Mittwoch, 11. Januar 2023

Chaos bei der Bahn : „Ich fahre diesen Zug nur unter Protest“

Galgenhumor in Zeiten des Chaos - nehmen wir halt wenigstens den mit bei einer Bahnfahrt

FAZ hier   Von Corinna Budras 02.01.2023

Das Image der Deutschen Bahn mag miserabel sein, aber die Zugbegleiter reißen es immer wieder heraus – mit gnadenloser Ehrlichkeit.

Bei der Deutschen Bahn passieren inzwischen Dinge, die man lange nicht für möglich gehalten hätte: „Sehr geehrte Damen und Herren, weil ich gerade aus dem Fenster geschaut habe und ich die Strecke nicht kannte, habe ich einmal bei der Leitzentrale nachgefragt“, tönte es jüngst mit entwaffnender Ehrlichkeit über das Bordmikro eines ICE. Die Erklärung für dieses Malheur lieferte der Zugbegleiter mit vergleichbarer Offenheit sofort hinterher: „Wir wurden umgeleitet und nicht darüber informiert.“ Die Erkenntnis, dass auch ein ICE von der Spur abkommt, ist schon ungewöhnlich, aber womöglich sogar ein Ausweis von Flexibilität. Ungewohnter, wenn auch nicht völlig neu, ist die spröde Ehrlichkeit, mit der die Mitarbeiter die Unzulänglichkeiten der Deutschen Bahn offenlegen: „Wir werden jetzt evakuiert. Wann wir genau wo ankommen, weiß nicht einmal der Fahrdienstleiter.“

Natürlich handelt es sich nur um anekdotische Evidenz, aber die Häufigkeit, mit der die Zuggäste durch solche Ansagen informiert, mitunter sogar bestens unterhalten werden, nimmt deutlich zu. Wo früher „Störungen im Betriebsablauf“, „Verspätungen aus vorheriger Fahrt“ oder „witterungsbedingte Beeinträchtigungen“ regierten, bricht sich jetzt das heiter vorgetragene Geständnis Bahn: „Der Lokführer ist wegen eines anderen verspäteten Zuges noch nicht eingetroffen. Wir blockieren gerade das Gleis für seinen Zug. Wir sind selbst gespannt, wie das aufgelöst wird.“

Erfahrene Eisenbahner haben dafür gleich mehrere Erklärungen. Die erste ist offensichtlich: je schlechter die Performance, desto facettenreicher die Entschuldigungen. Wer nicht zu spät kommt, braucht keine Ausrede, schon gar keine unterhaltsame. Es sei denn, die Erfolgsquote ist so schlecht, dass auch eine planmäßige Ankunft für Erheiterung sorgt. Auch damit kann die Bahn immer häufiger punkten.

Die schlechte Performance hat viele Gründe

Verspätungen von einer Stunde und mehr haben dagegen meist mehrere Ursachen. Wo viel passiert, kann man viel berichten. Und die Performance der Deutschen Bahn ist derzeit denkbar schlecht: Gerade einmal 61 Prozent der Fernverkehrszüge haben im November pünktlich ihr Ziel erreicht, und in diese unsägliche Statistik fließen übrigens noch nicht einmal die Zugausfälle ein, die sich derzeit zu häufen scheinen.

Die Gründe für die Misere sind weithin bekannt: Das Streckennetz ist marode und muss dringend generalsaniert werden. Selbst das Bahn-Management räumt inzwischen offen ein, dass in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig investiert wurde. Neben den vielen – planmäßigen – Baustellen, kommen immer wieder andere Störfaktoren hinzu: Mal müssen kurzfristig Betonschwellen im ganzen Land überprüft und ausgetauscht werden, dann blockiert ein Güterzug, beladen mit Propangas, nach einem Unfall über Wochen einen wichtigen Streckenabschnitt.

Die neue Offenheit, gewürzt mit einer Prise Galgenhumor, kann man auf die simple Empörungsschlagzeile bringen: Bahn-Mitarbeiter machen sich über das Chaos lustig und verhöhnen die Fahrgäste. Allerdings berücksichtigt das nicht die zweite Erklärungsebene für diesen Trend – und die müsste den Staatskonzern fast noch mehr beunruhigen als das selbstverschuldete Unvermögen: Die Mitarbeiter haben die Eskapaden ihres Arbeitgebers satt. Sie schämen sich für die schlechte Performance, die sie schließlich auch selbst trifft: „Unser Zug kann heute nicht weiterfahren: Vor uns steht ein anderer Zug, der kaputt ist. An dem kommen wir nicht vorbei.“

Letzter Ausweg für stolze Eisenbahner

Das Phänomen ist auch in anderen Branchen bekannt: Mitarbeiter der Tabak- und lange auch der Waffenindus­trie redeten nicht mit der gleichen Verve von ihrer Arbeit, wie Pflegekräfte es tun mögen, und den Deutsche-Bank-Mitarbeitern gingen die ständigen Hausdurchsuchungen zu den zahlreichen Betrugsvorwürfen auch auf die Nerven. Doch nur die Eisenbahner haben einen Rechtfertigungsdruck vor großem Publikum. Allein über die Weihnachtsfeiertage beförderte die Deutsche Bahn nach eigenen Angaben 3,2 Millionen Menschen und damit so viele wie nie zuvor. Mag der Konzern auch versichern, der Feiertagsverkehr sei weitgehend „reibungslos“ verlaufen – auch dieses Mal gab es wieder Umleitungen, Zugausfälle und Verspätungen.

Da ist die entwaffnende Ehrlichkeit für stolze Eisenbahner so etwas wie der letzte Ausweg. Sie sorgt an Bord wenigstens für einige Lacher und in den sozialen Medien für Aufmerksamkeit. Die Kurznachrichtenplattform Twitter ist schon seit geraumer Zeit zu einem Sammelbecken von würzigen Bahn-Anekdoten geworden: „Es tut mir leid, dass die Deutsche Bahn Ihnen einen Zug in solch erbärmlichem Zustand bereitstellt. Nichts geht hier. Ich fahre diesen Zug nur unter Protest, aber irgendwie müssen Sie ja wegkommen“, zitiert der Kanal „Bahnansagen“ die Erlebnisse einer Nutzerin mit dem klingenden Namen „Pommesbuddhistin“. Inzwischen zählt dieser Kanal des Buchautors Marc Krüger mehr als 250.000 Follower. Jüngstes Highlight: „Wir bitten alle Fahrgäste, sich wegen ihrer Anschlusszüge und Taxischeine an die Raucher aus Wagen 31 zu wenden, die wegen ihrer Raucherpausen und dem Blockieren der Türen erheblich zu unserer Verspätung beigetragen haben!“ Selbst wohldosiertes „Kundenbashing“ kommt bei der Fangemeinde an.

Auch in der Riege der „Eisenbahner mit Herz“, den die Interessengemeinschaft „Allianz pro Schiene“ jedes Jahr kürt, finden sich nicht mehr nur Heldengeschichten über wiederbelebte Bahngäste oder glimpflich verlaufende Evakuierungen, sondern auch die Geschichten von Alleinunterhaltern, die über das Bordmikro den gesamten Zug trotz Verspätung und Maskenpflicht bei Laune halten. Der diesjährige Wettbewerb läuft noch bis zum 31. Januar, bis dahin können Reisegeschichten eingereicht werden.

Früher eine Ahmahnung, heute Applaus

Zur anderen Seite der Medaille gehört der neue, ungewohnte Langmut der Deutschen Bahn. Der frisch gewählte Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), Martin Burkert, bringt das auf folgende Formel: „Die Mitarbeiter im Zug bekommen viel mehr Freiraum als früher, weil die Deutsche Bahn inzwischen verstanden hat, was sie an ihnen hat“, sagt Burkert, der im Jahr 1980 noch bei der Deutschen Bundesbahn seine Ausbildung antrat und nun die mächtigste Bahnergewerkschaft des Landes führt. „Früher hätte es für Abweichungen von der offiziellen Vorgabe eine Abmahnung gegeben, jetzt gibt es von den Kunden Applaus.“

Auch die Deutsche Bahn bekommt also die Konsequenzen des aktuellen „Arbeitnehmermarktes“ zu spüren. Ist das Produkt miserabel, muss wenigstens die Verpackung stimmen – und offensichtlich haben einige Mitarbeiter ein geradezu untrügliches Gespür für das richtige Maß an tragisch-komischen Ausführungen an Bord. Dies maßregeln zu wollen wäre inzwischen ähnlich unerreichbar wie die alten Pünktlichkeitsquoten von mehr als 90 Prozent. Hinzu kommt der viel beschworene Fachkräftemangel, vor dem sich auch ein Staatskonzern wie die Bahn fürchten muss. Schon jetzt fehlt es an allem: an neuen Elektroingenieuren, Lokführern, Zugbegleitern. Da kann man es sich nicht leisten, die verdienten Kollegen zu vergraulen, sondern gibt lieber Freiraum: „Liebe Fahrgäste, wir stricken hier mit heißer Nadel. Ich mache Ihnen geringfügige Hoffnung auf den ICE Richtung Basel – nur geringfügig. Stoßen Sie mit mir ein Gebet Richtung Himmel! Vielen Dank.“

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