WiWo hier Interview von Sonja Álvarez 25. Januar 2023
Zwischen Zeitenwende und Doppelwumms
Panzerdebatten, Wohlstandssorgen und verschämter Konsum: Rund ein Jahr nach Kriegsbeginn ist Deutschland hin- und hergerissen, sagt Rheingold-Chef Stephan Grünewald. Der Psychologe erklärt, wie die Nation tickt.
WirtschaftsWoche: Herr Grünewald, Sie führen mit Ihrem Team vom Rheingold-Institut jährlich rund 5000 Tiefeninterviews zu aktuellen Fragen aus Markt, Medien und Gesellschaft durch, gelten quasi als Psychologe der Nation. Wie geht’s dem Patienten Deutschland, der nach einem Jahr Kriegsbeginn und Zeitwende bei Ihnen auf der Couch liegt?
Stephan Grünewald: Deutschland befindet sich in einem merkwürdigen Zustand zwischen Zeitenwende und Doppelwumms. Olaf Scholz hat die Zeitenwende zwar am 27. Februar 2022 ausgerufen, aber psychologisch ist sie bei den Menschen noch nicht angekommen. Es geht dem Patienten Deutschland also nicht besonders gut.
Was fehlt dem Patienten konkret?
Zeitwende
bedeutet ja, dass etwas verloren geht, dass etwas Altes nicht mehr
wiederkommt – ein natürlicher Prozess, der mit Abschied nehmen und
Trauer verbunden ist. Gleichzeitig steht Zeitenwende aber auch für einen
Aufbruch, für etwas Neues, das mit einer Vision verbunden ist. Aber
genau diese Vision fehlt bisher komplett, sie wird vom Kanzler auch
nicht erklärt. Er hat die Zeitwende zwar ausgerufen, aber bisher nicht
mit Leben gefüllt. Das ist fatal, denn dadurch verharren die Menschen in
einem permanenten Wartezustand, der das Land lähmt.
Dabei gibt es doch zumindest finanzielle Therapieversuche: den Doppelwumms, drei Entlastungspakete in Milliardenhöhe, Abfederung der hohen Energiepreise. Reicht das nicht?
Deutschland
hat im vergangenen Jahr ein großes Auf- und Ab der Gefühle erlebt. Der
Kriegsbeginn am 24. Februar war ein absoluter Schock, es gab große
Befürchtungen, dass der dritte Weltkrieg ausbricht, dass es zum
Atomschlag kommt. Das war für viele Menschen in dieser Massivität kaum
aushaltbar. Ab Mai wurde der Krieg dann zunehmend verdrängt, die ersten
Rettungspakete wurden auf den Weg gebracht, der Sommer war ein Versuch,
die Probleme auf Pause zu stellen und an die Vor-Corona-Spontaneität und
Lebensfreude anzuknüpfen.
Und dann kam der Herbst.
Ab
Herbst wurde die Sorge um die Energieversorgung und Blackouts
dominierend. Die Sachen wurden teurer, die Heizung kälter, die häusliche
Idylle zunehmend ungemütlicher – seither ist das Land in einem
lethargischen Resignationsmodus, das mit wenig Zuversicht ins neue Jahr
gestartet ist.
In der Ukraine gibt es für die
Menschen kein Auf- und Ab, sondern ihr Leben wird vom Krieg bestimmt.
Während dort Menschen sterben, diskutierte Deutschland monatelang über Panzerlieferungen
und erlebt einen Kanzler, der zaudert und zögert, obwohl er es doch
war, der die Zeitenwende ausgerufen hat. Droht dem Patienten Deutschland
da nicht Schizophrenie?
Die Nation ist tatsächlich hin- und
hergerissen. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zur
Coronakrise: Wir erleben keine abgrundtiefe Polarisierung, die es als
Reaktion auf die Pandemiemaßnahmen gegeben hat – sondern eher eine
grundsätzliches „Ja“ zu den Waffenlieferungen, dem dann ein
unterschiedlich stark ausgeprägtes „aber“ folgt.
Was nicht überraschend ist, wenn der Kanzler immer wieder vor Alleingängen warnt, bevor er sich nun doch zur Leopard-Lieferung durchgerungen hat.
In der Koalition erleben wir eine Rollenverteilung:
Olaf Scholz repräsentiert die deutsche Bedächtigkeit,
Wirtschaftsminister Robert Habeck nimmt die Menschen mit und will auf
Augenhöhe erklären, Außenministerin Annalena Baerbock steht für die
klare, entschiedene Position. Ohne übergreifende Vision entsteht so ein
Wirrwarr, was viele Menschen verunsichert.
Nicht nur die unklare Kommunikation
schürt die Sorgen der Menschen in Deutschland, sondern auch die
wirtschaftliche Entwicklung. Zwar prognostiziert der
Jahreswirtschaftsbericht für 2023 sogar ein leichtes Wachstum, aber
Studien wie vom IW Köln warnen vor einem „gewaltigen Wohlstandsverlust“.
Wenn 50 Prozent der Wirtschaft Psychologie ist, wie Ludwig Erhard einst
sagte – was heißt das dann für den Patienten Deutschland?
Der
Patient Deutschland braucht gerade mehr als nur eine warme Wolldecke.
Wir erleben eine Nation, die von einem schleichenden Erosionsprozess
geprägt ist. Die Inflation, die in vielen Bereichen des täglichen Lebens
zu spüren ist. Dazu die Knappheiten, von Baumaterialien bis zu
Arzneien. Und all die Lebensadern, die ein Land braucht, pulsieren immer
schwächer: Straßen, Bahn, die Digitalisierung – Deutschland hinkt seiner Zukunftsfähigkeit hinterher.
Die Diagnose klingt wenig optimistisch.
Moment,
so schlimm ist es nicht – und das liegt an den einzelnen Unternehmen,
die sich vorausschauender, wendiger, pragmatischer und damit
krisenstabiler erweisen als die Politik selbst.
Was aber ist mit den Konsumenten? Halten sie sich in Krisenzeiten allein aus psychologischen Gründen zurück?
Die
Menschen kaufen und genießen weiter, aber stärker als bisher suchen sie
nach einer Erlaubnis oder Rechtfertigung dafür. Sparen gilt gerade ja
als Generaltugend – und deshalb kaufen und konsumieren viele Menschen
eher heimlich und verschämt, weil ihnen das in der Krise peinlich ist.
Wer aus einer Krise herauskommen will, braucht allerdings Kraft. Wie groß sind die Reserven?
Deutschland
hat genug Kraftreserven, aber die müssten mobilisiert werden – dafür
braucht es Führungsstärke, jemanden, der den Patienten motiviert und das
Ziel vorgibt. Da passiert politisch leider zu wenig.
Scholz muss seinem Zeitenwende-Ausruf jetzt also den Aufbruch folgen lassen?
Ja,
um das Land aus dem Zwischenzustand rauszuholen und in den Aufbruch
nach der Zeitenwende mitzunehmen, sollte Scholz eine visionären
Masterplan haben und vor allem erklären: Was sind die wichtigsten
Projekte? Was sind die Schritte dahin? Was ist das Ziel?
Aber einen solchen Masterplan gibt es leider nicht, stattdessen recyceln wir Aufbruchsstimmung, bedienen uns an den 60er, 70er, 80er oder 200er Jahre, wo wir in der Vergangenheit persönlich Aufbruch erlebt haben – aus einem solch behelfsmäßigen Surrogat kann kein echter Aufbruch entstehen.
Als großer Ruckredner ist Scholz allerdings abgesehen von der Zeitenwende-Rede bisher nicht bekannt.
Aber
gerade das ist eine Chance für Scholz. Denn wenn ein Lautsprecher immer
nur noch lauter dreht, dann hört irgendwann niemand mehr hin – oder
hält sich schlimmstenfalls sogar die Ohren zu. Wer aber wie Scholz einen
ruhigen Grundturnus hat und dann davon abweicht, hat eine ganz andere
Durchdringungskraft. Die Zeitenwende-Rede ist dafür der beste Beweis.
Jetzt muss er ihr aber noch spürbare Taten folgen lassen, die mehr sind
als finanzielle Entlastungen und neue Sondervermögen.
Zur Person
Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe und Mitbegründer des Kölner Rheingold-Instituts. Zusammen mit seinem Team führt er nach eigenen Angaben jedes Jahr mehr als 5000 Tiefeninterviews zu aktuellen Fragen aus Markt, Medien und Gesellschaft durch.
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