hier perspective daily 6.6.25
Wer sich fragt, warum Faschist:innen und Autokrat:innen wie Trump derzeit so erfolgreich sind,kommt an einem Begriff nicht vorbei, meint Harvard-Professorin Michèle Lamont:
Anerkennung.
Seit 40 Jahren erforscht die Soziologin die Mechanismen sozialer Ungleichheit in den USA und neuerdings auch in Europa. In ihrem neuesten Buch »Seeing Others« fordert sie dazu auf, den Wert eines Menschen nicht länger am Ausbildungsniveau, Job oder Kontostand zu messen. Was das mit Neoliberalismus, TV-Serien wie »White Lotus« und der extremen Rechten zu tun hat, verrät Lamont im Interview.
Über Michèle Lamont
Michèle Lamont ist Kultursoziologin an der US-Universität Harvard, die sich mit Moral, Gruppengrenzen und Ungleichheit beschäftigt. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter »The Dignity of Working Men« (2000) und »Seeing Others« (2024). In letzterem untersucht Lamont die Macht der Anerkennung. Dabei stützt sie sich auf fast 40 Jahre Forschung und Interviews mit jungen Erwachsenen aus der Gen Z, Filmemacher:innen und Aktivist:innen, die Anerkennung bewusst praktizieren. Sie zeigt, wie wichtig neue Narrative sind, damit alle Menschen Respekt erfahren und ihre Würde behaupten können.
Perspective Daily: In Ihrem Buch geht es um Anerkennung. Woran machen Menschen fest, ob sie anerkannt werden oder nicht?
Michèle Lamont: Anerkennung, oder Nichtanerkennung, zeigt sich im Alltag, etwa in Begegnungen mit anderen. Frauen, die am Arbeitsplatz mit paternalistischen Kollegen zu tun haben, die sie so behandeln, als ob sie weniger kompetent seien – das ist ein Beispiel. Erfahrungen wie diese erzeugen Gefühle von Unsichtbarkeit, Stereotypisierung, Unterschätzung.
Auch Repräsentation in den Medien spielt eine Rolle: Wenn Medien bestimmte Gruppen einseitig oder klischeehaft zeigen, kann das verletzen.
Ähnlich ist es mit politischen Entscheidungen. Wenn etwa umweltschädliche Projekte systematisch in arme oder marginalisierte Viertel verlagert werden – wie häufig in afroamerikanischen Communitys in den USA –, sendet das eine klare Botschaft: Eure Gruppe steht ganz unten in der gesellschaftlichen Rangordnung. Auch das kann schmerzhaft sein.
Welche Folgen hat mangelnde Anerkennung?
Michèle Lamont: Epidemiologen sprechen über die sogenannte »allostatische Last«, was so viel bedeutet wie die körperliche Abnutzung durch chronischen Stress. Das Konzept beschreibt, wie der Körper durch den Alltag abgenutzt wird – insbesondere dann, wenn man ständig Rassismus und Ungleichheit ausgesetzt ist. Dies kann gesundheitliche Probleme nach sich ziehen.
Sie sagen, in den USA erfahre vor allem die Arbeiter:innenklasse wenig Anerkennung – etwa in Filmen, die sich zum Großteil um die obere Mittelschicht drehen. Dabei gab es zuletzt einige Filme und Serien, die die Lebenswelt von Arbeiter:innen aufgreifen: »The Bear«, »Parasite«, »Perfect Days«, »Nomadland«. Ist das nicht ein Fortschritt?
Michèle Lamont: Das sind gute Beispiele, aber einige trügen. »The Bear« erzählt von einem Fastfood-Laden, ziemlich heruntergekommen und chaotisch – das stereotype Abbild eines »Arbeiter-Schuppens«. Doch der Hauptcharakter schafft den Aufstieg zum gefeierten Koch. Es ist die klassische Erzählung vom American Dream. Fast nichts darin würdigt das Leben der Arbeiterklasse.
Gleichzeitig gibt es Serien – wie »White Lotus« oder »Succession« – die Superreiche als lächerlich oder verachtenswert darstellen. Aber sie bieten »Eye Candy«, haben eine aspirative Wirkung. Wer White Lotus schaut, denkt: »Dort würde ich auch gern hinreisen.«
Wie definieren Sie die Arbeiter:innenklasse?
Michèle Lamont: In meiner Forschung definieren wir Arbeiter als Menschen ohne Hochschulabschluss – weil genau dieser Abschluss in den USA eine Art Kastengrenze markiert. Wer ihn nicht hat, ist von vielen Berufen ausgeschlossen, die spezielles Fachwissen erfordern – von Hightech-Jobs bis hin zu traditionellen freien Berufen in Medizin und Recht. Die obere Mittelschicht umfasst dagegen akademisch qualifizierte Fachkräfte und Führungspersonal.
Allerdings ist die Selbstwahrnehmung häufig eine andere. Viele Arbeiter bezeichnen sich als Mittelschicht, sobald sie ein Eigenheim besitzen. Ein eigenes Haus bedeutet: Ich habe es geschafft, ich gehöre zum »Mainstream«.
Gleichzeitig fehlt oft die Sprache, um sich überhaupt als Klasse zu begreifen. Für junge Arbeiter, die wir kürzlich in New Hampshire befragt haben, sind Begriffe wie »Gewerkschaft« abstrakt oder ganz aus ihrem Sprachgebrauch verschwunden. Die historisch gewachsenen Konzepte, mit denen Menschen ihre soziale Lage beschreiben konnten, erodieren.
Populist:innen und Rechtsextreme inszenieren gerne einen Kulturkampf: Trump-Wähler:innen hier, LGBTQ+-Community dort – als wären das gegensätzliche Lager. Dabei, so argumentieren Sie, ähneln sich ihre Anliegen. Wie?
Michèle Lamont: Ob MAGA, MeToo oder Black Lives Matter – im Grunde sind sie das Gleiche: Gruppen, die sagen: »Wir wurden übersehen, unsere Würde verletzt.« Jetzt fordern wir Anerkennung ein.
Warum tun sie das nicht zusammen?
Michèle Lamont: Weil Anerkennung oft als begrenzte Ressource wahrgenommen wird – als müsste man sie aufteilen wie einen Kuchen, bis nichts mehr übrig ist. Dabei könnten sehr wohl verschiedene Gruppen gleichzeitig wertgeschätzt werden, auch wenn sie unterschiedliche Erfahrungen machen. Es ist kein Nullsummenspiel.
Komplexer wird es allerdings, wenn Anerkennung mit Zugang zu Ressourcen verknüpft ist. Beispiel Elektromobilität: Für viele Arbeiter sind Elektroautos zu teuer. Sie sind wütend, dass die Regierung Fahrzeuge subventioniert, die sie selbst nie kaufen können.
Eine Analogie hilft, das zu verstehen: Ein Kind bekommt zum Geburtstag ein Geschenk. Das Geschwisterkind fragt: »Und ich?« Die Antwort: »Dein Geburtstag ist später, dann bekommst auch du ein Geschenk.« Wenn es genügend gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt, kann man unterschiedlichen Gruppen vermitteln: »Jetzt seid nicht ihr dran, aber eure Zeit wird kommen.« Das funktioniert – aber es ist schwer in einer Zeit, in der viele Menschen sehr akut unter Ressourcenknappheit leiden, wie derzeit in den USA.
Wäre es vor dem Hintergrund dieser Ressourcenknappheit nicht wichtiger, auf materielle Umverteilung zu setzen statt auf Anerkennung?
Michèle Lamont: In der Sozialwissenschaft wurden Anerkennung und Ressourcenverteilung oft gegeneinander ausgespielt, dabei gehen sie Hand in Hand. Menschen einen anständigen Lohn zu zahlen, verleiht ihnen Anerkennung. Es gibt dabei kein Entweder-oder.
Anerkennung ist aber auch ohne Verteilung wichtig. Sichtbar zu sein, für die eigenen Beiträge anerkannt zu werden, fördert das Gefühl von Wert und Würde.
Sie sagen, dass die Kluft zwischen denjenigen, denen Anerkennung zugesprochen wird, und denjenigen, denen diese verwehrt wird, eine Folge des Neoliberalismus ist. Inwiefern?
Michèle Lamont: Mit Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien begann eine neoliberale Politik, die alles dem Profitstreben unterordnete. Unternehmen wurden gestärkt, um ihre Gewinne zu steigern – mit dem Versprechen, der Wohlstand würde »nach unten durchsickern«. Das passierte nie. Stattdessen stieg die Ungleichheit rapide, Ressourcen konzentrierten sich in den obersten Schichten.
Der Neoliberalismus hat ebenfalls bewirkt, dass sich ein bestimmter Mythos darüber verfestigt hat, wer Anerkennung verdient. Und dieser Mythos basiert im Wesentlichen auf Meritokratie, Wettbewerbsdenken und dem, was ich im Buch als »neoliberale Skripte des Selbst« bezeichne. Das heißt: Um als wertvoll zu gelten, musst du einen Uniabschluss, Erfolg im Beruf, ein Eigenheim haben.
Viele können diesen Mythos aber niemals ausleben.
Michèle Lamont: Vor allem für die jüngeren Generationen ist der American Dream längst unrealistisch geworden, daher brauchen sie neue Visionen. Für mein Buch hat mein Forschungsteam Vertreter der Gen Z interviewt, die sagen: »Ich will mein bestes Leben jetzt leben – nicht in 20 Jahren.« Für sie heißt das: Authentisch sein, echte Beziehungen führen. Dazu gehört auch Inklusivität. Vieles, was heute als »Woke Culture« verspottet wird, ist für sie schlicht das Recht auf Anerkennung. Sie wollen, dass alle Menschen so leben können, wie sie es möchten – und nicht etwa gezwungen sind, ihre Identität zu verstecken, wenn sie einer stigmatisierten Gruppe angehören.
Sie argumentieren, dass Autoritäre wie Trump die Sehnsucht nach Anerkennung ausnutzen. Wie lässt sich damit sein Aufstieg erklären?
Michèle Lamont: Natürlich ist das nicht die ganze Erklärung. Viele Faktoren spielen eine Rolle, etwa die Tatsache, dass politische Parteien als Institutionen immer schwächer werden. Dass die MAGA-Bewegung in der Lage war, die Kontrolle über die Republikanische Partei zu übernehmen, liegt auch daran, dass die Partei selbst sehr schwach war.
Aber die Frage nach Anerkennung hat sicherlich zum Aufstieg von Trump beigetragen. Er ist unter anderem deshalb erfolgreich, weil Arbeiter den Eindruck haben, dass sich ihre wirtschaftliche Lage und Position am Arbeitsmarkt verschlechtert. Als Konsequenz fühlen sie sich vom Staat vernachlässigt. Trump nutzt das geschickt aus: Schon 2016 zielte er in seinen Wahlkampfreden klar darauf ab, die Arbeiterklasse aufzuwerten – etwa indem er sagte: »Ich weiß, dass ihr das Rückgrat der amerikanischen Gesellschaft seid; ihr seid respektable, hart arbeitende Menschen.« Migranten karikierte er als Feinde, die Jobs wegnehmen.
Bei der Wahl 2024 sprach Trump über den Preis von Bacon, etwas klischeehaft Maskulines und Arbeitermäßiges. In einer Zeit, in der Esskulturen auch eine Frage der Klasse sind, hat er damit voll ins Schwarze getroffen. Auch wenn er »Grab ’em by the pussy« sagt oder droht, Migranten in Gefängnisse in El Salvador zu schicken, bedient er sich einer vulgären Sprache, die in Teilen der Arbeiterkultur in direktem Gegensatz zur bürgerlichen Kultur der Respektabilität steht. Die Vorstellung, dass man den »anderen« richtig eins reinwürgt, kommt hier gut an.
Warum schaffen es die Demokraten nicht, dagegenzuhalten?
Michèle Lamont: Trump ist deutlich näher dran am »Habitus« der Arbeiterklasse als die Demokraten. Die versagen, weil sie so stark mit grünem Lebensstil, Vegetarismus, Umweltbewusstsein, Schlanksein usw. assoziiert sind – alles Dinge, mit denen große Teile der Arbeiterklasse nichts anfangen können.
Im Wahlkampf haben die Demokraten viel über Demokratie, Abtreibungsrechte und freie Wahlen gesprochen – während viele Arbeiter vor allem um ihren Lebensstandard besorgt waren. In der Partei gibt es nur wenige, die überhaupt eine Vorstellung davon haben, wie das Leben der amerikanischen Arbeiter aussieht. Denn die meisten kommen selbst aus sehr privilegierten Verhältnissen. Das sind Leute wie ich: akademisch ausgebildet, beruflich etabliert, mit Eigenheim und genug Geld, um ihren Kindern das Studium zu finanzieren. Die Kluft zwischen ihrer Lebensrealität und der eines durchschnittlichen Arbeiters ist riesig.
Dabei hat auch Trump mit der Arbeiterklasse wenig gemein. Er bewegt sich unter Oligarchen und Big-Tech-Milliardären.
Michèle Lamont: Trump wurde von der Elite in New York nie akzeptiert – und er erwidert diese Ablehnung. Das hilft ihm dabei, sich mit dem »einfachen Volk« zu verbinden, sich als einer »von unten« zu inszenieren.
Und weil Trump den erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmann verkörpert, entspricht er einem kulturellen Ideal. Auch wenn er mehrfach bankrottgegangen ist. Dieses Bild zieht. Ich denke, das ist auch der Grund, warum er viele Einwanderer anspricht. Denn niemand glaubt so sehr an den amerikanischen Traum wie Einwanderer – immerhin ist das meist der Grund, warum sie in die USA kommen.
Seine Machtausübung folgt zudem einem »mafiosen«, patriarchischen Muster: Er verteilt Belohnungen, tut Gefallen, bestraft diejenigen, die ihm nicht huldigen – wie ein Padre Padrone. Das entspricht dem autoritären Staatsverständnis vieler Menschen. Hier müssen wir aber noch mehr forschen: Was halten Arbeiter für eine legitime Form von Macht? Glauben sie, dass Macht grundsätzlich korrupt ist und dass das, was Trump macht, völlig normal ist?
Trumps Politik widerspricht in weiten Teilen den Interessen der amerikanischen Arbeiter:innen. Sehen sie das nicht – oder spielt es in ihrem Frust und in ihrer Existenzangst keine Rolle?
Michèle Lamont: Der Umstand, dass Arbeiter nicht studiert haben, bedeutet, dass ihnen oft der Zugang zu abstraktem, sozialwissenschaftlichem Wissen fehlt. Stattdessen beziehen vor allem junge Arbeiter ihr Wissen zunehmend über soziale Medien, Podcasts und Influencer – Kanäle, die häufig mit Desinformation oder Verschwörungstheorien durchsetzt sind. Und sobald man sich einmal auf Verschwörungstheorien einlässt, ist nichts mehr widerlegbar, weil »alles« Teil der Verschwörung ist.
Eine große Rolle spielt dabei auch das fehlende Wissen darüber, was verlässliche Informationen sind, wie man Quellen einordnet und kritisch hinterfragt. Ich selbst habe einen PhD, lehre an Harvard. Mein ganzes Leben dreht sich um Expertise. Wer keinen Hochschulabschluss hat, kann versuchen, Expertise zu »performen«, ohne sie tatsächlich zu besitzen. Viele der Arbeiter, die wir in New Hampshire interviewt haben, waren regelrecht besessen davon, sich als Experten zu präsentieren. Damit wollen sie Anerkennung erlangen, selbst wenn ihre Informationen falsch sind. Manche ahmen dabei das Verhalten der Mittelschicht nach, ohne die nötigen Mittel und Werkzeuge zu haben.
Kann man das verallgemeinern? Ich würde vermuten, dass auch viele Menschen mit Uniabschluss nicht immun sind gegen Verschwörungstheorien und dass Menschen ohne Abschluss sehr wohl das nötige Wissen haben, diese zu durchschauen.
Michèle Lamont: Dies gilt für mehrere der von uns befragten Personen, aber natürlich nicht für alle Arbeiter.
Bei der Bundestagswahl in Deutschland haben 38% aller Arbeiter:innen die AfD gewählt – deutlich mehr als vor 4 Jahren. Als Gründe geben die Wählenden »Einwanderung« oder »innere Sicherheit« an; der Begriff Anerkennung taucht nicht auf. Wie erklären Sie sich das?
Michèle Lamont: Beides sind Codewörter: Sicherheit steht für islamistischen Terrorismus, Einwanderung für den Wunsch, das, was war, wiederherzustellen, für Ordnung und Kontrolle. Es geht um die Verteidigung der eigenen Position, um das Gefühl: Wir zuerst.
Trump bedient das strategisch. Wenn er sich gegen die Ukraine, Gaza, oder Einwanderer positioniert, lautet seine Botschaft immer: Die Ressourcen gehören uns – den gebürtigen Amerikanern. Das spricht Menschen an, die in prekären Verhältnissen leben. Und wie prekär amerikanische Arbeiter leben, kann man gar nicht genug betonen. Unter den Menschen, die wir interviewt haben, haben viele 2 Jobs, nur um ihre Wohnung nicht zu verlieren. Der Wohnungsmangel ist groß, Wohnraum extrem teuer.
Glauben Sie, dass europäische Wohlfahrtsstaaten bessere Bedingungen für die Verteilung von Anerkennung bieten als das stärker individualisierte US-System?
Michèle Lamont: Im Herbst habe ich Finnland besucht – das Land an der Spitze des Weltglücksberichts. Ein Grund, warum Finnland so gut abschneidet, ist das politische System: Viele politische Entscheidungen werden im Sinne des Durchschnittsbürgers getroffen, Arbeiter haben also nach wie vor ein starkes soziales Sicherheitsnetz.
In den USA ist das Sicherheitsnetz weitgehend verschwunden, mit Ausnahme der Sozialversicherung und einer schwachen Form der Krankenversicherung. Stattdessen erleben wir »Deaths of Despair«: Menschen empfinden so viel Angst angesichts der steigenden Kosten für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung und ihrer sinkenden Kaufkraft, dass sie einen Ausweg in Alkohol, Drogen und Suizid suchen.
Spiegelt sich das auch in den Wahlergebnissen wider? Wählen finnische Arbeiter:innen seltener rechtsextrem?
Michèle Lamont: Die rechtspopulistische Partei »Wahre Finnen« erhält natürlich Stimmen, aber immer noch weniger als vergleichbare Parteien in vielen anderen europäischen Gesellschaften.
Im Buch beschreiben Sie, dass »Change Agents«, also Akteur:innen des Wandels, Anerkennung neu verteilen können. Wer sind diese Change Agents?
Michèle Lamont: Die Öffentlichkeit wird geprägt durch verschiedene Akteure, die Narrative erzeugen und verbreiten. Diese Narrative vermitteln, wer wertvoll ist und wer nicht. Zu den Akteuren gehören zum Beispiel Universitäten. Dass Trump nun so verbissen gegen Universitäten vorgeht, zeigt, wie mächtig diese sind: Sie verbreiten Weltanschauungen, die seiner Vorstellung von der Gesellschaft widersprechen. Andere einflussreiche Akteure sind etwa die Unterhaltungsindustrie, Stiftungen, Massenmedien und Prominente. Für Gen Z zählen dazu Personen wie Greta Thunberg, Bernie Sanders und Colin Kaepernick. Für die Arbeiterklasse denke ich an Tim Walz, Kamala Harris’ Vizepräsidentschaftskandidat – Menschen, die Arbeiter sprachlich erreichen können, ohne das akademisch geprägte Vokabular zu nutzen, das ich verwende.
Sie sagen, wir brauchen mehr »ordinary universalism« (gewöhnlichen Universalismus) – was genau meinen Sie damit?
Michèle Lamont: »Ordinary universalism« beschreibt das, was wir als gemeinsames Fundament für alle Menschen ansehen. Entwickelt habe ich dieses Konzept, nachdem ich in den 90ern nordafrikanische Migranten in Frankreich interviewte. Viele der Männer, mit denen ich sprach, waren nicht sehr gebildet. Sie kamen aus Marokko oder Algerien, ließen ihre Familien und ihre Heimat zurück, um in Frankreich unter harten Bedingungen zu arbeiten. Ich fragte sie: »Worin ähneln Sie den Franzosen und worin unterscheiden Sie sich?« Sie sagten: »Wir sind alle Kinder Gottes. Wir stehen morgens auf, um unser Brot zu kaufen. Wir waren alle 9 Monate im Bauch unserer Mutter.«
Das zeigt, dass ganz normale Menschen klare Vorstellungen davon haben, was uns verbindet. Viele Angehörige der Gen Z betonen genau das heute wieder stark. Sie sagen: »Wir sind alle Menschen« – und sie wollen sich auf dieser Basis miteinander verbinden. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob jemand trans ist oder keinen Aufenthaltsstatus hat – am Ende geht es darum, in gegenseitiger Solidarität zu leben. Das hat viel mit Empathie zu tun, mit Altruismus – und ehrlich gesagt auch mit zutiefst christlichen Vorstellungen von Fürsorge.
Neulich hörte ich eine CDU-Politikerin in Bezug auf Geflüchtete in Deutschland sagen: »Wir müssen füreinander da sein.« Auch wenn ihre Partei nicht gerade für progressive Politik steht, hat sie in diesem Fall eine Sprache des »ordinary universalism« verwendet.
Was können einzelne Menschen tun, um Anerkennung besser zu verteilen – insbesondere diejenigen, die bereits Anerkennung genießen?
Michèle Lamont: Eine Möglichkeit besteht darin, unser Verständnis davon zu erweitern, was und wer als »wertvoll« gilt. Dafür braucht es Selbstreflexion: Wir müssen erkennen, wie wir neoliberale Ideen von Konsum, sozialem Status und Wettbewerbsfähigkeit verinnerlicht haben – und andere Formen von Wert und Würde anerkennen lernen.
Dabei spielt auch die kulturelle Produktion eine Rolle, etwa in Hollywood. Der Film »Roma« ist ein gutes Beispiel: Er zeigt das Leben von Hausangestellten in einer Mittelklassefamilie in Mexiko-Stadt – und humanisiert sie. Eine der Figuren ringt etwa mit der Entscheidung, ob und wie sie eine Abtreibung vornehmen lassen kann. Solche Erzählungen können dazu beitragen, Vorurteile aufzubrechen.
Ein weiterer Ansatz ist, gezielt zu lernen, wie sich Stigmatisierung abbauen lässt – wie es etwa in der Auseinandersetzung mit HIV/AIDS passiert ist – und wie wir das in Zukunft erreichen können.
Und dann gibt es den Gedanken des »ordinary universalism« – ein Verständnis, das man bei vielen in der Gen Z schon heute findet.
Was ist, wenn ich selbst einer Gruppe angehöre, die wenig Anerkennung erfährt – aber die Dynamiken und Gefahren erkenne, die von Figuren wie Trump oder Parteien wie der AfD ausgehen? Was kann ich tun?
Michèle Lamont: Widerstand beginnt oft im Kleinen – zum Beispiel damit, solidarische Beziehungen zu anderen aufzubauen und sich Bewegungen anzuschließen, die für Gerechtigkeit kämpfen. Wenn die Parteienlandschaft das nicht hergibt, ist es wichtig, außerhalb dieser Strukturen aktiv zu werden: soziale Bewegungen stärken – auch wenn das heißt, neue Wege zu gehen, jenseits klassischer Institutionen.
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