Zeit hier Von Niels Boeing 24. September 2023,
Weltweit ächzen Großstädte unter der Hitze. Dabei hat die Natur die beste Kühlung schon erfunden: Pflanzen. Wir müssten nur mehr Gärten anlegen – auf unseren Dächern.
2005 baute die Genossenschaft True Nature Foods eine der ersten Dachfarmen für Biogemüse.
Für die Bewohnerinnen des Neubaus ist der 350 Quadratmeter großen Garten eine Oase inmitten der mit Baustellen überwucherten HafenCity. Günstig war die Dachlandschaft indes nicht, 230.000 Euro hat sie samt Fundament im Dach gekostet, das die Bepflanzung tragen kann. Doch inzwischen ist die Frage nicht mehr, wer sich solche Grünzüge über der Stadt leisten kann. Städte weltweit werden sie sich schon bald in großer Zahl leisten müssen – als Antwort auf den Klimawandel, der auch vor den Asphaltdschungeln der Welt nicht haltmachen wird. Vor allem vor ihnen nicht.
Denn das Bild vom Asphaltdschungel ist eigentlich falsch. Das mit Beton und Asphalt versiegelte Habitat des modernen Menschen gleicht eher Wüstenflecken: Tagsüber heizt die Sonne sie auf, und nachts strahlen Straßen, Hauswände und Dächer die Wärme in den Stadtraum ab, der sich nicht mehr abkühlen kann. Und das auch in Europa: In Athen etwa sank die Temperatur im Juli in manchen Nächten nicht mehr unter 30 Grad, in Barcelona gab es keine Nacht unter 25 Grad. Das bringt viele Menschen um einen gesunden Schlaf. Senioren können die Wochen im urbanen Backofen der zunehmenden Hitzewellen gar das Leben kosten. Tausende sind in den Sommern der vergangenen Jahre gestorben.
Meteorologen sprechen bei Nächten, in denen sich die Temperatur nicht unter 20 Grad abkühlt, von Tropennächten. Deren Anzahl nimmt in allen Metropolen der Welt seit Jahrzehnten zu. In den gigantischen Agglomerationen der Millionenstädte ist der Anstieg besonders drastisch. In Tokio etwa gab es am Anfang des 20. Jahrhundert im Durchschnitt eine Tropennacht pro Jahr. Heute, mit 38 Millionen Einwohnern in seiner weitläufigen Stadtlandschaft, sind es im Durchschnitt 40. Längst hat diese Entwicklung auch Großstädte in Deutschland erreicht. Selbst in Hamburg, einst für sein feuchtkühles Schmuddelwetter im ganzen Land "berühmt", kommen inzwischen Tropennächte vor.
Das Phänomen, bei dem sich in Städten die Wärme staut und nicht mehr entweicht, ist in der Klimaforschung als Urban Heat Island Effect bekannt, urbaner Hitzeinsel-Effekt. Grund ist die zunehmende Versiegelung des städtischen Raums mit Straßen und Gebäuden. Während es vor allem im Globalen Süden immer mehr Menschen in Städte zieht, sind in Europa und Nordamerika die Ansprüche an die Wohnfläche gewachsen – pro Kopf wird heute rund dreimal so viel Fläche bewohnt wie vor einem halben Jahrhundert. Um mit dieser Veränderung Schritt zu halten, wurde und wird gebaut, was das Zeug hält – und zwar an den Stadträndern ebenso wie auf verbliebenen freien Flächen in den Innenstädten.
Drei Beispiele hierzu aus Europa: In Kopenhagen nahm die bebaute Fläche seit der Nachkriegszeit von knapp 50 auf 75 Prozent, in München von knapp 70 auf 90 Prozent, in Porto gar von rund 50 auf 90 Prozent zu. In den neuen Millionenstädten in Afrika oder in China ist die Verstädterung noch drastischer. Städte werden also zu riesigen Wärmespeichern. Ihre Durchschnittstemperatur ist höher als die des Umlands, und nachts ist dieser Effekt noch ausgeprägter. "Die mittel- und nordeuropäischen Städte hatten bisher noch den Vorteil, dass sie ein anderes Hintergrundklima haben", sagt David Grawe, Klimaforscher an der Universität Hamburg. "Aber auch sie müssen jetzt anfangen, sich auf den fortschreitenden Klimawandel vorzubereiten." Grawe erforscht unter anderem das Hamburger Stadtklima. Im Jahresmittel liegt die Durchschnittstemperatur der Hansestadt ein Grad über der des Umlands, in Sommernächten gar 2,5 Grad. Und das, obwohl Hamburg eigentlich eine grüne Stadt mit vielen Parks und Straßenbäumen ist.
Intensive Gründächer gleichen echten Gärten
Doch diese herkömmliche Stadtbegrünung wird in den kommenden Jahrzehnten nicht genügen. Die Städte müssen auch an ihre Dächer ran. Werden die bepflanzt, können die Pflanzen nachts ihre Umgebungsluft um mindestens ein Grad abkühlen, verglichen mit herkömmlichen Dächern aus Bitumenbahnen oder Kiesbetten. Je nach Art der Bepflanzung ist sogar eine Abkühlung von mehreren Grad möglich. Denn die Blätter geben nachts Feuchtigkeit ab, die verdunstet und dabei der Umgebungsluft Energie entzieht – die Lufttemperatur nimmt ab. In Wäldern und Parks bemerkt man die feuchtkühle Luft nach Einbruch der Dunkelheit recht schnell. Dieser Effekt ist als "Evapotranspiration" bekannt. Die kühlere Luft über eine Dachbegrünung wiederum kann langsam in den Straßenraum hinabsinken und dort die aufgestaute warme Luft verdrängen.
Eine Stadt, die den Nutzen grüner Dächer früh erkannte, ist Stuttgart. In einem Talkessel gelegen, litt man dort im Sommer seit jeher an einer stickigen Wärmeglocke. Bereits 1986 fasste Stuttgart deshalb einen Plan zur systematischen Begrünung von Dächern. 300.000 Quadratmeter Gründächer sind seitdem entstanden, viele dank Fördergeldern seitens der Stadt. Heute gilt Stuttgart als Europas Hauptstadt der Dachbegrünung. Inzwischen sind viele Städte dem Beispiel Stuttgarts gefolgt, einige bieten bereits interaktive Karten an, auf denen auf Grundlage von Satellitenaufnahmen das Begrünungspotenzial eines Daches angezeigt wird. Ausgewertet werden auf derartigen Karten die Neigung eines Daches, eine etwaige Verschattung durch benachbarte Gebäude sowie Wind- und Sonnenlichteinfall. Hauseigentümer bekommen so eine erste Abschätzung, ob ein Gründach möglich ist.
Der Bundesverband Gebäudegrün schätzt, dass in der Bundesrepublik bereits zwischen 120 Millionen und 150 Millionen Quadratmeter Gründächer auf Gewerbe- und Wohnbauten existieren. Allein 2021 kamen 8,7 Millionen Quadratmeter hinzu – allerdings blieben immer noch mehr als 90 Prozent der in dem Jahr neu gebauten Flachdächer ohne Vegetationsdecke.
Der allergrößte Teil der heutigen begrünten Dächer sind indes sogenannte extensive Gründächer: Sie sind mit Gräsern oder niedrigen strauchartigen Sedumpflanzen bewachsen. Diese Pflanzen sind genügsam. Damit sie gedeihen, genügt eine bis zu 15 Zentimeter dicke Bodenschicht. Der Vorteil: Die Belastung des Daches ist nicht allzu hoch, pro Quadratmeter drücken – nicht anders als bei einem Kiesbett – um die 80 bis 100 Kilogramm auf die Dachkonstruktion. Das entspricht etwa fünf vollen Bierkästen. Selbst Altbauten mit Flachdächern können solche Lasten in der Regel ohne Probleme tragen. Der Nachteil: Bei länger anhaltenden Hitzewellen tragen sie nicht mehr viel zur Abkühlung bei. Nach drei heißen Tagen stellen die genügsamen Pflanzen die Evapotranspiration mangels überschüssigen Wassers ein.
"Um die Temperaturen in der Stadt deutlich zu senken, muss man intensive Gründächer bauen",
sagt Klimaforscher Grawe.
Intensive Gründächer gleichen echten Gärten: Hier wachsen Blumen, Sträucher und kleine Bäume dicht beisammen, so wie auf einem Teil der Hamburger Dachlandschaft Dock 71. Ihre Blätter bieten reichlich Fläche zur Evapotranspiration und kühlen so nachts die Umgebungstemperatur viel stärker ab als Gräser und Sedum. Allerdings benötigen sie für ihre Wurzeln deutlich mehr Boden: Mindestens einen halben Meter dick muss die Humusschicht schon sein, damit die Pflanzen gedeihen. Das erhöht die Last um ein Vielfaches, bei üppigen Dachgärten kann sie bis zu einer Tonne pro Quadratmeter betragen, im Schnitt sind es 200 bis 300 Kilogramm. Das kann nicht jedes Dach ohne Verstärkung tragen. Hinzu kommt, dass im Dachaufbau eine Wurzelbarriere eingezogen werden muss, damit ein Baum nicht nach ein paar Jahren mit seinen Wurzeln ins darunter liegende Wohnzimmer oder Büro ausgreift. Entsprechend sind die Kosten für intensive Gründächer deutlich höher als für extensive.
Dafür haben sie weitere Vorzüge: Sie filtern auch Feinstaub aus der Luft, und die Blüten der Pflanzen locken Insekten an, was der Artenvielfalt in der Stadt guttut. Vor allem aber sind sie effektive Zwischenspeicher für Regenwasser. Damit können sie bei Starkregen die städtische Kanalisation entlasten, die sonst überzulaufen droht, wenn das Wasser ungebremst von den Dächern durch die Fallrohre in die Tiefe rauscht. Dass Starkregen in den kommenden Jahren häufiger auftritt, ist auch eine Folge des fortschreitenden Klimawandels, wie aus den Prognosen der Klimaforscher hervorgeht.
Dachaufbauten ermöglichen eine neue Form von urbaner Landwirtschaft
Welche Pflanzen sich für klimafreundliche Dachgärten eignen, lässt sich jedoch nicht pauschal sagen. "Zur Ökosystemleistung von Dachbegrünungen gibt es noch wenig spezifische Daten", sagt Wolfgang Hofbauer vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart. 2021 hat er gemeinsam mit dem Bundesverband Gebäudegrün das Forschungsprojekt Attribute begonnen. Ziel ist es, Begrünungspflanzen im Hinblick auf ihre Ökosystemleistungen systematisch zu untersuchen. 900 Pflanzen hat er in seiner Datenbank. Linden etwa eignen sich nicht so gut für die Begrünung von Flachdächern, weil sie tief wurzeln. Dass Bäume zu groß würden, sei hingegen kein Problem. "Sie passen ihr Wachstum dem beengten Wurzelraum an oder können entsprechend geschnitten werden", sagt Hofbauer, ähnlich wie es bei Bonsai-Bäumen in ihren Tonschalen der Fall ist.
Auch die Vielfalt des Gartens von Dock 71 in der Hamburger HafenCity ist nicht das Ergebnis eines ausgeklügelten Plans. "Wir haben viel experimentiert", sagt Christina Sothmann, die sich von Anfang mit um den Garten gekümmert hat. Als die Hausbewohner 2017 den Garten erstmals bepflanzten, hatten sie es zunächst auch mit Dünengräsern probiert. Die sollten robust genug für das windige Hafengebiet sein, immerhin gedeihen sie auf den Dünen an der Nordsee. Ein Trugschluss. "Nach dem ersten Jahr mussten wir viel neu anpflanzen." Inzwischen umfasst der Dachgarten – 250 Quadratmeter sind extensive, 100 Quadratmeter intensive Begrünung – rund 80 Pflanzenarten , darunter Lavendel, Ginster, Lorbeer und Muschelzypressen. Auch Rosensträucher fühlen sich auf dem Dach wohl.
Wie viel Gründächer zur Abkühlung von Städten beitragen können, lässt sich derzeit auch noch nicht exakt beziffern. David Grawes Arbeitsgruppe hat in einer Modellrechnung den Effekt für Hamburg abgeschätzt, wenn sämtliche geeigneten Dächer der Hansestadt begrünt wären. Bei einem jährlichen Zuzug von 100.000 Neu-Hamburgern und einer entsprechenden Nachverdichtung der Bebauung würde die mittlere Temperatur der Stadt um 0,25 Grad sinken. Allerdings bezieht die Mitteltemperatur sich auf eine Luftschicht oberhalb der Gebäude. Für die Stadtbewohner wichtiger ist die Wirkung auf die bodennahe Luftschicht, zwischen Straßenniveau und durchschnittlicher Traufhöhe der Gebäude, also die ersten 20 Meter. Grawe schätzt, dass sich die Überwärmung in Bodennähe um ein Viertel verringern könnte. Das wäre also spürbar.
Grüne Dachaufbauten könnten noch aus einem anderen Grund unverzichtbar werden: Sie ermöglichen eine völlig neue Form von urbaner Landwirtschaft, wenn man es richtig anpackt. Das Fraunhofer-Institut Umsicht in Oberhausen entwickelt im Projekt Infarming seit zehn Jahren ein modellhaftes Gewächshaus für Dächer, um dort Gemüse anzubauen. Anders als bei herkömmlichen Dachgärten werden die Pflanzen mittels Hydroponik gezogen: In einem Tragegitter hängend, reichen ihre Wurzeln in flache Behälter mit nährstoffhaltigem Wasser hinein. Diese Konstruktion ist leichter als eine extensive Begrünung mit einer dicken Humusschicht. Zudem könnten die Pflanzen auch von der Abwärme des Gebäudes profitieren, die aus den Etagen darunter aufsteigt – etwa von der Abwärme großer Computeranlagen. Die Fraunhofer-Forscher schätzen, dass es 360 Millionen Quadratmeter, also 36.000 Hektar Dachflächen in Deutschland gibt, die sich für eine derartige urbane Landwirtschaft eignen.
Extensive Dachbegrünungen sind indes nicht überflüssig. Sie lassen sich gut mit Fotovoltaikanlagen kombinieren. Kühlen Gräser und flache Sträucher die Luft unter den Solarpaneelen, steigt deren Wirkungsgrad um einige Prozent. Denn je wärmer die Umgebungsluft von Solarzellen ist, desto weniger Sonnenlicht wird im Halbleiter-Material in Strom umgewandelt. Und auf Bitumendächern kann die Lufttemperatur an heißen Sommertagen schnell über 40 Grad liegen. Der Bundesverband Gebäudegrün warnt deshalb davor, Grün- und Solardächer in Konkurrenz zueinander zu betrachten. In einem 2022 veröffentlichten Positionspapier hat der Verband die Politik aufgefordert, den Ausbau der Solarenergie in Städten mit einer Förderung von kombinierten "Solargründächern" zu verbinden.
Die möglichst klimaneutrale Stadt entsteht also nicht nur auf den Straßen, auf denen irgendwann weniger Autos und mehr Busse und Straßenbahnen fahren. Sie entwickelt sich nicht nur in den Wohnhäusern, deren Bewohner sparsamer Energie verbrauchen und bewusster konsumieren. Sie wächst auch auf den Dächern über unseren Köpfen, um die Stadt abzukühlen und zugleich mit Energie zu versorgen, um essbare Pflanzen anzubauen und zugleich die Lebensqualität in neuen, luftigen Gartenlandschaften zu erhöhen.
Dächer sind dann nicht mehr länger die dunklen Schmuddelecken der Stadt, die nur Dachdecker zu Gesicht bekommen. Sie sind eine unverzichtbare Ressource, um mit dem Klimawandel fertig zu werden.
Niels Boeing bedauert, keinen grünen Daumen zu haben, und bewundert den Einfallsreichtum und die Hingabe von Dachgärtnern. Er wohnt unter einem langweiligen Bitumendach.
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