeln von Grenzen unseres Zusammenlebens. Einmal äußere Grenzen, die man heute planetarisch nennt, innerhalb deren wir wirtschaften sollen und die uns gewissermaßen biophysikalisch vorgegeben sind: Nitratbelastung, CO2-Konzentration in der Atmosphäre, Wasserstress, Artenverlust und vieles mehr.
Über solche bio-physikalischen Gesetze kann man nicht verhandeln, sondern sie sind uns als Naturgesetze gegeben. Solche Grenzen gehen auch nicht weg, wir werden uns anpassen müssen. ...
Und dann gibt es innere Grenzen, bei welchen es um die Begrenztheit unseres Verstandes geht. Wir wissen alle viel zu wenig und müssen unter Unsicherheit und Zeitdruck in einer sich ständig verändernden Gesamtsituation fortlaufend Entscheidungen treffen. Da macht man Fehler. Revisionsoffenheit, Demut, Empathie, Vergebung, Fehlerfreundlichkeit und Kooperationsbereitschaft helfen dann weiter.
Wenn wir hier die richtigen Fragen stellen würden, würde eine davon lauten: Wer werden wir gewesen sein? - als Einzelperson sowie als Gesellschaft. Wir laufen gedanklich auf unser eigenes Ende zu, blicken zurück und fragen uns dann: Wer werden wir gewesen sein? Sind wir dann jene Generation, die als Heuchler und Zechpreller in die Geschichte eingegangen sein wird und die sich chronisch verweigert haben wird, Grenzen anzuerkennen, und stattdessen an das Märchen der ewigen Substituierbarkeit von Ressourcen und an die Unendlichkeit der Welt geglaubt zu haben? Oder sind wir jene Generation, welcher es gelungen sein wird, aus solchen existenziellen äußeren und inneren Grenzerfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen?
Grenzerfahrungen sind im Kern nämlich immer die Voraussetzungen für individuelle Freiheiten, schöpferischer Kreativität, Selbstwirksamkeit, Balance, Gesundheit, wirklicher Zufriedenheit und personaler Verantwortung. Gehen solche inneren und äußeren Grenzen verloren, wird das Leben nicht nur ungesund und irrational, sondern letztlich sinnlos. Man kann vielleicht sogar sagen: Grenzenlosigkeit ist eine Form der Realitätsverweigerung, ja der Psychose.
Und richtig ist sicherlich, dass wir unter diesen neuen planetarischen Grenzen unseren Wohlstand neu erwirtschaften müssen. Dazu gehört sicherlich eine Neubewertung der Globalisierung: Was geht nur global und was geht auch regional; Friendly Diversifikation etwa steht dafür, dass wir überlegen müssen, mit wem machen wir Geschäfte; Normative Positioning meint dann, dass wir unseren Handelspartnern die Frage zumuten dürfen: „Wie steht es um die Freiheit und um Menschenrechte?“
Innerhalb der planetarischen Grenzen werden wir das Verhältnis von dem, was Allgemeingüter sind und was wir nur privat besitzen wollen, neu aushandeln müssen. Wir werden uns zumuten müssen, dass Effizienz nicht alles ist, sondern dass auch Widerstandsfähigkeit oder Resilienz notwendig wird. Und vor allem werden wir uns darauf verständigen müssen, wie wir unser Geld-und Finanzsystem mit neuen Regeln und Anreizen versehen, damit die Transformation auch wirklich gelingt.
So entstehen im Transformationsprozess ständige Trade-offs, Widersprüche und Gegensätze, welche wir als neue Grenzen und neue Herausforderungen wahrnehmen. Solche Widersprüche gehen ebenfalls nicht weg, sondern werden, sobald sie versöhnt sind, in neue Widersprüche übergehen. Das ist zugegebenermaßen anstrengend, aber so sieht ein Leben innerhalb von Grenzen aus. Alles kommt auf den Tisch und alles kostet Geld. Der Klimawandel etwa zwei bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts, der Artenschutz global circa 1,5 Billionen Euro. Das ist viel Geld, aber nicht das Ende der Welt. Wir hatten ja gesagt, es geht um einen neuen gesellschaftlichen Aggregatzustand.
Während wir im 19. und 20. Jahrhundert gelernt haben, die soziale Frage auszuhandeln, haben wir währenddessen verlernt, uns an neue biophysikalische Grenzen anzupassen. Mit der Natur kann man eben nicht verhandeln.
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