Freitag, 28. Oktober 2022

"Wollen wir aufgeben, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel verpassen?"

 NTV  hier  14.07.2022

Das Positive am Klimawandel 

Italien ruft wegen Dürre Notstand im Norden aus, etwa 811 Millionen Menschen leiden weltweit Hunger, Waldbrände zerstören eine Million Hektar Land in den USA, der Amazonas verliert seine Widerstandskraft - der Klimawandel produziert vor allem Horrormeldungen und "erstickt unseren Planeten". Doch warum sollten wir uns an der Energiewende beteiligen, aufs Fliegen und Autofahren verzichten und unseren Fleischkonsum reduzieren, wenn die Welt eh zugrunde geht? Weil das nicht passiert, selbst wenn wir das 1,5-Grad-Ziel verpassen - diese Botschaft wollen Kalina Oroschakoff und die "Neue Zürcher Zeitung" mit dem Newsletter "Planet A" verbreiten. "Denn die Energiewende bringt in sich selbst auch viel Positives mit", erzählt die Journalistin im "Klima-Labor" von ntv.

ntv.de: "Planet A" soll neugierig, nüchtern, aber ohne Apokalyptik über den Klimawandel informieren. Warum diese Betonung der Apokalypse?

Kalina Oroschakoff: Das ist die Herausforderung. Der Klimawandel wird derzeit für viele Menschen erlebbar und nicht nur in Deutschland zu einer Bedrohung. Auf der ganzen Welt geschehen unheimliche Dinge. Gleichzeitig bewegt sich aber auch sehr viel im Kampf gegen den Klimawandel. Da wollten wir ansetzen: uns mit diesem Thema auseinandersetzen, ohne dass der Fokus ausschließlich auf dem Negativen liegt.

Auf dem Ende der Welt?

Ja. Wir haben uns gefragt, ob die Welt untergehen wird. Ich sage, nein. Viele andere sagen, nein. Das halte ich für wichtig, weil sich in den letzten Jahren sehr viel bewegt hat. Deswegen konzentrieren wir uns auf diesen Umbau zu einer klimaneutralen oder klimafreundlichen Wirtschaft. Das heißt nicht, dass keiner mehr über die Apokalypse schreiben soll oder kann. Nur wollen wir eben einen Schwerpunkt auf Lösungen und Veränderungen legen.

Und ihr seid der Meinung, dass wir eventuell einzelne Ziele verpassen, den Klimawandel insgesamt aber erfolgreich meistern werden?

Wir haben uns im Rahmen des Pariser Klimaabkommens dazu verpflichtet, die Erderwärmung auf weit unter 2 Grad zu beschränken. Wenn möglich, sogar auf 1,5 Grad. Darauf lag in den letzten Jahren der politische Fokus. Auch, weil die IPCC-Berichte deutlich machen, was in vielen Regionen für Schäden drohen, wenn wir sie nicht erreichen - wirtschaftlich, menschlich und sozial. Die Daten zeigen aber leider, dass wir als Weltgemeinschaft noch nicht auf Kurs sind. Wie geht man damit um? Betrachten wir die 1,5-Grad-Marke als grobe Zielrichtung und drängen auf weitere Bemühungen, auch wenn wir sie verpassen? Oder sagen wir, wir können aufgeben?

Wir sind verloren.

Genau. Das ist ein politisches Risiko, das debattiert und besprochen werden muss, denn Wähler, Menschen, Alte und Junge können nachvollziehen, dass Ziele eine Richtung vorgeben, aber natürlich bewegt werden müssen.

Selbst wenn wir das Ziel verpassen, geht die Welt nicht automatisch unter - das ist die Botschaft?

Ja, das Unterfangen wird dadurch nicht weniger wertvoll oder richtig.

Bei diesem Ansatz klingt der Vorwurf mit, dass man in den Medien bisher vor allem die apokalyptische Katastrophenberichterstattung über den Klimawandel findet.

Vorwurf würde ich das nicht nennen. Aber ich habe vorher für ein amerikanisches Medium in Europa geschrieben. Und aus der Ferne kann man schon beobachten, dass in Deutschland manchmal der Hang dazu existiert, das Ende der Welt hochzustilisieren.

Gleichzeitig gibt es aber den Vorwurf, man würde die Klimakrise verharmlosen, wenn man zum Beispiel über große Hitze berichtet und dafür Bilder aus dem Freibad nutzt oder von Menschen, die die Sonne genießen.

Das frage ich mich auch immer: Welche Fotos vermitteln diese Geschichte? Wählt man den brennenden Wald, die ruhige Seenplatte oder doch eine Dürre, um das Ganze greifbar zu machen? Ich hoffe aber, dass in naher Zukunft nicht nur Klima-, Umwelt- oder Wissenschaftsjournalisten den Klimawandel begleiten, sondern auch Kolleginnen und Kollegen aus Politik und Wirtschaft. Das merkt man auch schon. Dann hätte man eine mannigfache und diverse Berichterstattung über die vielen Aspekte, die der Klimawandel und die steigenden Temperaturen mit sich bringen.

Bilder sind das eine, aber es gibt auch die Wortwahl. Sagt man Klimawandel oder Klimakrise? Ihr wollt lieber über den Wandel berichten, weil die neue Welt vielleicht besser als die alte ist? Andererseits handelt es sich aber auch um eine Krise, die man benennen muss.

Mit "Wandel" ist gemeint, dass sich die EU verpflichtet hat, bis 2050 klimaneutral zu werden. Das ist eine Riesenaufgabe. Diese Transformation bringt in sich selbst viel Positives mit. Auch Umweltaktivisten, Politiker, Ökonomen und Unternehmen sagen, dass der Umstieg von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare und klimafreundliche Alternativen Vorteile bringen kann.

Ansonsten sollte man individuelle Ereignisse als Krise bezeichnen. Extremwetterereignisse etwa, die ja zunehmen. Bei Hitzewellen sagen Wissenschaftler ganz klar: Es gibt keine Frage mehr, dass sie durch den Klimawandel intensiver und wahrscheinlicher geworden sind. Gewisse Ereignisse sind fast schon Kriegsjournalismus, weil man in zerstörte Regionen fährt. In Deutschland hat man das im Ahrtal erlebt. Das sind Katastrophen, die man beschreibt. Der Klimawandel an sich aber ist ein langer Prozess, der nicht aufhört und sich über viele Jahrzehnte mit Unsicherheiten und Unklarheiten ausdrückt. Deswegen würde ich diese Unterscheidung machen.

Der Klimawandel hat keinen festen Startpunkt und kein festes Ende?

Er wird uns unser ganzes Leben lang begleiten und beschäftigen.

Wird diese Art der Berichterstattung denn angenommen?

Es werden in den letzten Monaten immer mehr Leser, das freut uns sehr. Anfangs haben wir nur für das deutsche Publikum geschrieben, jetzt auch für die Schweiz. Es kommen also auch Schweizer Leser und Schweizer Themen dazu. Dieser breitere Blick ist natürlich spannend, weil man vergleichen kann, was in Deutschland und anderen Ländern passiert. Auch die Reaktionen der Leserinnen und Leser nehmen zu. Das nimmt manchmal unterhaltende, aber auch kritische Formen an.

Hast du ein Beispiel?

Es gibt natürlich auch in Deutschland weiterhin hartnäckige Gruppen, die finden, dass der Klimawandel nicht menschengemacht ist.

Also lesen sie "Planet A" und schreiben dann, dass das so nicht stimmt?

Anscheinend. Interessant finde ich aber, dass sich auch diese Menschen offensichtlich mit den Themen beschäftigen und sich engagieren. Es gibt auch viele, die verwirrt sind. Die schreiben sozusagen, dass ihnen vor zehn Jahren diese oder jene Technologie als Lösung präsentiert wurde und fragen jetzt, warum das nicht mehr stimmt.

Ja. Und dann fragen sie aufs eigene Leben bezogen sozusagen: Was mache ich denn jetzt? Die Leute sind ja nicht blöd oder blind. Sie verstehen, dass sich die Welt verändert, aber sie erwarten auch, dass Politik und Gesellschaft klare Signale setzen. Das ist auch ein spannendes Thema: Welche Regierung mutet welcher Gesellschaft welche Signale zu? Was passiert in Deutschland? Welche Ziele setzt sich die EU? Was machen Frankreich und Finnland?

Gibt es denn erkennbare Unterschiede zwischen EU, Deutschland und der Schweiz?

Bei der EU ist das Schöne, dass 27 Perspektiven und 27 Argumentation aufeinandertreffen und man 27 Kämpfen zuschauen kann. Gerade Deutschland hat in den letzten Jahren sehr mit sich gerungen, weil man sich medial zwar immer als großer Klimaweltmeister präsentierte. Aber das stimmt natürlich nicht. Das ist Nonsens.

Wer ist denn Weltmeister? Oder Europameister?

Finnland vielleicht? Das hat sich das ambitionierteste Ziel gesetzt, die Finnen wollen bis 2035 Kohlenstoff-neutral sein. Das ist schon in 13 Jahren. Auch Österreich und Deutschland sind relativ gut dabei mit 2040 und 2045. Aber gerade Deutschland hat auf EU-Ebene ziemlich lange gezaudert, ehe man der Klimaneutralität bis 2050 zugestimmt hat. Das kriegt man in Brüssel mit, wenn man viele Jahre vor den Verhandlungssälen rumsitzt und wartet, bis um 4 Uhr morgens endlich ein Ergebnis verkündet wird. Aber wenn Politiker müde sind, sind sie oft auch etwas ehrlicher und reden Tacheles. Dann erfährt man, auf wie viele unterschiedliche Arten Deutschland Regelungen geblockt hat.

Wie beim Verbrenner-Aus?

Ja, total. Es gibt einfach Menschen, die wollen Pioniere sein, den Wandel antreiben und mitgestalten. Und es gibt andere, und dazu würde ich Deutschland zählen, die vorsichtiger und ängstlich sind und erstmal abwarten wollen, was passiert und lieber bremsen. Im EU-Gefüge kann man das natürlich die ganze Zeit beobachten. Ich persönlich halte Angst aber für einen schlechten Ratgeber - wirtschaftlich, politisch und persönlich. Aber es wird spannend sein, zu sehen, wie sich das Kräftemessen innerhalb der Ampel-Koalition und in der breiteren Politiklandschaft entwickelt.

Und auf globaler Ebene? Gibt es eine Entwicklung, die dich positiv überrascht hat?

Sehr spannend fand ich die Wahl in Australien, weil Australien auf der internationalen Ebene lange ein Bremser unter den Industriestaaten war. Im Mai wurde die konservative Koalition von Scott Morrison abgewählt, richtig abgewatscht. Ein großes Thema dieser Wahl war der Klimawandel, denn in den vergangenen Jahren waren viele Wähler von unglaublichen Fluten betroffen.

Auch von Waldbränden oder Buschbränden.

Genau. Die Bilder sind um die Welt gegangen. Aber viele Menschen hatten den Eindruck, dass die australische Regierung nichts unternimmt. Es gab keine Pläne. Stattdessen wurde gebremst, um Interessen zu schützen. Zum Beispiel von der Kohleindustrie. Und dann wurden die alten Konservativen auch in den wohlsituierten Gegenden von Sydney und Melbourne abgewählt.

Dann war der Treiber der Abwahl aber der Blick auf die apokalyptischen Zustände, oder? Nicht der positive Wandel ...

Ich habe darüber mit Investoren, Wissenschaftlern, Vertretern von Energieunternehmen und vielen anderen gesprochen. Sie haben immer beide Argumente genannt. Aber es war vor allem eine wirtschaftliche Frage: Die großen Absatzmärkte von Australien liegen in China, Südkorea und anderswo im asiatischen Raum. Irgendwann sind die Rohstoffe, auf denen Australien sitzt, aber nicht mehr so relevant und lukrativ wie jetzt. Deswegen gab es Druck der Wirtschaftsverbände, sich zur Klimaneutralität zu verpflichten. Sie wollen die Chance nicht verpassen, mit erneuerbaren Energien, grünem Stahl oder Wasserstoff Geld zu verdienen.

Sie wollten nicht die Letzten sein?

Genau, niemand will das globale Wettrennen um neue Märkte verlieren. Irgendwer wird diese bestimmen, dominieren und technologischer Vorreiter sein.

Mit Kalina Oroschakoff sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet worden.

Klima-Labor von ntv

Was hilft gegen den Klimawandel? "Klima-Labor "ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Aufforsten? Verschärft Probleme. CO2-Preise für Verbraucher? Unausweichlich. Windräder? Werden systematisch verhindert.

Das Klima-Labor - jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert und aufräumt. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: Audio Now, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen