Endlich ist es soweit und wir erfahren die Ergebnisse des ersten Bürgerrates!
hier Von Lenz Jacobsen 14. Januar 2024,
Bürgerrat Ernährung: Teureres Fleisch, günstigeres Bio und Energydrinks ab 16
Geloste Bürger haben für den Bundestag neun Empfehlungen zur Ernährungspolitik erarbeitet. Sie fordern etwa kostenloses Schulessen sowie ein Lebensmittel-Label.
Von September bis Januar hat der Bürgerrat Ernährung im Wandel im Auftrag des Bundestags dazu beraten, was sich an der Ernährungspolitik in Deutschland ändern soll. Das Gremium ist das erste dieser Art, das direkt vom Parlament beauftragt und organisiert wurde. Heute übergibt es seine Empfehlung an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Die Ergebnisse sind nicht bindend, sollen den Abgeordneten aber helfen.
ZEIT ONLINE hat einzelne Sitzungen begleitet, stellt hier die Ergebnisse vor und erklärt den Prozess.
Was empfiehlt der Bürgerrat Ernährung?
Neun Punkte schlägt der Bürgerrat vor. Alle haben eine klare Mehrheit bekommen und wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vor anderen Forderungen priorisiert. Das heißt: Forderung eins ist ihnen wichtiger als Forderung zwei, und so weiter.
1. Kostenfreies, gutes Mittagessen in Kitas und Schulen: Der Bürgerrat sieht das als "Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit" und möchte, dass mindestens 30 Prozent Bio auf den Tisch kommt. Finanziert werden soll das Essen mindestens zur Hälfte vom Bund, zudem aus schon laufenden Förderprogrammen. Auch zukünftige Kindergelderhöhungen könnten direkt für das Essen ausgegeben werden, statt an die Eltern zu fließen. Das Thema liegt allerdings bisher eher in der Landes- als in der Bundespolitik. Für die Umsetzung gibt der Bürgerrat der Politik acht Jahre Zeit, als Erstes sollen die Kita-Kinder dran sein.
2. Ein verpflichtendes staatliches Lebensmittel-Label: "Man soll in drei Sekunden erkennen, ob das Lebensmittel unbedenklich ist", schreiben die Bürgerrätinnen und Bürgerräte. Das Label soll Tierwohl, Klima und Gesundheit einzeln berücksichtigen. Das Ziel ist, dass irgendwann auf allen Produkten in Europa das gleiche Label klebt – und zwar vorn auf dem Produkt, alle anderen Label dürfen nur noch auf die Rückseite. Deutschland solle schon mal "schnellstmöglich" anfangen und eine "Vorreiterrolle" einnehmen, indem es das Label "schnellstmöglich verpflichtend" einführt.
3. Große Supermärkte dürfen kein Essen mehr wegschmeißen: Ab einer Größe von 400 Quadratmetern sollen Supermärkte verpflichtet werden, das Essen, das sie nicht mehr verkaufen wollen, aber noch genießbar ist, an Tafeln und andere gemeinnützige Organisationen weiterzugeben. Wer sich daran nicht hält, muss dann eine Geldstrafe zahlen.
4. Neues, verpflichtendes Tierwohllabel: Von der Geburt über Aufzucht, Haltung, Transport bis zur Schlachtung soll der gesamte Lebenszyklus des Tieres im Label abgebildet werden. Wo kommt es her, was waren seine Lebensbedingungen? Für Fisch gilt das Gleiche.
5. Weniger Steuern auf gesundes und klimaschonendes Essen: Obst aus der EU in Bioqualität, Obst und Gemüse, das nicht der optischen Supermarktnorm entspricht, Hülsenfrüchte, Nüsse, Vollkorngetreide: Auf diese Produkte soll keine Mehrwertsteuer mehr fällig werden. Auch will der Bürgerrat die Liste der Grundnahrungsmittel erweitern, für die nur sieben Prozent Mehrwertsteuer anfällt – um pflanzliche Milchersatzprodukte, Fleischersatzprodukte und alle Biolebensmittel. Zucker soll aus der Liste rausfliegen und bald 19 Prozent Steuern kosten. Fleisch soll anders als bisher erst ab der besseren Haltungsform drei in die günstigere Sieben-Prozent-Gruppe fallen.
6. Gesünderes Essen in Krankenhäusern und Pflege- und Seniorenheimen: Auch die Heime und Kliniken sollen sich zukünftig an die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung halten. Dafür soll die Politik unter anderem eine Untergrenze festlegen, wie viel pro Tag fürs Essen zur Verfügung steht.
7. Neue Abgabe auf tierische Produkte, "Tierwohlprämie" für Landwirtschaft: Eine neue "Verbrauchsabgabe auf tierische Produkte" soll Zahlungen an Landwirte finanzieren, die ihre Tiere besonders gut behandeln. "Je besser die Haltungsform, desto höher soll die Prämie sein", schreiben die Bürgerräte. Dafür sollen Verbraucher pro Kilo Fleisch 40 Cent mehr zahlen, zwei Cent pro Liter Milch und jedes Ei sowie 15 Cent mehr für jedes Kilo Käse, Butter und Milchpulver.
8. Energydrinks erst ab 16 Jahren: "Die Gesundheitsschäden und das Suchtpotential sind ähnlich gravierend, wie bei Zigaretten und Alkohol", begründet der Bürgerrat seine Forderung. Zudem soll es "durch Farbe deutlich abhebbare Warnhinweise" auf den Drinks geben. Auch ein Verbot für die 16- bis 18-Jährigen soll noch "wissenschaftlich geprüft" werden.
9. Mehr und transparentere Lebensmittelkontrollen: Die Zugangsvoraussetzungen zur Fortbildung zum Lebensmittelkontrolleur sollen vereinfacht werden und auch solche ohne Meisterprüfung in dem Bereich sollen Kontrollen durchführen können. Denn bisher wird "zu wenig kontrolliert", findet der Bürgerrat. Die Ergebnisse der Kontrollen sollen an den Betrieben "gut ersichtlich" ausgehängt werden, zum Beispiel als Emoji oder Ampelsystem.
Zudem erklären die Bürgerräte: "Begleitende Aufklärung und Bildung" sei notwendig für alles, was der Bürgerrat fordere. Besonderen Bedarf sehen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hier zu den Themen: gesunde und bezahlbare Ernährung, die Folgen falscher Ernährung, Herkunft und Lieferketten, Label, Lebensmittelverschwendung, Tierwohl und bei der Zubereitung von Lebensmitteln.
Eine besonders umstrittene und während des Bürgerrats heiß diskutierte Forderung bekam knapp keine Mehrheit: Eine gestaffelte Zuckersteuer auf Getränke, für die im Gegenzug der Mehrwertsteuersatz auf Wasser komplett wegfallen sollte, wurde mit 51 Prozent Neinstimmen abgelehnt.
Wer sitzt im Bürgerrat Ernährung?
159 Menschen, die in ihrer Zusammensetzung Deutschland abbilden sollen. Die Auswahl lief so: 18.916 Personen über 16 Jahren aus 82 Gemeinden wurden ausgelost und angeschrieben, ob sie mitmachen wollten. Davon haben 2.220 Ja gesagt. Aus diesen hat dann eine Software 1.000 verschiedene Kombinationen von Leuten zusammengestellt, die der Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung entsprechen. Zumindest, was Geschlecht, Alter, Wohnort, Bildungsgrad angeht. Dass er so auch Menschen mit geringerem Bildungsgrad erreicht, ist eine besondere Stärke des Bürgerrats. Denn bei anderen Formen der Mitmachpolitik, bei Bürgerinitiativen und in Parteien, geben tendenziell Akademiker den Ton an.
Außerdem gibt es in diesem speziellen Bürgerrat eine Vegetarier- und Veganerquote: 2,5 Prozent der Teilnehmenden sind Veganerinnen oder Veganer, zehn Prozent Vegetarier. So hoch ist auch ihr Anteil unter allen Deutschen. Die Organisatoren wollen so den Verdacht ausräumen, der Bürgerrat sei in dieser so wichtigen Ernährungsfrage in die eine oder andere Richtung verzerrt.
Wer welcher Partei nahesteht, wird aber nicht abgefragt. Ob die Zusammensetzung des Bürgerrats hier dem Wahlverhalten der Deutschen entspricht, ist also ungewiss. Es ist möglich, dass sich Anhänger von Parteien, die den Bürgerrat komplett ablehnen (AfD) oder ihn teils skeptisch sehen (Union, kleinere Teile der FDP), seltener mitmachen. Von den 1.000 Kombinationen wurde dann eine ausgelost und umgesetzt.
17 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind während des laufenden Bürgerrats ausgestiegen, zwei davon unter Protest gegen vermeintlich einseitige Moderation. Der Rest hat nach Angaben der Veranstalter aus privaten Gründen nicht weitergemacht. Wegen Krankheit und Streiks schafften es einige nicht zur letzten Sitzung nach Berlin, sodass am Ende 113 Bürgerrätinnen und Bürgerräte über die Empfehlungen abstimmten.
Wie ist der Bürgerrat zu seinen Ergebnissen gekommen?
Die Mitglieder haben sich dreimal für je ein Wochenende in Berlin getroffen, im September, November und jetzt im Januar. Dazwischen gab es sechs Online-Sitzungen. Rechnet man alles zusammen, kommt man auf mehr als 70 Stunden. Es gab Plenumsrunden mit allen Teilnehmern, aber auch viele Kleingruppensitzungen mit weniger als zehn Teilnehmern. In den Räumen des Tagungshotels in Berlin wurden dafür extra aufblasbare Besprechungszimmer installiert, damit alle Gruppen überhaupt Platz hatten und es nicht ein einziges Stimmengewirr war.
Moderatorinnen und Moderatoren haben beim Diskutieren geholfen, Wissenschaftler und andere Experten haben vor allem zu Anfang Vorträge zum Thema gehalten und später die vielen Fachfragen beantwortet, die bei den Diskussionen aufkamen.
Organisiert wurde der Bürgerrat von einer neuen Stabsstelle in der Bundestagsverwaltung. Geholfen haben dann mehrere Unternehmen, die auf solche Beteiligungsprozesse spezialisiert sind und schon einige Bürgerräte durchgeführt haben. Das Überthema Ernährung im Wandel hat der Ältestenrat des Bundestags festgelegt und die Abgeordneten dann beschlossen. Es sollte möglichst konkret und lebensnah sein, weil die Erfahrungen zeigen, dass Bürgerräte dann besser funktionieren.
Der Bürgerrat hat das Thema dann auf drei Unterthemen runtergebrochen und so lange diskutiert, bis daraus erst neun "Maßnahmenkörbe" wurden und am Ende die zehn konkreten Vorschläge. Über die wurde dann im Plenum abgestimmt. Die Organisatoren und Moderatoren haben den Ablauf zwar vorgeplant, der Bürgerrat konnte aber auch selbst Einfluss darauf nehmen.
Da der Bürgerrat den Bundestag beraten soll, sind einige Themen gleich weggefallen: Für europäische Vorgaben zum Tierschutz und zur Landwirtschaft ist Berlin beispielsweise nicht zuständig.
Wie geht es nun weiter?
Der Bürgerrat berät den Bundestag nur, seine Beschlüsse haben keinerlei bindende Wirkung. Schließlich darf nur das gewählte Parlament Gesetze bestimmen. Versprochen haben die Abgeordneten dem Rat aber, dass es zu den Ergebnissen erstens eine Aussprache im Bundestagsplenum geben wird. Und dass diese zweitens danach in den zuständigen Ausschüssen (federführend dem für Ernährung und Landwirtschaft) überwiesen werden. Die Ausschüsse empfehlen dann in der Regel dem Parlament, wie es entscheiden soll. Gut möglich, dass am Ende keiner der Beschlüsse des Bürgerrats tatsächlich Gesetz wird. Aber darum geht es auch nicht in erster Linie.
Im Einsetzungsbeschluss des Bundestags heißt es, der Bürgerrat diene dazu, "ein genaues Bild davon zu bekommen, welche Maßnahmen die Bürgerinnen und Bürger für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten". Die Politik möchte also besser verstehen, wie die Bevölkerung denkt. Der Bürgerrat soll hier wertvollere Ergebnisse liefern als einfache Umfragen, weil die Teilnehmer hier über Monate diskutieren und selbst erfahren, unter welchen Randbedingungen und Umständen Politik gemacht wird. Für die Wirksamkeit wird es nun also darauf ankommen, wie die Ergebnisse im Bundestag und in der Öffentlichkeit aufgenommen werden. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte bei der Übergabe: "Wir werden das im Bundestag sehr ernst nehmen und ihre Empfehlungen sehr intensiv diskutieren."
Thorsten Frei, der parlamentarische Geschäftsführer der Union im Bundestag, hatte sich schon am Samstag in der Rheinischen Post gegen den Bürgerrat ausgesprochen: "Es wäre eine Gefahr für unseren Staat, wenn die Demokratie durch Nebengremien oder Expertenrunden ausgehöhlt würde." Frei selbst hatte noch 2021 erklärt, Bürgerräte könnten eine "hilfreiche Ergänzung für den Parlamentarismus" sein.
Bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2025 sollen laut Parlamentsbeschluss noch weitere Bürgerräte stattfinden. Über Details ist hier aber noch nichts bekannt.
Auch hier: ZDF 14.01.2024 |
Kostenfreies Schulessen und mehr :9 Maßnahmen: Wozu der Bürgerrat Ernährung rät
Der vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat Ernährung hat am Sonntag neun Empfehlungen zur Verbesserung der Ernährungspolitik beschlossen.
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