Montag, 30. Januar 2023

Was würde sich durch ein Tempolimit ändern?

Auszüge aus der Süddeutsche Zeitung hier 30. Januar 2023

Es lohnt sich diesen Artikel im Original zu lesen, es gibt zahlreiche Bilder und Grafiken dazu

Von Christopher Schrader (Text), Sara Scholz (Infografik), Karl Johaentges (Fotos)

Verkehrspolitik: Brummbrumm

Was würde sich durch ein Tempolimit auf allen Autobahnen verändern? Eine Recherche zu Unfällen, Klimaeffekten - und der Liebe der Deutschen zum Auto.

....Im Jahr 2019 legten Autos und Lastwagen auf deutschen Autobahnen insgesamt 253 Milliarden Kilometer zurück. Dabei erreichten Pkw und Kleinlaster nach einer Studie der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) aus den Jahren 2010 bis 2014 eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 115,6 Kilometern pro Stunde, wo die Beschilderung bislang 120 Kilometer pro Stunde vorsah. Auf 130er-Strecken waren es 118,3, auf unbegrenzten Strecken 124,7. Ein gutes Drittel der Autos überschritt die Richtgeschwindigkeit....

......einen Überblick zum Stand der Tempolimitforschung vorgelegt hat. „Das sind eigentlich Äpfel-Birnen-Vergleiche. So naiv heranzugehen könnte den tatsächlichen Effekt einer Begrenzung unterschätzen.“

Hinter dem Mangel an Daten steckt womöglich System. „Es gab für Studien und den Aufbau von Messstellen nicht nur keine Unterstützung, sondern sogar Gegenwind aus dem Bundesverkehrsministerium“, sagt Traxler. Dort stelle man Interessenpolitik über den Bedarf an Daten. „Eine saubere Studie könnte ja der politischen Botschaft in die Quere kommen.“ Politischen Widerstand konstatiert auch Siegfried Brockmann, Unfallforscher beim Gesamtverband der Versicherer: „Das Tempolimit kommt oder es kommt nicht. Es gibt da zwei Fraktionen, die glauben, alles zu wissen. Ein empirischer Ansatz ist da eher nicht wohlgelitten.“

Wer will was?

Das Tempolimit spaltet die politische Landschaft. CDU und CSU, FDP und AfD sind für freie Fahrt, ebenso weite Teile der Fahrzeugindustrie sowie der Autofahrerklub AvD. Ihnen gegenüber stehen Grüne, Linke und SPD, Umweltbundesamt, Verkehrssicherheitsrat, Umweltverbände sowie laut Umfragen eine Mehrheit der Deutschen. Sogar etwa die Hälfte der ADAC-Mitglieder spricht sich inzwischen für ein Tempolimit aus.

SPD und Grüne favorisieren ein Tempolimit von 130 km/h. Tagsüber Tempo 100 und nachts 120, wie es die Deutsche Umwelthilfe (DUH) fordert, ist hingegen eine wenig aussichtsreiche Position. „Es wäre aber notwendig, um einen ausreichenden Beitrag zum Senken der Emissionen zu leisten“, sagt Annette Stolle von der DUH.

Klimaeffekte

Derzeit steht der Klimaeffekt eines Tempolimits im Mittelpunkt der Diskussion. Anfang 2023 legte das Umweltbundesamt eine neue Studie dazu vor. Demnach würde ein Tempolimit von 120 km/h zu einer Einsparung von 4,2 Prozent der CO₂-Emissionen im gesamten Straßenverkehr führen. Bezogen auf die Werte von 2019, also vor der Pandemie, entspräche das einer Einsparung von 6,7 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Das ist deutlich höher als eine ältere Schätzung des UBA, die von einer CO₂-Ersparnis in Höhe von 2,9 Millionen Tonnen bei 120 km/h ausgegangen war.

Wird zusätzlich zu einem Tempolimit auf Autobahnen die Geschwindigkeitsbegrenzung außerorts von 100 km/h auf 80 km/h abgesenkt, ist der Klimaeffekt laut der neuen UBA-Kalkulation sogar noch größer. Beide Maßnahmen kombiniert würden zu 5,1 Prozent CO₂-Einsparungen im Straßenverkehr führen, oder in absoluten Zahlen 8,1 Millionen Tonnen. Diese zusätzliche Maßnahme auf Bundes- und Landstraßen wäre nach Ansicht des UBA sinnvoll, damit es nicht zu einer Verlagerung des Verkehrs von Autobahnen in sensiblere Bereiche wie Ortsdurchfahrten kommt: "Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit ausschließlich auf Autobahnen reduziert, führt dies zu Ausweichverkehren, die in Summe auf anderen Straßen eine Zunahme der Belastungen bedeutet", schreiben die Experten.

„Ein Tempolimit auf Autobahnen hilft uns, die Treibhausgasemissionen des Verkehrs in Deutschland zu senken“, sagte darum UBA-Präsident Dirk Messner, „und zwar sofort und praktisch ohne Mehrkosten.“

Die mögliche Reduktion entspricht ungefähr dem dreifachen Ausstoß des gesamten innerdeutschen Flugverkehrs. Eindrücklich ist auch eine Analyse des Thinktanks Agora Verkehrswende von 2018: Tempo 130 bringt demnach so viel wie eine Erhöhung der Dieselsteuer um elf Cent pro Liter, ein gutes Drittel mehr Rad- und Fußverkehr, 1,1 Millionen neue Elektroautos oder 13 Prozent weniger Autoverkehr in Städten. Zudem sind indirekte Effekte denkbar, weil über längere Strecken die Schiene attraktiver würde und es damit die Emissionen des Autoverkehrs weiter senken könnte.

Fazit: Ein Tempolimit würde den Ausstoß von CO₂ merklich senken.

Auswirkungen auf die Luftqualität

Der Verkehr auf der Autobahn setzt große Mengen an Schadstoffen frei. Es sind nicht ganz so viele wie beim Stop-and-go im Stadtverkehr. Im Verhältnis zur Fahrstrecke sind die Stickoxid-Emissionen bei etwa 80 Kilometern pro Stunde am niedrigsten, davon sind Autobahnfahrer weit entfernt: Bei Tempo 140 hat sich der Ausstoß verdoppelt.....

Auch die Natur könnte aufatmen. Noch tut sich Deutschland schwer, die Umweltrichtlinien der Europäischen Union zu erfüllen. Bis 2030 wollte man hierzulande die Stickoxidemissionen um 65 Prozent senken – davon sind aber erst 31 Prozent geschafft.

Fazit: Die Reduktion von Schadstoffen durch ein Tempolimit würde Mensch und Natur dienen.

Auswirkungen auf die Unfallstatistik

....Dagegen argumentiert der ADAC, dass europäische Nachbarn trotz ihrer Limits höhere Todesraten pro Kilometer Strecke haben, etwa Belgien oder Italien. Andere haben aber auch niedrigere wie Frankreich oder Dänemark. Expertinnen und Experten vermuten, dass Kontrollen und hohe Bußgelder diese Unterschiede erklären. In der Schweiz (Tempolimit 120) etwa müssen Raser mit teils extremen Strafen rechnen. Das Land hat wesentlich weniger Todesfälle als die Niederlande mit Tempolimit 100.

„Viele Unfälle passieren ja und sind deswegen so schwer, weil die Tempounterschiede auf den Autobahnen so groß sind“, erklärt Annette Stolle von der DUH. „Wenn wir diese durch ein allgemeines Gebot beschränken, bekommen wir einen großen Effekt in der Unfallstatistik.“

Ohne Tempolimits, ist Verkehrsexpertin Stolle überzeugt, lasse sich die „Vision Zero“ keinesfalls erreichen. Demnach soll die Zahl der Verkehrstoten bis 2030 auf null sinken.

Fazit: Ein Tempolimit würde die Verkehrssicherheit verbessern.

Folgen für den Verkehrsfluss

Über eine dreispurige Autobahn können etwa 100 Autos oder Lastwagen pro Minute rollen. Diese maximale Verkehrsstärke lässt sich bei einer optimalen Geschwindigkeit im Bereich von 70 bis 90 Kilometern pro Stunde und relativ niedrigen Geschwindigkeitsunterschieden erreichen. Beim Überholen sind dann weniger Brems- und Beschleunigungsmanöver nötig, die einen „Stau aus dem Nichts“ auslösen können. Die Tempobegrenzung beruhigt instabil werdenden, dichten Verkehr.

Fazit: Der Verkehr auf einer Autobahn mit Tempolimit wäre vermutlich ruhiger und flüssiger.

Kosten für die Volkswirtschaft

...Schmidt hat die verlorenen Stunden mit dem durchschnittlichen Lohn auf dem Arbeitsmarkt multipliziert und kommt zum Schluss, dass so der Volkswirtschaft Kosten in Höhe von 1,3 Milliarden Euro pro Jahr entstehen. „Diese Summen liegen sehr hoch im Verhältnis zu anderen Möglichkeiten, Emissionen zu senken.“

Diese Aussage trifft auf erhebliche Kritik. Expertinnen und Experten etwa merken an, dass der Schwerverkehr aufgrund niedriger Geschwindigkeiten überhaupt nicht von einem Tempolimit betroffen wäre. Korrekt gerechnet blieben wohl noch 48 Millionen Stunden Zeitverlust durch ein Tempolimit 130 übrig.

Auf ein weiteres Problem macht Christian Traxler von der Hertie School aufmerksam. Bei einem Tempolimit würden mit den Unfällen auch die Staus und Umleitungen zurückgehen, der Verkehr insgesamt flösse besser. Das heißt, dem Zeitverlust der Schnellen steht ein Zeitgewinn aller gegenüber. „Insbesondere die Lastwagenfahrer sind doch froh um jeden Stau weniger. Es gibt da also Verteilungskonflikte zwischen Gewinnern und Verlierern des Tempolimits“, sagt Traxler. In seiner Studie macht er die sehr vorsichtige Annahme, dass die Zeitgewinne ein Zehntel der 53 bis 70 Millionen Staustunden vor Unfallstellen ausmachen könnten.

Außerdem sei es „völlig überzogen und in der Fachliteratur unüblich“, solche Stunden mit dem vollen Bruttolohn zu bewerten, sagt Traxler zu Schmidts Berechnungen. Diese Sicht bestätigt Axel Friedrich, früher beim Umweltbundesamt und heute Umweltaktivist, der sich seit Jahrzehnten mit Verkehrspolitik beschäftigt: „Die meisten Zeitverluste bemerken die Leute in den Autos überhaupt nicht und bewerten sie darum auch nicht. Sie werden zudem dadurch aufgewogen, weniger oft tanken zu müssen. Die Zeitgewinne im Güterverkehr zählen hingegen real.“

Fazit: Ein Tempolimit ist nicht kostenlos, eine umfassende Bewertung steht noch aus.

Folgen für den Automarkt

Wer auf Autobahnen nicht mehr Tempo 180 fährt, braucht auch keine Radlager, Bremsen, Airbags oder verstärkte Karosserien für solch hohe Geschwindigkeiten. So könnten alle Autos kleiner und leichter werden. Sie würden dann auch abseits der Autobahnen Benzin sparen sowie weniger Treibhausgase ausstoßen. Das könnte 20 bis 30 Prozent ihres Energieverbrauchs ausmachen, schätzte im Jahr 2007 Karl Otto Schallaböck vom Wuppertal-Institut. Bei Elektroautos könnte sich zudem der Trend zu immer größeren Batterien abschwächen, weil sie nicht mehr hohe Geschwindigkeiten erreichen müssten, um auf der Autobahn mithalten zu können.

„Es muss dann auch niemand mehr ein großes Auto kaufen, der bei niedrigerem Tempo Angst davor hat, dass ihm jemand reinfährt“, sagt Annette Stolle von der DUH.......„Ein ,Image-Schaden‘ durch ein Tempolimit, der die Position deutscher Hersteller im Ausland schwächen würde, erscheint – anders als im Fall des VW-Emissionsskandals – wenig plausibel“, stellt auch Christian Traxler fest.

Fazit: Ob ein Tempolimit auf längere Sicht zu kleineren, leichteren und damit umweltfreundlicheren Autos führt, ist zurzeit Glaubenssache.

Zusammenfassung

Ein Tempolimit hätte vermutlich viele Vorteile und nur wenige Nachteile. Die vorhandenen Daten, um eine rationale Debatte zu dem Thema führen zu können, sind zwar brauchbar, aber nicht ausreichend. Doch eines ist auch klar: So sehr sich die Wissenschaft auch bemühen mag – am Ende steht eine politische Entscheidung.

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