Spiegel hier Eine Kolumne von Christian Stöcker 14.01.2024
Wenn Hubert Aiwanger sich »im Internet« verläuft
An den Treckerblockaden wurde wieder deutlich, was Fachleute schon seit längerem beunruhigt: Manche Deutsche haben, sozialen Medien sei Dank, den Bezug zur Realität verloren. Die Politik sollte sich hüten, dabei mitzumachen.
Irgendwann im Winter vergangenen Jahres erreichte mich die Bitte, eine Frau Doktor Soundso zurückzurufen, sie habe eine Frage an mich. Ich rief also zurück – und machte innerhalb des wenige Minuten dauernden Gesprächs eine bemerkenswerte Erfahrung.
Die Dame erklärte, sie sei niedergelassene Ärztin, und fragte, zunächst ganz freundlich, ob ich irgendwann einmal einem Radiosender ein Interview zu den Coronaprotesten gegeben hätte. Welcher Sender das genau gewesen sei? Wisse sie auch nicht mehr. Ich antwortete, das könne schon sein. Aber worum gehe es denn eigentlich?
Ich hätte damals gesagt, bei den Protesten gegen Pandemiemaßnahmen seien auch Radikale und Rechtsextreme dabeigewesen, meinte die Anruferin, wie ich denn zu dieser Aussage komme. Ich erklärte, dass ich leider immer noch nicht wisse, über welches Interview wir sprächen – aber dass an den Coronaprotesten auch teils gewaltbereite Radikale teilgenommen hätten, sei ja nun glasklar belegt. Es habe diverse Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten gegeben.
Zu diesem Zeitpunkt begann das Gespräch zu kippen.
Irgendwann fragte die Dame, ob mir klar sei, dass schon von »Nürnberger Prozessen 2.0« die Rede sei, gegen alle, die die Coronamaßnahmen zu verantworten hätten. Ich fragte zurück, ob ihr klar sei, was die Nürnberger Prozesse gewesen seien, und was der Holocaust. In diesem Moment begann die Dame zu brüllen: »Leute wie Sie sind umgeben von Speichelleckern und Arschlöchern«. An diesem Punkt beendete ich das Gespräch mit dem Hinweis, die Dame möge mich bitte nie wieder anrufen.
Wo war er denn nun, der »Generalstreik«?
Im Rückblick fand ich an dem Gespräch vor allem eines bemerkenswert: Die Dame schien das mit den bevorstehenden »Nürnberger Prozessen 2.0« wirklich zu glauben. Es gibt hierzulande Leute, die in einer Parallelwelt leben, in der der Umsturz immer kurz bevorsteht.
Das war in den sozialen Medien in der vergangenen Woche auch im Kontext der Traktorproteste zu beobachten. Eine Anita aus Magdeburg veröffentlichte bei TikTok am 8. Januar ein mit einem fassungslosen Kommentar versehenes Video von einem vollen Supermarktparkplatz. Sie könne nicht glauben, dass so viele Leute »wenigstens heute nicht einkaufen gehen«. Die Realität wollte sich offensichtlich nicht der Telegram-Gruppe anpassen.
Eine Userin namens »Liene« sprach ebenso »fassungslos« in die Kamera: »Die Leute gehen einkaufen als wenn’s, ja, keinen interessiert hier!« Sie selbst müsse heute arbeiten, sie sei im öffentlichen Dienst, würde aber nachher noch Überstunden abbauen, »damit ich heute noch nach Magdeburg fahren kann, zur Demo, damit ich dabei bin«. Dabei ging es bei der Demo ja um Agrardiesel, nicht um die Bezüge im öffentlichen Dienst. Und schon gar nicht um den Sturz der Regierung, jedenfalls dem Bauernverband zufolge.
»Wir haben die Ehre, dabei zu sein«
Genau dazu war jedoch in einschlägigen Telegram- und Facebookgruppen, YouTube- und TikTok-Videos aufgerufen worden, Auch NPD, AfD und Querdenker forderten, den Tag der Traktorproteste zum »Generalstreik« umzudeuten.
Und so wollten sie bis zum Schluss die Hoffnung nicht aufgeben, trotz der Tatsache, dass bundesweit nur ein paar Tausend Bauern mit Traktoren (und mancherorts diverse Rechtsradikale ) auf den Straßen unterwegs waren.
In einem der Verschwörungserzählung QAnon gewidmeten Telegram-Kanal war am 11. Januar noch zu lesen: »Ein Traum wird wahr.« Was gerade vor sich gehe, sei »Geschichte und wir haben die Ehre dabei zu sein. Zukünftige Generationen werden es uns danken, dass wir dafür gekämpft haben und uns die Freiheit zurückgeholt haben.« (Die Rechtschreibfehler habe ich korrigiert).
Ich habe mir zu diesem Thema Daten aus eigenen Forschungsprojekten und dem Desinformations-Dashboard des Centrums für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas ) angesehen, dessen Beirat ich angehöre. Bei Telegram findet man in einschlägigen Kanälen, die sich sonst Verschwörungserzählungen, rechtsextremen Ideen und der Liebe zu Russland widmen, weit über 1000 aktuelle Beiträge zum Stichwort »Generalstreik«. Viele davon wurden zehntausendfach, manche weit über 100.000-mal angesehen.
Verschwörungsideologie-Unternehmer mit dabei
Mit dabei: Ein Account der heute als Verschwörungsideologie-Unternehmerin tätigen ehemaligen Nachrichtensprecherin Eva Herman (knapp 190.000-mal abonniert). Ein anderer Kanal mit etwa 160.000 Abonnenten, der auch eine YouTube-Präsenz hat, postet abwechselnd Videos von Treckerkolonnen mit Kommentaren wie »das ist erst der Anfang« – und Abhandlungen über die Frage, ob Bitcoin nur ein »trojanisches Pferd des Finanzadels« sei. Dazwischen kommt immer mal der Aufruf, dem Kanalbetreiber Geld zu spenden.
Die ganze verschwörungsideologische Szene wollte bei den Bauernprotesten mitmachen, ebenso wie rechtsextreme Kanäle wie die der »Freien Sachsen« oder das vom Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextrem« eingestufte Magazin »Compact«. Viele dieser Akteure haben nicht zuletzt finanzielle Interessen: Es gibt in Deutschland längst eine ganze Reihe von Personen, deren Geschäftsmodell darin besteht, die in der Zeit der Coronamaßnahmen angewachsene Klientel mit Verschwörungscontent bei Laune zu halten – und um Geld anzubetteln oder mit Prepper-Produkten zu versorgen.
Die Bewohner der Parallelrealitäten sind oft hochmotivierte Kommunikatoren.
Es ist nicht das erste Mal, dass diese Szene über einen »Generalstreik« fantasiert, das gab es auch Ende 2021 im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen schon einmal.
Geholfen hat das Wünschen damals wie heute nichts: Die Deutschen haben sich mit blockierten Autobahnen ebenso arrangiert wie mit dem am Mittwoch noch hinzugekommenen Bahnstreik. Die Regierungsparteien haben zwar teils miserable Umfragewerte, aber der Sturz der Regierung scheint eher nicht in Sicht.
Eigentlich müsste der Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit unter Deutschlands Verschwörungsgläubigen und Rechtsextremen gewaltige kognitive Dissonanz auslösen – wie sie in Videos wie denen von Anita und Liene ja auch zu besichtigen ist.
Ein Blick auf das geräuschlose Verschwinden der letzten »Generalstreik«-Fantasien zeigt aber: Das Publikum sozial-medialer Parallelrealitäten lässt sich davon nicht beirren. Auch die QAnon-Verschwörungszirkel in den USA haben den unmittelbar bevorstehenden Schlag gegen ihre herbeifantasierte Weltverschwörung der Kinderschänder schon mehrfach vorausgesagt. Wenn es dann doch wieder keine Massenverhaftungen und standrechtlichen Erschießungen hochrangiger Politiker gibt, macht man einfach weiter wie bisher.
Harmlos ist all das trotzdem nicht. Die Bewohner dieser Parallelrealitäten sind nämlich oft hochmotivierte Kommunikatoren, und »Gespräche mit Menschen, die ich kenne« sind dem jüngsten Reuters Digitale News Report zufolge eine der wichtigsten Quellen für die Kritik an medialer Berichterstattung.
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