Soziologe Philipp Staab über Klimakrise in der TAZ hier
Wir sollten aufhören uns vorzugaukeln, dass wir in Zeiten des Fortschritts leben und uns eher den Problemen der Klimakrise widmen, sagt Philipp Staab.
wochentaz: Herr Staab, die Ampel hat ihren Koalitionsvertrag mit „Mehr Fortschritt wagen“ überschrieben. Ist Fortschritt noch ein brauchbares Konzept?
Philipp Staab: Nein. Und die Ampel ist ein gutes Beispiel, dass der klassische Fortschrittsbegriff nicht mehr aufgeht. Sie ist ja rasant zu einer Regierung der Anpassung geworden. Zuerst zwang die Pandemie zur Anpassung, dann taten das Krieg und Energiekrise. Politik funktioniert zunehmend reaktiv. Der Fortschrittsbegriff beinhaltet aber die ständige Perfektionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und das Versprechen: Die Zukunft ist offen, und wir können sie beschreiben wie ein weißes Blatt. Das ist vorbei.
In den 1980er Jahren wurde der Fortschritt schon mal verabschiedet, kam dann aber als alltagspraktische Erfahrung mit digitaler Technik wieder. Ist Fortschritt nicht eher ein Zombie – eine Figur, die nie ganz verschwindet?
Das große Bild ist anders. Soziologische Studien und Umfragen zeigen, dass die Leute sich zwar die Verbesserung ihrer Zukunft und persönlichen Position erhoffen, aber nicht mehr an die Verbesserung der gesellschaftlichen Zukunft glauben. Das kann man Zombie-Fortschritt nennen.
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat einen um die Erfahrung des Verlusts erweiterten Fortschrittsbegriff vorgeschlagen. Ist der brauchbar?
Die Frage bleibt: Was kommt denn nach der Akzeptanz des Verlustes? Antwort: Die Anpassung an das, was für die Selbsterhaltung der Gesellschaft nötig ist. Den Verlust zu betrauern, reicht nicht. Das große Menetekel ist der Klimawandel. Auch die Pandemie hat gezeigt, dass die moderne Gesellschaft ihre Steuerungsfähigkeiten überschätzt hat. Deswegen sollten wir aufhören, uns vorzugaukeln, wir würden noch in der Ära des Fortschritts leben. Das tun wir nicht. Wir leben in der Ära der Anpassung. Diese Anpassung ist nicht passiv, sie erfordert Handlungsfähigkeit. Psychoanalytisch ausgedrückt geht es darum, nach der Trauer das Realitätsprinzip zu akzeptieren und die Stärken des Ichs zu entfalten.
Wenn wir den Fortschritt beerdigen, fragt sich: Was wird aus der Selbstverwirklichung, die zum gesellschaftlichen Ideal geworden ist? Muss die mit ins Grab? Also mehr Gemeinschaft und Wir, weniger Freiheit und Ich?
In diesen ausgetretenen Pfaden der Alltagsrhetorik wird ein Gegensatz aufgemacht, der so nicht existiert. Die liberale Selbstbeschreibung dieser Gesellschaft lautet: Selbstverwirklichung ist das Kernversprechen, das dafür sorgt, dass Menschen begeistert mitmachen. Ich bezweifle das. Die kritische Soziologie erfasst weniger emphatische Selbstverwirklichung als Pathologien der Selbstentfaltung. Seit den 1980er Jahren wächst die Ungleichheit. Soziale Aufstiege werden prekärer, individuelle Positionen unsicherer. Es gibt zwar in der Arbeits- und Lebenswelt mehr Freiräume, die als Gewinn erlebt werden, aber auch als massiver Druck. Deshalb nehmen Erschöpfungssyndrome und Depressionen zu. Die Gesellschaft produziert permanent Selbstverwirklichungsüberforderungen.
Will sagen: Weniger Selbstverwirklichung ist eigentlich mehr Freiheit?
Ja, vielleicht. Zentral ist erst mal: Nachdem die Gefahr eines Atomkriegs aus der Welt geschafft schien, haben wir uns der Illusion hingegeben, dass es keine systemischen Selbsterhaltungsprobleme mehr gibt. Das war ein Irrtum. Die Frage der individuellen Selbstverwirklichung ist angesichts der Bedrohungen durch den Klimawandel zweitrangig. Selbsterhaltung kann nur als kollektives Projekt gelingen. Die konsumzentrierte Entfaltung der Einzelnen wird dahinter zurücktreten.
Also gibt es in der Gesellschaft der Anpassung keine Influencer mehr?
Nicht als Verbot, sondern als Reaktion. Als alle Angst vor Corona hatten, hat sich jedenfalls niemand für Influencer interessiert. Ich glaube aber, dass es in der Gesellschaft der Anpassung mehr kollektive Freiheiten geben wird. Kann ich eine Geschichte erzählen?
Gewiss.
Ich war kürzlich in Südkorea. Nach dem Koreakrieg war der Süden massiv entwaldet. In den 50er und 60er Jahren gab es eine Reihe von Fluten wie im Ahrtal, mit vielen Opfern. Und danach, zu Zeiten der Militärdiktatur, ein gigantisches Wiederaufforstungsprojekt, an dem die halbe Gesellschaft beteiligt war. Am Wochenende haben Eltern mit ihren Kindern Setzlinge gepflanzt. Südkorea ist heute dichter bewaldet als China, Indien oder das historische Europa. Ich habe in Südkorea kritische Soziologen getroffen, die als Studenten gegen das Militärregime rebellierten und unverdächtig sind, es zu glorifizieren. Ich habe sie nach diesem Wiederaufforstungsprojekt gefragt, und die Antwort war erstaunlich. Sie haben sich angesehen und ein Lied angestimmt, das sie immer sangen, wenn sie mit Eltern, Lehrern, Klassenkameraden Bäume gepflanzt haben. Das war eine Erfahrung kollektiver Freiheit und Mobilisierung.
Was bedeutet das für uns?
Man kann da über viel nachdenken – etwa das Technischen Hilfswerk zu einem Friedenskorps der Anpassung zu machen, bei dem, wer freiwillig hilft, massiv Steuern spart. Mir scheint auch Steinmeiers Idee der Pflichtdienste im Kern richtig zu sein.
Die Antwort auf die Klimakrise kann auch anders ausfallen. Wir leben weiter wie bisher, stoßen etwas weniger CO2 aus und investieren viel Geld in Maßnahmen, die die Folgen des Klimawandels mildern. Was spricht gegen diese egoistische Variante von Anpassung?
Es ist denkbar, dass sich Gesellschaften massiv nach außen befestigen und die Party solange feiern, wie es geht. Das ist offen. Die adaptive, solidarische Gesellschaft wird kein Paradies werden, aber sie bietet Chancen.
Inwiefern?
Menschen suchen in Krisen sinnhafte Formen politischer Lebensführung, die ihnen die Möglichkeit geben, nicht hilflos zu sein. Ich habe für mein Buch „Anpassung“ Interviews mit systemrelevanten Menschen wie Krankenpflegern, Polizisten und Polizistinnen und Erzieherinnen geführt – also den Experten und Expertinnen der Anpassung, die arbeiten gingen, als alle anderen während der Pandemie zu Hause blieben. Das Ergebnis: Sie fordern drei Dinge. Es soll weniger Ungleichheit geben. Das heißt nicht unbedingt: Ich brauche mehr Geld, sondern es soll insgesamt in der Gesellschaft gerechter zugehen. Dass Jeff Bezos als Krisengewinnler Milliarden verdient, während viele Menschen während der Pandemie im Krankenhaus das Risiko tragen, gilt als ungerecht. Zweitens: Es geht nicht, dass im Krankenhaus die Wände schimmeln und der Putz von der Decke fällt. Das ist eine Kritik an der profitorientierten Gestaltung von Gesellschaft. Der dritte Punkt ist eine Kritik des individuellen Egoismus und der Wunsch nach klarer politischer Steuerung von oben. Das ist kein neuer Autoritarismus, sondern der Wunsch nach funktionalen Hierarchien als Bedingung dafür, dass der Alltag der Anpassung gelingt. Weniger Ungleichheit, weniger Kapitalismus, mehr politische Steuerung.
Klingt nach linker Sozialdemokratie. Aber bleibt die Gesellschaft der Anpassung eine Demokratie? Oder wird sie eine Autokratie, wie es Südkorea während der Aufforstung war?
Unser Verständnis von Demokratie wird sich verändern. Wenn Menschen ernsthaft mit Selbsterhaltungsfragen konfrontiert sind, öffnet sich gewissermaßen ein vordemokratischer Raum. Die Politisierung rückt in den Hintergrund und das technokratische Funktionieren in den Vordergrund. Das kann man auch bei Fridays for Future oder der Letzten Generation sehen. Anders als frühere soziale Bewegungen fordern sie letztlich nicht Demokratisierung, sondern „Listen zu Science“ – lasst die Wissenschaft durchregieren.
Wie weit ist diese Gesellschaft mit ihren vordemokratischen Räumen von einer Ökodiktatur entfernt?
Wenn Ökodiktatur Verbote meint, ist das grundsätzlich unproblematisch. In liberalen Demokratien wird ja viel verboten. Das Verfahren muss demokratisch sein. Das Verzichts- und Verbotsproblem erledigt sich in adaptiven Gesellschaften zum Teil von selbst. Wenn Selbsterhaltungsfragen zentral werden – wie derzeit bei der Energie –, ist die Frage, was die KI von Zalando für nächstes Jahr an Nachfrage prognostiziert, eher unwichtig. Wir reden im Winter über Energiemangel, im Sommer über Wassermangel. Je radikaler sich solche fundamentalen Probleme stellen, desto weniger werden Verzicht und Verbot als zentrale Gerechtigkeitsprobleme auftauchen. Als ungerecht wird unter Krisenbedingungen hingegen empfunden, wenn viele enorme Anpassungsleistung erbringen, während wenige riesige Gewinne machen. Das zerstört die Legitimität des politischen Systems.
Aber greift ein auf Dauer gestelltes Notstandsregime nicht die Demokratie an, weil viele Bereiche der demokratischen Entscheidung entzogen werden?
Müssen Demokratien plausibel machen, dass ihre politischen Apparate Selbsterhaltungsprobleme bearbeiten? Es ist absurd, sich eine Welt vorzustellen, in der individuelle Freiheit vor Selbsterhaltung geht. Wir leben jetzt schon in einer Welt, in der unser beider Selbstentfaltung etwas mit den Lebenschancen von einem Kind in der Coltan-Mine im Kongo zu tun hat. Aber innerhalb einer Polis sprengt das das Fundament. Ich kann mir keine Demokratie vorstellen, die darüber abstimmt, wer leben darf und wer sterben muss. Ein partizipativ demokratisches Regime der Triage in der Pandemie wäre doch der Horror. Das spricht für entpolitisierte Experten. Wir hören auf, humanitäre Demokratien zu sein, wenn wir Selbsterhaltungsfragen in dieser Weise demokratisieren.
Philipp Staab, geb. 1983, ist Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Einstein Center Digital Future. Er schrieb Bücher über Digitalen Kapitalismus und über Macht und Herrschaft in der Servicewelt.
DAS BUCH
Philipp Staab: „Anpassung“. edition suhrkamp, Berlin 2022, 240 Seiten, 18 Euro
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