Freitag, 13. Januar 2023

Leben in Lüzerath: "Verzieht euch"

Auszüge aus der Süddeutschen Zeitung  hier

.... Noch einen Tag also, alle rüsten sich jetzt für die Räumung. Die Aktivisten stapfen durch den matschigen Boden. Und die, die den Einsatz aus der Ferne dirigieren. In Aachen tritt am Montag ein anderer Grüner ins Rampenlicht: Dirk Weinspach, 63, Volljurist und dreifacher Familienvater, ist jemand, der „hohe Achtung vor dem Engagement von Fridays for Future“ hat, sagte er einige Tage zuvor bei einem Gespräch in seinem Büro. „Ich habe dieselben Sorgen für meine Kinder und Enkel.“ Und ja, er könne die Verzweiflung verstehen, aber er ist Polizeipräsident von Aachen und nun mal dafür zuständig, Tausende Polizisten loszuschicken, um brennende Autoreifen, Betonblöcke und Stahlträger aus dem Weg zu räumen – für die Schaufelrad-Bagger von RWE.

Weinspach könnte den Einsatz ablehnen, aus Gewissensgründen. Klar, das ginge, sagt er, „aber dann müsste ich die Konsequenzen ziehen und um meine Entlassung bitten“. Kann er Lützerath mit seinem Gewissen vereinbaren? Er sitzt hinter dem Konferenztisch im dritten Stock seines Präsidiums, dann nickt er: „Ja.“

Denn Weinspach besitzt etwas, das die Aktivisten in den Baumhäusern von Lützerath längst verloren haben: Vertrauen in die Regierung. Deshalb hofft er, „dass wir die Mengen an CO₂, die wir jetzt kurzfristig mehr ausstoßen wegen des Ukraine-Kriegs, danach durch den früheren Kohleausstieg wieder einsparen“. Er weiß natürlich, dass unabhängige Studien das anzweifeln.
Aber Weinspach sieht Habeck und Neubaur, mit der er regelmäßig telefoniert, als grüne Verantwortungsethiker, die „nach Abwägung Entscheidungen fällen, die sie auch persönlich als Zumutungen empfinden“. Nach all dem, was politisch und gerichtlich entschieden sei, gehe es jetzt um weit mehr als sicheren Strom: „Ein Blackout könnte unsere Gesellschaft politisch destabilisieren, und Kräften vom rechten Rand gefährlichen Einfluss verschaffen.“

Er jedenfalls will „eine friedliche Räumung“ versuchen: ohne Verletzte, transparent und kommunikativ, auch gegenüber den Besetzern. Und mit dem Angebot zum Rückzug der Aktivisten, ohne Aufnahme der Personalien, solange sie noch keine Straftaten begangen haben. Ob das gelingt, wird man sehen.....

Bei einem Rundgang durchs Protestcamp vor einer Woche, der Matsch machte schmatzende Geräusche unter seinen Schuhen, sagte Florian Özcan: „Die Räumung ist eine Stresssituation – für uns, für die Polizei und auch für die RWE-Securitys. Da sind überall viele junge Leute dabei, die so was ja auch nicht täglich machen.“ Dann blieb er am Outdoor-Badezimmer stehen, ein Holzgestell mit Wasserleitung und Abtropfrinne, davor das Schild „Bei Frost Wasserhahn tropfen lassen“. Sich stundenlang auf Zufahrtsstraßen kleben, bei Wind und Wetter auf dreibeinigen Holzkonstrukten ausharren, sich im Baumhaus festketten – jeder Aktivist habe eine feste Bezugsgruppe während der Räumung. Also Menschen, die ihn auch psychosozial unterstützen.

Der Verfassungsschutz ordnet die meisten Aktivisten in Lützerath dem bürgerlichen Spektrum zu, doch er macht auch mindestens dreißig Gewaltbereite aus. Florian Özcan sagt: „Wir versuchen hier, Diversität abzubilden. Vermummte, weiße Typen, die Autoreifen anzünden und schreien, bilden unseren Protest nicht ab.“ Diese martialischen Bilder von brennenden Barrikaden vom vergangenen Montag gingen trotzdem um die Welt. Zu den Steinewerfern sagt er nur das: „Jeder muss für sich entscheiden, wie er den Widerstand organisieren will.“ Jede Hilfe sei wichtig, ob sich jemand festklebe, auf einem Tri- oder Monopod sitze oder Essenlieferungen koordiniere. Die Hälfte des Camps bestehe aus Frauen, das Durchschnittsalter schätzt Özcan auf dreißig Jahre. Sie versuchen, ihren Protest vor allem über die sozialen Netzwerke zu organisieren.

Özcan betreut den Livestream zur Räumung, allein eine halbe Million Accounts erreichten sie auf Instagram. Ihre Handys laden die Camp-Bewohner über Solaranlagen, anderen Strom gibt es nicht mehr. „Tiktok fehlt uns noch, da kämen Tänze hinter Barrikaden sicher gut an“, sagt Özcan und grinst. Im „Aktionsticker“ auf Telegram, dem Tausende folgen, wird quasi jede Bewegung der Polizei gepostet und kommentiert.

Und manch eine Unterstützung kommt von nebenan. Von Menschen wie Roman Heckt aus Aachen zum Beispiel. Mit einem Plakat in der Hand steht der 55-jährige Ingenieur am Sonntag nahe der Abbruchkante und schaut auf die Mondlandschaft. Da fällt ihm ein, was RWE irgendwann aus dieser Landschaft machen will:„Einen großen See“, sagt er leise, „was soll das?“

Menschen wie Roman Heckt und seine Frau Annette werden am Ende wohl entscheiden, wie der Kampf um Lützerath für die Grünen ausgehen wird. Er ist Mitglied, sie sympathisiert mit der Partei – und beide haben am Sonntag spontan einen Reisebus organisiert, um 48 Menschen nach Lützerath zu bringen. Zum Protest gegen die Politik der eigenen Leute.

Nein, Roman Heckt ist nicht ausgetreten aus der Partei wegen Lützerath. Er ist Pragmatiker, „mit achtzehn Prozent der Stimmen in NRW können wir nicht hundert Prozent der Politik bestimmen“, sagt er. Die Ministerin, der Polizeipräsident, die steckten halt auch in ihren Zwängen. So wie die Heckts haben die meisten Grünen in Aachen auf die Nachricht vom Fall des Dorfs reagiert: Ungefähr 700 Mitglieder zählt der Ortsverband, nach Neubaurs Ankündigung von der Zerstörung Lützeraths traten sechs aus. Untergang droht da nicht.

Nur, Lützerath aufgegeben haben auch die Heckts noch nicht. Niemand wisse doch momentan genau, wie viel Kohle man noch brauche. Der Gaspreis, der Ausbau der Windkraft – alles unklar. Aufgabe der Politik „und zumal der Grünen“ sei es jetzt, „den Schaden fürs Klima so klein wie möglich zu halten“, sagt er. Jedes Gramm Kohle sei eins zu viel, deswegen fordern er und seine Frau: Die Regierung solle halbjährlich prüfen, ob das Flöz unter Lützerath wirklich gebraucht werde. Und sie solle das Dorf stehen lassen. Vorerst zumindest.

Die Heckts werden kommenden Samstag wieder nach Lützerath fahren, zur nächsten Demo. Und wieder einen Bus anmieten. Es sind Geschichten wie diese, die Florian Özcan Mut machen. Er ist sich jedenfalls sicher, dass Lützerath noch nicht verloren ist.

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