Mittwoch, 25. Januar 2023

"Das Wunder von Mals": Dank dem Gerichtsprozeß wurde der lange verheimlichte Pestizideinsatz öffentlich gemacht

Die Süddeutsche Zeitung schreibt  hier: 
Es ist ein Datensatz, wie er noch nie öffentlich wurde: Die vertraulichen Betriebshefte von 681 Obstbauern geben tiefe Einblicke in den Pestizideinsatz beim Apfelanbau in Südtirol.

Insgesamt gibt es in Südtirol etwa 7000 Apfelbauern. Die ausgewerteten Daten von 681 Anbaubetrieben sind statistisch nicht repräsentativ. Aber: Zum ersten Mal gewährt ein solch umfangreicher Datensatz aus erster Hand der breiten Öffentlichkeit Einblicke in die Methoden des Apfelanbaus, wie sie vermutlich nicht nur in Südtirol, sondern auch in anderen großen Anbauregionen üblich sind. 
Für die Südtiroler geht es bei alledem um ein riesiges Geschäft.
935 000 Tonnen Äpfel wurden dort 2021 geerntet. Jeder zehnte in Europa und jeder vierte in Italien verkaufte Apfel wuchs in Südtirol. Deutschland ist der größte Importeur aus der nördlichsten Provinz Italiens, die wiederum mit einer Anbaufläche von umgerechnet etwa 25 000 Fußballfeldern das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas ist.

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25.01.2023 

So hoch war der Pestizideinsatz im Südtiroler Vinschgau 2017 

Landwirtschaftliche Betriebe müssen in der EU genau dokumentieren, welche Pestizide sie wann und wo in welchen Mengen ausbringen. Doch normalerweise werden diese Angaben weder ausgewertet noch öffentlich zugänglich gemacht. Zum ersten Mal überhaupt konnte das Umweltinstitut nun hunderte Spritzhefte von Obstbetrieben aus dem Südtiroler Vinschgau unter die Lupe nehmen – eine europaweit wegweisende Untersuchung. Nach monatelanger Arbeit stellen wir heute einen Bericht mit den Ergebnissen unserer Auswertung vor, der ein genaues Bild der Verwendung von Pestiziden in einer der wichtigsten Anbauregionen für Äpfel in ganz Europa zeichnet. 

Die alarmierenden Ergebnisse finden Sie auf unserer Website hier

Dass wir an die Spritzhefte gekommen sind, ist ironischerweise dem Versuch der Südtiroler Landesregierung und der dortigen Apfelindustrie geschuldet, unsere Kritik am hohen Pestizideinsatz in der Region durch eine Strafanzeige zum Schweigen zu bringen. Doch das ging kräftig nach hinten los. Denn der Prozess wegen angeblicher „übler Nachrede“ endete für uns nicht nur mit einem Freispruch, sondern führte auch zur Beschlagnahmung der Spritzdaten als Beweismittel. So hat ausgerechnet der Südtiroler „Pestizidprozess“ gegen das Umweltinstitut dazu geführt, dass wir heute genauer denn je zuvor untermauern können, wie groß das Südtiroler Pestizidproblem tatsächlich ist.

Die Auswertung der Spritzdaten bietet einen brisanten Einblick in die landwirtschaftliche Praxis im intensiven Obstbau:

Insgesamt wurden mehr als 80 unterschiedliche Pestizidwirkstoffe verwendet, von denen etliche als besonders gefährlich für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt gelten.
Zu den besonders häufig eingesetzten Substanzen gehörte etwa das Fungizid Fluazinam, das unter anderem vermutlich krebserregend und fruchtbarkeitsschädigend ist. Auch Stoffe, die für Honigbienen oder Wasserorganismen gefährlich sind, kamen zum Einsatz. Und damit nicht genug: Von März bis September 2017 gab es im Vinschgau, einer beliebten Urlaubsregion, keinen einzigen Tag, an dem Mensch und Umwelt nicht dem Pestizidnebel ausgesetzt waren. Oft kommen die Gifte zudem als „Cocktail“ mehrerer Substanzen zum Einsatz – bis zu neun verschiedene Wirkstoffe wurden am gleichen Tag angewendet.

Der Preis, den die Menschen und die Umwelt im Vinschgau für die Massenproduktion von Äpfeln zahlen, ist hoch. Denn der kontinuierliche Einsatz von Pestiziden in den Apfelplantagen schädigt die Artenvielfalt und gefährdet die Gesundheit von Anwohner:innen und Urlaubsgästen, und nicht zuletzt die der Obstbäuer:innen selbst. Das muss sich endlich ändern! In unserem Bericht geben wir deshalb auch Empfehlungen, was sich in der Landwirtschaft in Südtirol, aber auch in Europa insgesamt tun muss, damit sie sich endlich aus der Abhängigkeit von Ackergiften befreien kann.

Eine ausführliche Zusammenfassung der Ergebnisse unseres Berichts und unserer Forderungen lesen Sie auf unserer Homepage.

 

Interview zur Auswertung der Spritzdaten  hier

„Mit einem ‚naturnahen‘ und ‚nachhaltigen‘ Anbau hat das nichts mehr zu tun." Unsere Auswertung zeigt: Im intensiven Apfelanbau Südtirols kommen für Umwelt und Gesundheit hochproblematische Pestizide in teils hoher Frequenz zum Einsatz. Im Interview ordnen wir die Ergebnisse ein, erklären, warum gerade im Apfelanbau so viele Pestizide zum Einsatz kommen, und zeigen auf, was sich jetzt ändern muss.




Interessante Auszüge aus der Süddeutschen Zeitung (siehe oben)

Die Spritzhefte stammen aus einer Beschlagnahme der Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft Bozen. Sie wären nie an die Öffentlichkeit gelangt, hätte man in Südtirol nicht ein machtvolles, juristisches Zeichen gegen aufmüpfige Naturschützer setzen wollen. Auch zur Abschreckung etwaiger anderer Kritiker. Ein Vorhaben, das für die Initiatoren allerdings nach hinten losging.


Doch zurück zum Anfang: Angeführt vom Südtiroler Landesrat Arnold Schuler, dem Regionalminister für Landwirtschaft und Tourismus, stellten 2017 mehr als 1300 Apfelbauern Strafanzeigen gegen Aktivisten des Münchner Umweltinstituts. Anlass waren ein Plakat und eine Internetseite, auf denen die Naturschützer kurz zuvor den Pestizideinsatz im Südtiroler Apfelanbau angeprangert hatten. Originalton Landesrat Schuler: „Es ist eine rote Linie überschritten, wir lassen uns solche Anfeindungen nicht gefallen.“


Die Staatsanwaltschaft Bozen leitete daraufhin Ermittlungen gegen die Naturschützer ein, hauptsächlich wegen übler Nachrede. Schließlich klagte sie neun Aktivisten an, die sich ab 2020 vor dem Landesgericht in Bozen verantworten mussten. Einige Verfahren wurden bald eingestellt. Am längsten saß Karl Bär auf der Anklagebank, 2017 noch Agrarreferent des Umweltinstituts. Während der Prozess noch lief, wurde er 2021 als Abgeordneter der Grünen in den Deutschen Bundestag gewählt. Im Jahr darauf endete auch sein Verfahren mit einem Freispruch, nachdem Schuler und alle Apfelbauern ihre Anzeigen zurückgezogen hatten.

Übrig blieben die Spritzhefte. Sie waren Teil der Gerichtsakten und daher für die Münchner Umweltschützer zugänglich; unter normalen Umständen sind solche Aufzeichnungen vertraulich und nur für ausgewählte Kontrolleure vor Ort einsehbar.
Ursprünglich vereinbarten Schuler, die wichtigsten Südtiroler Apfelanbauverbände und das Münchner Umweltinstitut, die Daten auf einer gemeinsamen Veranstaltung in Bozen öffentlich zu diskutieren. Doch dazu kam es nic
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wofür jede Seite die jeweils andere verantwortlich macht.


Die Spritzhefte belegen, dass die Obstbauern nicht nur Pestizide spritzten, um Schädlinge, Pilzbefall oder Unkraut zu bekämpfen, sondern auch aus obstkosmetischen Gründen. Der Pestizideinsatz in den 681 Betrieben war 2017 – wenn man den Berichtsheften glauben darf – vorschriftenkonform. Viele der Apfelbauern im Vinschgau haben sich dem sogenannten „Integrierten Anbau“ verpflichtet. Eine Methode, bei der, wie es heißt, umweltschonende Ansätze mit Pestiziden kombiniert werden, um Pflanzenschädlinge, Krankheiten und Unkräuter zu bekämpfen. Ziel sei es, natürliche Abwehrmechanismen der Pflanzen zu nutzen und die Anwendung chemischer Schutzmittel zu reduzieren, im Sinne einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Landwirtschaft.


Nachhaltig sei diese Anbauweise bestenfalls in ökonomischer und nicht in ökologischer Hinsicht, sagt hingegen der Landauer Umweltwissenschaftler Schulz. Pestizide und naturnah – das gehe von Haus aus nicht zusammen. So sieht man das auch im Münchner Umweltinstitut. Der in den Heften dokumentierte Pestizideinsatz stünde „in krassem Widerspruch zu einer naturnahen und nachhaltigen Anbauweise“, das Zertifikat „integrierter Obstanbau“ diene „offensichtlich mehr dem Marketing als dem Wohl von Umwelt und Gesundheit“.

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