Frankfurter Rundschau hier 21.10.2022 Von: Olivia Mitscherlich-Schönherr
Wachstum und Klimakatastrophe
Aber trotz aller Einbußen hätten wir viel zu gewinnen.
Growth, growth and growth“ – so deutlich wie kürzlich Liz Truss hat schon lange niemand mehr die Glücksformel des Kapitalismus verkündet. Wirtschaftswachstum sollte die ökonomischen Projekte tragen, die Liz Truss nach Kritik der Märkte schließlich das Amt als Premierministerin gekostet haben. Allerdings steht auch im Zentrum des „Fortschritts“, den die deutsche Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag „wagen“ will, Wirtschaftswachstum: „grünes Wachstum“. In der Zivilgesellschaft scheint sich jedoch Widerstand zu regen. Nicht zuletzt angesichts der Klimakatastrophe glauben insbesondere viele Klimaaktivist:innen nicht mehr recht an die kapitalistischen Glücksversprechen.
Das neue Buch der Ökonomin und „taz“-Journalistin Ulrike Herrmann, „Das Ende des Kapitalismus“, hilft, über die anstehende Systemfrage differenziert zu diskutieren. Zunächst lässt sich von Ulrike Herrmann lernen, dass man es sich nicht leichtmachen sollte mit der Kritik an der kapitalistischen Marktwirtschaft und ihrer Wachstumsorientierung. Ohne bestehende Ungleichheiten zu leugnen, führt Herrmann die zivilisatorischen Fortschritte vor Augen, die die kapitalistische Wachstumswirtschaft ermöglicht hat. Im globalen Norden konnten Hunger und Epidemien überwunden und breiter Wohlstand, allgemeine Bildung, Gleichberechtigung und Demokratie erreicht werden. Aber auch weltweit seien enorme Erfolge bei der Bekämpfung von Armut und Krankheiten sowie beim Zugang zu Elektrizität erzielt worden. Mit anderen Worten: Truss hatte recht, Wirtschaftswachstum als eine Quelle allgemeinen Wohlstands zu verstehen – und dies nicht nur für kleine gesellschaftliche Eliten und auch nicht nur in den wirtschaftlichen Zentren der Welt.
Herrmanns Buch führt darüber hinaus vor Augen, dass sich Ekel vor Truss’ pöbelhafter Wachstumsgier verbietet. Die Volkswirtin Herrmann lässt nämlich den Traum vieler Linksliberaler von einem kapitalistischen Stagnieren platzen: dass wir dem kapitalistischen Wachstum in der Vergangenheit viel zu verdanken haben, uns jetzt aber mit dem Erreichten zufriedengeben sollten. Im Kapitalismus wird dem Markt nicht nur die Distribution der produzierten Waren, sondern auch die Verteilung der Ressourcen und der erzielten Gewinne überantwortet.
Herrmann zeigt, dass dieses dynamische System nur zwei Optionen zulässt: Spiralen des ökonomischen Wachsens oder Schrumpfens. In den Aufwärtsspiralen greifen Produktion, Beschäftigung, Konsum, Ressourcenverbrauch ineinander; in Abwärtsspiralen Ressourcensparen, Arbeitslosigkeit, Produktions- und Konsumeinbrüche. Ein Aussteigen, das sich ressourcenschonend bei Konsum und Produktion mit dem Erreichten zufriedengibt, müsse notwendigerweise in Rezessionen kippen – und das heißt unter den Bedingungen des kapitalistischen Marktes: in Massenarbeitslosigkeit und Armut in all ihren Aspekten von Bildungsausfall über Ausbeutung bis zum Rückgang der Lebenserwartung für die breite Bevölkerung.
Und noch in einem weiteren Punkt muss man der ehemaligen britischen Premierministerin auf der Grundlage von Herrmanns Analyse recht geben: dass sie im Unterschied zur deutschen Bundesregierung nicht von „Green Growth“ gesprochen hat – und das nicht nur, weil „Green Growth, green growth and green growth“ ein Zungenbrecher ist. Nüchtern rechnet Herrmann vor, dass sich der Traum, auf den sich die bürgerlichen Parteien unseres Landes geeinigt haben, auf absehbare Zeit nicht realisieren lässt: Wirtschaftswachstum von der Nutzung fossiler Energien zu entkoppeln.
Mit all der Sonnen- und Windenergie, der Wasser- und Kernkraft, der Energie aus Biomasse und den technologischen Möglichkeiten des Einsparens und Speicherns von Energie lasse sich billige Ökoenergie nicht in dem Umfang gewinnen, den wirtschaftliches Wachstum benötigt.
Unter den aktuellen technologischen Bedingungen ist klimaneutrales Wirtschaftswachstum eine Schimäre. Ökonomisches Wachstum bleibt auf die Nutzung fossiler Energien angewiesen und damit zerstörerisch fürs Klima. Da die kapitalistische Marktwirtschaft auf Wachstum gestellt ist, kann es unter den aktuellen technischen Bedingungen keinen grünen Kapitalismus geben. Die kapitalistische Verteilung von Ressourcen und Gewinnen bleibt auf absehbare Zeit gift-gelb.
Herrmanns nüchterne Analyse konfrontiert mit der zentralen politischen Frage der Gegenwart: ob angesichts der Klimakatastrophe an der kapitalistischen Ordnung des Marktes festgehalten werden soll. Dabei ist es entscheidend, die Frage realistisch zu stellen und auf apokalyptische Dystopien zu verzichten. Mit Rücksicht auf die aktuellen Einsparmaßnahmen vieler Staaten gehen seriöse Klimawissenschaftler:innen von einer Erderwärmung von „nur“ 2 Grad bis 2050 aus. Global ist dies eine Erdkatastrophe, die von zahlreichen Kipppunkten – beim Permafrost, Regenwald, dem Artensterben – begleitet sein wird.
Im Unterschied zu ärmeren Regionen der Welt wird für Europa zwar eine Zunahme an Hitze und Trockenheit, jedoch kein Wiederauftreten von Hungersnöten erwartet. Aus europäischer Perspektive tun sich damit zwei Optionen auf. Die europäischen Regierungen haben sich der kapitalistischen Option verschrieben. Genauso wie die Ampel wird auch die künftige britische Regierung weiterhin auf Wachstum und Wohlstand setzen, dies militärisch angesichts zunehmender Klimakriege und Migration absichern und auf den Kapitalismus als Motor der Technologieentwicklung hoffen – damit das Wachstum immer grüner wird, was zwar für viele Menschen in den armen Ländern zu spät kommt, aber vielleicht nicht für unsere eigenen Kinder.
Im Wissen um die Errungenschaften der Wachstumswirtschaft votiert Herrmann für die Alternativoption: in den wirtschaftlichen Zentren der Welt auf ökonomisches Schrumpfen umzustellen, um die Bewohnbarkeit der Erde für alle Menschen zu erhalten. Dabei geht sie für Deutschland von einem erforderlichen Rückgang der Wirtschaftsleistungen um mindestens 30 Prozent aus, um Klimaneutralität zu erreichen – was deutlich spürbare Wohlstandseinbußen zur Folge hätte. Zu erwarten wäre kein Rückschritt in die Steinzeit, wohl aber in ein Wohlstandsniveau der 1970er Jahre.
Über die Systemfrage muss öffentlich diskutiert werden – geht es doch darum, worin wir als Gesellschaft unser Glück finden wollen. Wie glücklich macht uns die aktuelle Wachstumsordnung noch? Auf welche Formen des Glücks wollen wir künftig um ihretwillen verzichten? Wie sieht es mit dem Glück eines reinen Gewissens aus, um das wir uns bringen, indem wir in den wirtschaftlichen Zentren die Erde für Menschen in armen Regionen und für die kommenden Generationen unbewohnbar machen? Wie steht es um das Glück der Muße, für die unter den Bedingungen kapitalistischer Beschleunigung allzu oft die Zeit fehlt? Und wie halten wir es mit dem Glück demokratischer Entscheidung über zentrale Fragen des geteilten Wirtschaftens, die aktuell den Marktgesetzen überantwortet werden? Und umgekehrt: Zu welchen Einschnitten beim Wohlstand wären wir fürs Klima bereit? Und wollen wir auch dann auf das kapitalistische Wirtschaftswachstum mitsamt all seinen Annehmlichkeiten verzichten – wenn es andere Nationen nicht tun: China, Indien? Vielleicht in gesamteuropäischen Kontexten?
All diejenigen, die für eine Postwachstumsgesellschaft eintreten, konfrontiert Herrmann mit einer weiteren zentralen politischen Frage: der Frage nach ihrer konkreten Umsetzung. Zwar wurden in den letzten Jahren viele gute Vorschläge für Formen eines nicht wachstumsorientierten Wirtschaftens gemacht; der Weg der gesellschaftlichen Erneuerung wurde dabei jedoch meist übersprungen.
Dies wundert nicht: betroffen sind zentrale Freiheitsvorstellungen. Herrmann tritt selbst für eine klimaneutrale Planwirtschaft ein, die die Verteilung der Ressourcen und den Konsum nicht mehr dem Markt überlässt, sondern politisch steuert. Dabei orientiert sie sich an der britischen Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkrieges, in der zentrale Fehler der sowjetischen Planwirtschaft vermieden worden seien. In Anschluss an die britische Kriegswirtschaft will sie freie Wahlen und das Privateigentum an Unternehmen erhalten und nur den Konsum und die Produktion politischer Lenkung überantworten. Gleichwohl wären die Einschnitte aus der politischen Planung von Konsum und Produktion nach Maßgabe natürlicher Regenerationszyklen tiefgreifend. Nach Hermann würden bestimmte Konsumverhaltensweisen unterbunden, ganze Branchen wegfallen, viele Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, so dass sie auf staatliche Absicherung angewiesen wären. Zu Recht unterstreicht Herrmann allerdings mit Blick auf die breite Unterstützung für die Kriegswirtschaft in der britischen Gesellschaft, dass solche Einschnitte in der Öffentlichkeit nicht als Verletzung individueller Freiheitsrechte erfahren werden müssen.
Herrmanns klimapolitische Planwirtschaft gefährdet nicht die individuellen Freiheitsrechte, wohl jedoch Spielräume demokratisch-politischer Freiheit. In ihrer Orientierung an der britischen Kriegswirtschaft kann Herrmann politisches Planen nur als staatliches Planen denken. In den Bahnen des aktuellen Repräsentationssystems läge die staatliche Planung bei Expert:innen aus den politischen Parteien und den Wissenschaften.
Gegen solche Planung würde sich aber wohl die Entfremdung breiter Bevölkerungsteile vom Repräsentativsystem geltend machen. Zu Recht würden wohl nur wenige Bürger:innen den politischen und gesellschaftlichen Eliten zugestehen, an ihrer Stelle über die tiefen Einschnitte in ihre private Lebensführung zum Wohle des Klimas zu entscheiden. Parteien, die sich den Willen zu staatlicher Planwirtschaft ins Programm schrieben, würden kaum gewählt – wie auch Herrmann eingesteht.
Allerdings ließe sich das klimapolitische Planen auch auf demokratischere Weise umsetzen. Ökonomische Erneuerung wäre dann zusammen mit demokratisch-politischer Erneuerung umzusetzen. Die repräsentative Demokratie mit ihren oligarchischen Tendenzen wäre durch ein breites Spektrum politischer Partizipation zu ergänzen. Der Klima-Bürger:innen-Rat, der im letzten Jahr auf Bundesebene gearbeitet hat, hat nämlich gezeigt: Bürger:innen sind sehr wohl zu grundlegenden Einschnitten zugunsten des Klimas bereit – wenn sie denn direkt an der Analyse und Gestaltung der gesellschaftlichen Umstellungen beteiligt sind. In all den Wohlstandseinbußen hätten wir viel zu gewinnen: nicht nur den Erhalt stabiler Erdzyklen, sondern auch neuartige Möglichkeiten demokratischer Selbstgesetzgebung, die gegenwärtig noch nicht offenstehen.
Olivia Mitscherlich-Schönherr lehrt Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens an der Hochschule für Philosophie in München.
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