Focus hier FOCUS-online-Redakteurin Jacqueline Arend 18.10.2023
Deutschland hat in den letzten Monaten mehr Strom importiert als die Jahre zuvor. Während die einen vor Abhängigkeiten und Deindustrialisierung warnen, weist Energie-Experte Christoph Maurer auf einen Irrtum hin. Denn: Deutschlands Strom-Import sei gut für die Volkswirtschaft.Deutschland hat in diesem Sommer mehr Strom importiert als in den Vorjahren. Von Mai bis August wurden in diesem Jahr 17,8 Terawattstunden Strom mehr aus dem EU-Ausland bezogen als exportiert, im Vorjahreszeitraum lag der Exportüberschuss noch bei 0,6 Terawattstunden. Viele Stimmen in Politik und Wirtschaft befürchten neue Abhängigkeiten und machen die Importe für die hohen Stromkosten verantwortlich.
Was auf den ersten Blick beunruhigend wirkt, ist für Deutschland volkswirtschaftlich sogar sinnvoll, erklärt Christoph Maurer. Der Energie-Experte befürwortet Stromimporte aus der EU - und zeigt einen Irrtum hinter der Stromdebatte.
„Wir haben einen europäischen Strombinnenmarkt, der so organisiert ist, dass man Strom importiert, wenn es günstiger ist, als ihn im eigenen Land zu produzieren. Dass Deutschland Strom importiert, stärkt also unsere Wirtschaft“, erklärt Maurer.
Geld sparen durch Importe
Berechnungen der Bundesnetzagentur bestätigen die Aussagen des Energie-Experten. Zwar kann die Behörde die Kosten wegen unterschiedlicher Verträge und nur grob bekannter Preise nicht exakt berechnen. Dennoch hat die Agentur die Importkosten näherungsweise ermittelt.
Demnach zahlte Deutschland von Mai bis September dieses Jahres rund 2,4 Milliarden Euro für Stromimporte, während sich die Einnahmen aus Exporten auf rund 0,3 Milliarden Euro beliefen. Unter dem Strich kosteten die Stromimporte in den vergangenen Monaten 2,1 Milliarden Euro, im Vorjahr waren es nur 0,7 Milliarden Euro.
Die durchschnittlichen Kosten pro Kilowattstunde Importstrom lagen damit bei rund 10 Cent - und damit unter den Erzeugungskosten deutscher Kohlekraftwerke. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme gab im Juli an, dass Steinkohlekraftwerke mehr als 14 Cent pro Kilowattstunde kosteten, Braunkohlekraftwerke etwa 12 Cent.
Gut fürs Klima
Hinter den erhöhten Importen steckt also keine Abhängigkeit von der EU, weil Deutschland nicht genügend Strom produzieren könnte. Das Gegenteil stimmt: Insgesamt könnte Deutschland auf eine eigene Kraftwerksleistung von rund 90 Gigawatt zurückgreifen, benötigt aber im Sommer nur 65 Gigawatt. Grund für die steigenden Importe ist das kohlelastige Stromsystem. Hohe CO2-Preise verteuern den Kohlestrom. Deshalb spart sich Deutschland das Hochfahren seiner Kohlekraftwerke, kauft den Strom günstiger im Ausland ein - und schont damit das Klima.
Der Leiter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme, Energie-Experte Bruno Burger, hat für die „ Zeit “ den Monat August berechnet, aus welchen Quellen der importierte Strom stammt. Demnach stammen 57 Prozent aus erneuerbaren Quellen, 23 Prozent aus Kernenergie und 20 Prozent aus fossilen Energieträgern. Behauptungen, Deutschland beziehe hauptsächlich Strom aus Kohlekraftwerken in Polen oder Atomstrom aus Frankreich, stimmen also nicht.
Den meisten Strom hat Deutschland in den vergangenen Monaten aus Dänemark, Norwegen, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich importiert, wie aus den Energy-Charts des Fraunhofer-Instituts hervorgeht. Allerdings, so Burger, wären die Importe geringer ausgefallen, wenn die deutschen Atomkraftwerke noch laufen würden.
Europäisch denken, nicht deutsch
Für Maurer ist der Stromhandel zwischen den europäischen Ländern ein sicherer und günstiger Weg, die Länder mit Energie zu versorgen - und die Energiewende voranzutreiben.
Denn Deutschland profitiere nicht nur vom Import günstiger und sauberer Energie, sondern auch von den Speichermöglichkeiten im Ausland. „Natürlich brauchen wir auch eigene Speichermöglichkeiten und Wasserstoffspeicher für Zeiten, in denen weniger Sonne scheint und weniger Wind weht", sagt Maurer. „Aber für Deutschland ist es trotzdem günstiger, auch die Speicher unserer EU-Nachbarn zu nutzen. Wollte Deutschland den benötigten Strom selbst produzieren und speichern, wäre das viel teurer.“
Deshalb empfiehlt der Experte, dass Europa langfristig gemeinsam den Weg der effizientesten und kostengünstigsten Energiewende geht. Die EU-Länder mit den besten Voraussetzungen für erneuerbare Energien sollten daher Solar- und Windenergie weiter ausbauen. In Deutschland seien die Voraussetzungen aufgrund der Topografie und der dichten Besiedlung etwas schlechter als in anderen EU-Ländern, sagt der Energie-Experte.
„Das heißt nicht, dass wir die erneuerbaren Energien gar nicht ausbauen sollten, das auf jeden Fall. Aber wir können mit unseren bisher gebauten Solar- und Windkraftanlagen nicht unseren gesamten Energiebedarf allein in Deutschland decken, aber das ist auch nicht schlimm, wenn wir die Erneuerbaren Energien günstig bei unseren vertrauenswürdigen EU-Nachbarn einkaufen können", sagt Maurer.
Ein System, in dem über die Grenzen hinweg gehandelt wird, habe viele Vorteile und nehme auch die Angst vor schlechtem Wetter. Letztlich sei es am wichtigsten, das europäische Energiesystem so schnell und so kostengünstig wie möglich klimaneutral zu machen, fordert Maurer.
Strom-Exportweltmeister Deutschland? „Das ist vorbei“
Die Kritik, Deutschland mache sich damit wieder abhängig vom Ausland, hält der Energie-Experte allerdings für irreführend. „Der EU-Strommarkt besteht aus einer gemeinsamen rechtlichen Ebene, das halte ich für unkritisch. Bei Gas oder Öl waren und sind wir deutlich abhängiger von autokratischen Staaten, da hat man sich nicht so viele Gedanken gemacht.“
Jetzt sei ein Umdenken angesagt, so Maurer. In Zukunft sei es für die deutsche Wirtschaft von Vorteil, große Mengen an Strom zu importieren. „Das klingt erst einmal komisch, weil es oft noch das Bild vom Exportweltmeister Deutschland gibt, aber in der Energiefrage beruhte dieses Bild darauf, dass wir niedrige CO2-Preise hatten und unsere Braunkohle billig verbrannt und den Strom exportiert haben“, erklärt der Energie-Experte. „In den 2010er-Jahren hatten wir extreme Stromexportsalden, aber seit wir unsere Kohlestrategie für das Klima überdacht haben, ist das vorbei. Das ist nicht nur gut für das Klima, sondern wegen der CO2-Preise auch für unsere Wirtschaft."
Über den Experten
Christoph Maurer ist seit 2007 Gesellschafter und Geschäftsführer der Consentec GmbH. Als Experte zu elektrizitätswirtschaftlichen Fragestellungen ist er deutschland- und europaweit anerkannt und hatte mehrfach Tätigkeit als Sachverständiger für den Deutschen Bundestag, Landesparlamente und die Bundesnetzagentur inne.
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