Donnerstag, 6. Oktober 2022

Demographie: Putin und das Peak-Power-Syndrom

Sie rollt auch auf uns zu, die Mega-Welle Demographie. Und sie hat das Potential wirklich alles auszubremsen. Nur leider ist sie noch nicht genügend im Bewußtsein verankert  hier und hier.

Nun erschien dieser Bericht, ebenfalls mit dem Hinweis auf die Demographie, dieses Mal in Rußland und auch in China. Und für mich war das ein Aha-Moment, nachdem ich nach langen Monaten des Ukraine-Krieges noch immer darüber gegrübelt hatte: Warum hat Putin gerade jetzt mit dem Krieg begonnen? Das war für mich bisher nicht wirklich nachvollziehbar. 

Ein ganz neuer Blick auf das momentane Kriegs-Geschehen!

Spiegel hier  Eine Kolumne von Henrik Müller  25.09.2022

Demografie: Putin und das Peak-Power-Syndrom

Russland befindet sich im demografischen Niedergang, wie viele andere Länder auf dem Globus. Die Macht schwindet, die Führer fürchten den Abstieg – das macht sie noch gefährlicher.

In den kommenden 30 Jahren wird Russland rund ein Sechstel seiner Bevölkerung im erwerbs- und wehrfähigen Alter verlieren. Ähnlich geht es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weiter. Zusammengenommen wird Russland rund ein Viertel seiner aktiven Bevölkerung einbüßen, wie aus Projektionen der Vereinten Nationen hervorgeht, die vor Kriegsbeginn erstellt wurden.

Noch rascher schrumpft die Kopfzahl in China. Im Laufe dieses Jahrhunderts wird sich dort die Zahl der Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren nahezu halbieren. Wie in Russland, so schwindet der produktivere Teil der Bevölkerung auch dort bereits seit einigen Jahren, allerdings zunehmend schneller – eine Spätfolge der rigiden Ein-Kind-Politik früherer Jahrzehnte.

Die demografische Wende stellt alle betroffenen Länder vor enorme Herausforderungen, nicht nur Russland und China: Die Produktivität lahmt. Immer mehr Ressourcen müssen für Altersversorgung, Gesundheit und Pflege aufgewendet werden. Auch in Teilen der EU steht ein herber demografischer Abstieg bevor, zumal in östlichen Mitgliedstaaten. Nordamerika sagen die Uno-Experten ein weiterhin moderates Bevölkerungswachstum voraus. West- und Nordeuropa werden demografisch relativ stabil bleiben. Deutschlands Erwerbsbevölkerung immerhin hält sich seit Jahren auf hohem Niveau, dank Zuwanderung.

Eigentlich ist die Alterung von Gesellschaften eine gute Sache, denn sie ist ja Folge einer gestiegenen Lebenserwartung. Dass der Nachwuchs ausbleibt, ist schlicht Folge niedrigerer Geburtenziffern.

Die demografische Wende ist ein langsamer, absehbarer Prozess, der seit vielen Jahrzehnten im Gange ist. Staatliche Systeme lassen sich darauf vorbereiten. Bürger und ihre Arbeitgeber etwa können die Lebensphase des Arbeitens der verlängerten Lebenserwartung anpassen. Dieser Prozess ist zwar nirgends einfach, weil es unterschiedliche Interessen zwischen den einzelnen Alters- und Einkommensgruppen gibt, aber er lässt sich grundsätzlich managen.

Staaten mit imperialen Ambitionen stehen allerdings vor einer ganz anderen Kalkulation: Sie sind konfrontiert mit dem Peak-Power-Syndrom. Absehbar weniger Arbeits- und Wehrfähige bedeuten einen Verlust an Machtmitteln. Die Ressourcen schwinden, mit denen sich Großreiche errichten und konsolidieren lassen. Wer sich auf dem Höhepunkt seiner Macht wähnt, sieht sich von nun an mit einem langen relativen Abstieg konfrontiert. Die brachiale Durchsetzung der Herrschaftsansprüche wird künftig immer schwieriger. Führer, die ohnehin irgendwann loszuschlagen gedenken, stehen vor der Frage: Wann, wenn nicht jetzt?

Die Führungen in Moskau und Peking jedenfalls sind offenkundig zu dem Schluss gelangt, dass sie ihre imperialen Sphären gewaltsam ausweiten sollten, solange sie noch können – ob in der Ukraine, Zentralasien und künftig womöglich in Taiwan. Daheim bringen sie ein immer umfassenderes Unterdrückungsinstrumentarium gegen die eigene Bevölkerung in Stellung. Alternde Gesellschaften lassen sich das gefallen, weil ihnen kaum nach Aufruhr zumute ist.

Dass Wladimir Putin dieses Jahr zum Schlag gegen die Ukraine ausgeholt hat, lässt sich nicht nur erklären mit seinem fortgeschrittenen Lebensalter, der von ihm (fälschlicherweise) angenommenen Schwäche des Westens sowie der Attraktivität, mit der eine freie Ukraine seinen eigenen Autoritarismus alt aussehen lässt . Wie kein anderer vergleichbarer Staat leidet Russland am Peak-Power-Syndrom: Die Bevölkerung schrumpft, während das Wirtschafts- und Herrschaftssystem nahezu ausschließlich auf dem Verkauf von Öl und Gas fußt – klimaschädlichen Gütern, deren Verbrauch absehbar zurückgehen wird.

Wie wichtig Manpower ist, wenn man territoriale Eroberungsfeldzüge wie in längst vergangen geglaubten Zeiten führen will, erlebt Russland derzeit. Dort werden nun auf die Schnelle 300.000 Leute zwangsrekrutiert, überwiegend jüngere Männer, die wiederum in der Wirtschaft fehlen – und von denen viele Leben und Gesundheit in einem sinnlosen Krieg lassen werden. Paradoxerweise verschärft Putin den demografischen Niedergang, vor dem er sich fürchtet. Seit Kriegsbeginn hat Schätzungen zufolge eine sechsstellige Zahl von jüngeren Gutausgebildeten das Land verlassen. Nach der Ankündigung von Putins Mobilmachung gab es noch mal einen Run auf die Grenzen.

»Putin ist besessen von Demografie«

Wenn Russland schon vor diesem Krieg schwach dastand, dann wird es danach noch schwächer dastehen. Ebendiese Aussicht erschwert es Putin einzugestehen, dass er seine Kriegsziele nicht erreichen kann.

»Wie andere weiße Nationalisten auch, ist Putin von Demografie besessen und von der Angst getrieben, dass seine Rasse zahlenmäßig in die Minderheit geraten könnte«, schreibt der US-Historiker Timothy Snyder von der Yale-University. In einer groß angelegten Analyse  für die aktuelle Ausgabe des Außenpolitikfachblatts »Foreign Affairs« seziert er Putins krude »rassische Arithmetik«, der sein Krieg folgt: »Die ersten russischen Soldaten, die im Kampf getötet wurden, waren ethnisch gesehen Asiaten aus dem Osten Russlands, und viele, die seither gestorben sind, waren zwangsrekrutierte Ukrainer aus dem Donbass. Ukrainische Frauen und Kinder sind nach Russland deportiert worden, weil sie als assimilierbar gelten, als Leute, die als Verstärkung für die weiße russische Bevölkerung dienen können.«

Zugleich verfolge die russische Führung die Strategie, Afrika und Asien in Lebensmittelkrisen zu stürzen, weshalb der Rückgang der Getreidelieferungen aus der Ukraine bewusst einkalkuliert sei: »Nichts an diesem Hungerplan spielt sich im Verborgenen ab«, schreibt Snyder. Es liege alles offen zutage und werde auch so von den Propagandisten des Kremls benannt.

Reine, rohe Machtpolitik – ohne jedwedes Wertegerüst

Mit liberalen Vorstellungen von universellen Werten, Menschenrechten und friedlichem Interessenausgleich hat derartiges Gedankengut nichts zu tun. Es handelt sich um reine, rohe Machtpolitik, getrieben vom fatalistischen Glauben an einen Verdrängungskampf der Völker. Nach dem Motto: Es kann nur wenige Herrennationen geben. Die anderen werden assimiliert, unterjocht oder ausgelöscht. Doch eine derart menschenverachtende, wertelose Ideologie ist letztlich schwach – während Gesellschaften und Staatengemeinschaften, die über ein inneres Wertegerüst verfügen, enorme Kräfte mobilisieren können, wie die Ukraine seit Monaten in beeindruckender Weise zeigt –, aber zugleich umso gefährlicher: Wer nach dieser rassistischen Logik den Peak-Power-Moment verpasst, läuft Gefahr, selbst in die Unterjochung zu geraten.

In Putins TV-Mobilisierungsansprache Anfang der abgelaufenen Woche schwangen denn auch solche Untergangsfantasien mit, als er raunte, der Westen wolle Russland zerstören. Die perverse Lust am Spiel mit apokalyptischen Atomkriegsszenarien passt in diese eingebildete Vorstellungswelt von angeblich bevorstehenden Endkämpfen.

Andere Führer rund um den Globus schauen gerade sehr genau zu, ob – oder wie weit – Putin sich durchsetzt.

Indien überflügelt China

Ein Kernaspekt des Peak-Power-Syndroms ist die Ungleichzeitigkeit der demografischen Entwicklung. Während einige Länder nach wie vor stark wachsende Bevölkerungen haben, gehen andere Nationen auf Schrumpfkurs. Das bringt Machtverschiebungen und Spannungen mit sich, die in Kriege münden können......

Wer das Peak-Power-Domino verlieren wird

Die Beispiele zeigen: Potentaten rund um den Globus schauen Putin zu. Sollte er aus dem von ihm begonnenen Krieg so hervorgehen, dass er sich als Gewinner inszenieren kann, wären wohl nirgends mehr Grenzen sicher. Ein russischer Sieg wäre ein gefährlicher Präzedenzfall, dessen Bedeutung weit über Europa hinausreicht. In einer Welt zunehmender demografischer Ungleichgewichte stünden eine Menge Konflikte bevor, manche davon könnten mit Atomwaffen geführt werden.

Die Weltgemeinschaft wäre gut beraten, sich gegen dieses Szenario zu wappnen, indem sie gemeinsam Russland in die Schranken weist. Momentan machen die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer allein die Arbeit. Sie – beziehungsweise wir – tragen den überwiegenden Teil der menschlichen, militärischen und wirtschaftlichen Kosten. Der Westen versucht, eine internationale Ordnung zu erhalten, die dabei ist, unter die Panzerketten zu kommen. Die anderen schauen zu und versuchen sich opportunistisch zu bereichern, zum Beispiel durch den Kauf von billigem, weil sanktioniertem russischen Öl und Gas.

Im Kern ist es ganz simpel: Um ein Peak-Power-Domino zu verhindern, muss Russland diesen Krieg verlieren. Whatever it takes. Der Weg dahin allerdings ist alles andere als leicht. Wir erleben es gerade.


Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.


Spektrum hier - ein kleiner Ausschnitt

Minus Zweitausend pro Tag – Japans Traditionalismusfalle und Bevölkerungsimplosion

Eigentlich sollte ich mich als Wissenschaftler über das Eintreten von Prognosen ja freuen. Doch die “Zahl des Tages” in der Stuttgarter Zeitung vom 10. August 2022 verschlug mir dann doch kurz die Sprache: Die Bevölkerung von Japan war binnen eines Jahres um 726.000 Menschen geschrumpft – um nahezu 2.000 Menschen pro Tag, eine mittlere Kreisstadt pro Monat. Die japanische Bevölkerung von noch 125,9 Millionen Menschen schrumpft nicht mehr einfach, sie implodiert. Denn obwohl der Rekordzahl von 1,4 Millionen Verstorbenen nur noch 810.000 Geburten gegenüberstanden, öffnete sich die Demokratie nur zögerlich und wenig erfolgreich der Zuwanderung. Dringend benötigte Fachkräfte bevorzugen oft englischsprachige und Integration fördernde Länder gegenüber Japan oder Ungarn mit schwer zu lernenden Sprachen und lange abgeschotteten Kulturen. Und wie Felix Lill in “Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles” von 2017 aus Japan eindrucksvoll beschrieb, gibt es auch kaum ein Aufbäumen der (rapide schrumpfenden) jüngeren Jahrgänge dagegen. Die Covid19-Pandemie hat zudem das Schrumpfen auch in europäischen Ländern wie Italien, Spanien und Serbien beschleunigt

Der Politikwissenschaftler und Publizist Parag Khanna wurde 1977 in Kanpur, Indien, geboren, wuchs als Gastarbeiterkind in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, wirkte in Washington (USA) und London (UK), arbeitete für das Weltwirtschaftsforum WEF in Genf (Schweiz), für die US-Truppen im Irak und Afghanistan und war Richard-von-Weizsäcker-Fellow der Robert-Bosch-Stiftung in Deutschland. In seinem lesenswerten Buch Move. Das Zeitalter der Migration” (Rowohlt 2021) beleuchtet er die globalen Folgen der Klimakrise und des weltweiten Geburtenrückgangs dringlich, aber durchaus optimistisch. Zitat S. 415:

“Es liegt eine gewisse demographische Poesie darin, dass die Bevölkerungen unserer fortschrittlichsten Regionen von sich aus dahinschwinden, aber dynamisch aufgefüllt werden durch junge Menschen aus aller Welt.” 

Traditionalismusfalle und Verschwörungsmythen

Doch so einfach “poetisch” und glücklich-glucksend verläuft auch der Prozess der Bevölkerungsimplosion selbstverständlich nicht: Während viele Menschen auf der Nordhalbkugel eine gesteuerte und auch humanitäre Zuwanderung befürworten, sehen andere eine angebliche Weltverschwörung für einen Bevölkerungsaustausch (Great Replacement). Entsprechend erleichtern einige Staaten wie Kanada und Deutschland die Zuwanderung von Fachkräften, während etwa das schrumpfende Ungarn seinen Grenzzaun verstärkt und bewaffnete “Grenzjäger” uniformiert.

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Wie sollen ohne mehr junge Menschen etwa die Energie- und Wärmewende, Bildung und Verwaltungen, Gastronomie und Industriebetriebe, Medizin und Pflege oder auch etwa der Ausbau des ÖPNV gelingen? In wenigen Jahren wird Deutschland große Boomer-Jahrgänge in die verdiente Rente verabschieden – wo bleibt die Strategie für die jetzt schon fehlenden Arbeitskräfte, Menschen? Wer glaubt, er brauche nur individuelle Fachkräfte – und nicht etwa auch Familien mit Kindern – anwerben, hat wenig Ahnung von Demografie und sieht auch nicht den zunehmend harten, internationalen Wettbewerb um bereits Qualifizierte.

Denn hinter meine Prognose steckt die 2014 erstmals präsentierte These von der demografische Traditionalismusfalle:

Demnach würde 1. eine traditionalistische Familienpolitik die Kinderkosten vor allem für junge Frauen erhöhen und zu schnell sinkenden Geburtenraten führen. Dies würde 2. zu einer durchschnittlichen Alterung und wiederum der Stärkung traditionalistischer und nationalistischer Positionen in den unterjüngenden Gesellschaften führen. Daraus folgte 3. die Abwanderung vor allem jüngerer, gebildeter und kritischer Menschen – was wiederum die Faktoren 1. und 2. verstärkt.

Von der Traditionalismusfalle sehe ich dabei nicht nur Demokratien wie Japan, die Schweiz oder Italien betroffen – sondern sogar noch stärker autoritäre Regime wie Russland, Iran, die Türkei / Türkiye, Ungarn, Taliban-Afghanistan und das noch riesige wie demografisch und wirtschaftlich kippende China. Hier fördern die autokratischen Regierungen die Abwanderung kritischer In- und Ausländer sogar noch. An die Stelle der früher gefürchteten, kriegerisch-expansiven Youth Bulge/Jugendberg-Gesellschaften treten damit ergrauende, schrumpfende, aber genau deswegen sehr aggressive Nationalismen. Umgekehrt profitierte zum Beispiel Großbritannien demografisch von den Vertreibungen kritischer Menschen aus Hong Kong, ebenso wie Deutschland von den Ortskräfte-Evakuierungen aus Afghanistan. Wer europäische Sprachen spricht und sich den autoritären Regimen nicht beugen will, trägt häufiger zu Arche-Regionen bei....

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