Freitag, 27. Oktober 2023

NGO: Bundesregierung nutzt falsche Klimabilanz im Straßenbau

Utopia  hier  Von Fabian Hartmann  27. Oktober 2023

Eine neue Studie zeigt: Der im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans angestrebte Straßenbau könnte dem Klima viel mehr schaden als angenommen. Das sorgt für Kritik.

Geht es um den Aus- oder gar Neubau von Fernstraßen, sorgen umweltrelevante Fragen häufig für Diskussionen. Ist es etwa legitim, Waldflächen abzuholzen, damit Autofahrer:innen von kürzeren Wegen profitieren? Wann ein Straßenbauprojekt mehr nutzt oder schadet, ist somit oftmals eine schwierige Entscheidung.Umweltverband T&E

Der Umweltverband Transport & Environment (T&E) hat nun in einer Studie untersucht, inwiefern sich bisherige Vorhaben des Bundesverkehrswegeplans (BVWP) 2030 auf die Umwelt auswirken könnten. Die Studie liegt Zeit Online vor. Demnach schade der geplante Aus- und Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen im Rahmen des BVWP dem Klima neunmal mehr als bislang in offiziellen Berechnungen angenommen wurde.

Im 2016 von der Bundesregierung beschlossenen BVWP geht es um insgesamt mehr als 8.100 Kilometer neu- und auszubauender Straßen. Bereits vergangene Woche stufte der Bundestag 138 Projekte mit etwa 1.000 Kilometern als „in überragendem öffentlichem Interesse“ ein, um ihren Ausbau zu fördern.

Für die Projekte im BVWP wurde eine Kosten-Nutzen-Analyse erstellt, die mögliche Vorteile des Straßenaus- und Neubaus negativen Faktoren gegenüberstellt. Zu letzteren gehören etwa Lärm,  Schadstoffausstoß und ein Preis für Schäden durch CO2-Ausstoß bei Bau und Betrieb der Strecke. Laut T&E sind diese Berechnungen jedoch unrealistisch.

Klimaschädlicher Straßenbau? Kritik an Rechnung des BVWP

Wie Zeit Online berichtet, kritisiert der Umweltverband verschiedene Punkte.

Einerseits unterschätze der BVWP in seinen Berechnungen, in welchem Ausmaß neue oder breitere Straßen zu mehr Verkehr führen. Selbst bei vorsichtiger Rechnung würde die Verkehrszunahme durch Ausbauarbeiten für Autos achtmal größer ausfallen als im BVWP angenommen. Für Lkw sei sie sogar um das 36-fache höher. 

Das würde sich laut der NGO drastisch auf die Ergebnisse der Kosten-Nutzen-Analyse auswirken: Mehr als ein Drittel der geplanten Straßenkilometer wären dann nicht mehr zu rechtfertigen, da die gesamtgesellschaftlichen Kosten durch Folgen für Umwelt und Klima ihren Nutzen übersteigen.

Zweitens kritisiert der Verband, dass der Schaden durch CO2 zu gering beziffert würde – nämlich mit 145 Euro pro Tonne. Das entspricht einer Empfehlung des Umweltbundesamts von 2012. Seit 2020 aber hat die Behörde die Zahl auf 700 Euro korrigiert. Laut der T&E-Analyse wären drei von vier geplanten Kilometern unwirtschaftlich, hätte man den zunehmenden Verkehr realistisch eingeschätzt und die CO2-Bepreisung aktualisiert.

T&E fordert Überarbeitung bestehender Pläne

T&E hat die Bundesregierung aufgefordert, die bisher vorgelegten Pläne zur Umstrukturierung der Verkehrswege zu überarbeiten. Dafür schlägt der Verband eine Bedarfsplananalyse vor, welche gesetzlich alle fünf Jahre durchgeführt werden soll. Auch im Zuge des Bundesverkehrs- und Mobilitätsplans 2040, der aktuell ausgearbeitet wird, könnte man vorgesehene Maßnahmen erneut überprüfen.

Laut Benedikt Heyl, dem Autor der T&E-Analyse, fällt eine Kosten-Nutzen-Rechnung negativ aus: Die „enormen Summen„, die die Bundesregierung trotz Sparkurs für neue Fernstraßen bereitstellen will, stünden nicht im Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen für Bürger:innen. Dabei fehle Geld für das 49-Euro-Ticket und marode Schienen.

Straßenneubau und -ausbau erschwert das Erreichen der Klimaziele

Es gibt aber auch Kritik an der Straßenbau-Analyse von T&E: Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung an der Universität Stuttgart, hält die Zahlen für zu hoch gegriffen. Die Berechnung vereinfache die Realität, erklärt er gegenüber Zeit Online.

Beispielsweise könne der Verkehr auf einer Landstraße ebenso gut abnehmen, wenn eine Autobahn gebaut wird. Der Experte bestätigt aber, dass im Bundesverkehrswegeplan CO2-Emissionen womöglich unterschätzt werden.

„Straßenneubau und -ausbau erschwert es, die Klimaziele zu erreichen„, so Friedrich. Er verweist auf die wichtige Rolle von Elektroautos für CO2-Emissionen im Verkehr, deren Anteil weiter steigen soll. Doch Technologie allein scheint nicht die Lösung zu sein. „Wir sollten uns unabhängig von Kosten-Nutzen-Rechnungen überlegen, wie viel Verkehr wir brauchen und aushalten wollen – auch wenn die Fahrzeuge irgendwann CO₂-neutral unterwegs sind“, rät der Experte. 



Zeit hier Von Sören Götz und Christian Endt  27. Oktober 2023

Verkehrspolitik: Straßenbau könnte dem Klima viel mehr schaden als angenommen

Würde das Verkehrsministerium ehrlich rechnen, dürften Tausende Kilometer Autobahn und Bundesstraße nicht gebaut werden. Das ist das Ergebnis einer NGO-Studie.

Verkehrspolitik: Tausende Kilometer Straße sollen in den nächsten Jahren in Deutschland gebaut werden. Das werde wesentlich mehr CO₂ verursachen, als in den offiziellen Dokumenten steht, heißt es in einer Analyse der Organisation Transport & Environment.

Einst Wildwiese, Weizenfeld oder Wald, nun eine 35 Meter breite Asphaltdecke. Wird eine Straße gebaut oder erweitert, geht oft ein Stück Natur verloren. Trotzdem freuen sich viele Menschen darüber: Dorfbewohner über Umgehungsstraßen, Pendlerinnen, deren Arbeitsweg sich verkürzt, Unternehmen und Speditionen, die schneller ihre Ware ausliefern können. Es ist eine schwierige Abwägung, wann ein Straßenbauprojekt mehr schadet oder mehr nutzt. Insbesondere über die Frage, wie sehr eine neue Autobahn dem Klima schadet, wird heftig gestritten.

Der Umweltverband Transport & Environment (T&E) hat dazu eine neue Analyse erstellt, die ZEIT ONLINE exklusiv vorliegt. Danach schadet der geplante Aus- und Neubau von Autobahnen und Bundesstraßen, wie ihn der Bundesverkehrswegeplan (BVWP) 2030 vorsieht, dem Klima neunmal mehr als in offiziellen Berechnungen angenommen.

Den großen Straßenausbauplan hatte 2016 die damalige schwarz-rote Bundesregierung beschlossen, es geht um mehr als 8.100 Kilometer Aus- und Neubau. Der Bundestag hat vergangene Woche mit der Mehrheit der Ampelkoalition 138 Projekte mit rund 1.000 Kilometern als "in überragendem öffentlichem Interesse" eingestuft, um sie beschleunigt voranzutreiben. Die meisten davon sind Teil des BVWP. Umweltprüfungen fallen für sie weg, Klagerechte werden eingeschränkt.

Für die Projekte im Bundesverkehrswegeplan wurde eine Nutzen-Kosten-Analyse erstellt, um den Bau zu rechtfertigen. Dabei werden neben Vorteilen wie kürzeren Fahrtzeiten zwar Nachteile wie Lärm und Schadstoffe einbezogen. Auch das CO₂, das bei Bau und Betrieb anfällt, bekommt einen Preis. Doch laut T&E wurden dabei unrealistische Annahmen getroffen.

Neue Straßen führen zu mehr Verkehr

Erstens werde vernachlässigt, in welchem Ausmaß neue oder breitere Straßen zu mehr Verkehr führen. Zwar erkennt der BVWP diesen Effekt an. Doch wie viele Autos und Lkw neue Straßen anziehen, wird laut T&E dramatisch unterschätzt. Die Forschung ist sich nicht einig, wie stark der Effekt genau ist. Selbst mit einer vorsichtigen Annahme falle die Verkehrszunahme durch den Autobahnneubau aber für Autos achtmal größer aus als im BVWP angenommen, für Lastwagen sogar um das 36-fache. Die CO₂-Emissionen fielen entsprechend höher aus.

Das würde auch die Ergebnisse der Nutzen-Kosten-Analyse verändern. Mehr als ein Drittel der geplanten Straßenkilometer wären der NGO zufolge nicht mehr zu rechtfertigen, weil die gesamtgesellschaftlichen Kosten den Nutzen übersteigen.

CO₂-Kosten für Straßenbau zu niedrig angesetzt

Zweitens kritisiert T&E, dass im BVWP der Schaden, den jede Tonne CO₂ anrichtet, nur mit 145 Euro beziffert wird. Das hatte das Umweltbundesamt 2012 empfohlen. Seit 2020 lege die Behörde aber 700 Euro nahe. Auch das hätte gravierende Auswirkungen auf die Nutzen-Kosten-Analyse. Drei von vier geplanten Kilometern wären unwirtschaftlich, wenn sowohl der zunehmende Verkehr realistisch eingeschätzt als auch die CO₂-Bepreisung aktualisiert würde, heißt es in der Analyse.

Angesichts dieser Ergebnisse fordert T&E die Bundesregierung auf, die Infrastrukturplanung zu überarbeiten. Etwa im Rahmen einer Bedarfsplananalyse, die gesetzlich alle fünf Jahre vorgeschrieben ist. Darüber hinaus biete der Bundesverkehrs- und Mobilitätsplan 2040, der derzeit erarbeitet wird, eine Gelegenheit, die Projekte zu überprüfen. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung steht, dieser werde auf Basis "neuer Kriterien" auf den Weg gebracht. Das Bundesverkehrsministerium nahm zur T&E-Analyse gegenüber ZEIT ONLINE nicht Stellung.

Benedikt Heyl, Autor der T&E-Analyse, sieht bei Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) "kein ernsthaftes Interesse, seine Klimaziele einzuhalten". Stattdessen vergrößere er das Problem mit dem Bau neuer Autobahnen, sagt Heyl. "Die enormen Summen, die die Bundesregierung trotz Sparkurs für neue Fernstraßenprojekte bereitstellen will, stehen nicht im Verhältnis zu dem tatsächlichen Nutzen, den die Bürger davon haben." Gleichzeitig fehle Geld für marode Schienen und das Deutschlandticket.

    "Wir sollten uns überlegen, wie viel Verkehr wir brauchen und aushalten wollen."
Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung

Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung an der Universität Stuttgart, bestätigt auf Anfrage von ZEIT ONLINE, dass im Bundesverkehrswegeplan womöglich die CO₂-Emissionen unterschätzt werden. Die Zahlen von T&E hält er aber für zu hoch gegriffen. Friedrich, der derzeit dem wissenschaftlichen Beirat des Verkehrsministeriums vorsteht, bezeichnet das Modell, mit dem im BVWP gerechnet wird, als "für Dritte nur eingeschränkt nachvollziehbar". Die Berechnung von T&E vereinfache die Realität. Zum Beispiel könne der Verkehr auf einer Landstraße abnehmen, wenn eine Autobahn gebaut wird.

Für die CO₂-Emissionen sei vor allem entscheidend, wie schnell sich Elektroautos verbreiten. Der BVWP gehe noch von nur sechs Millionen E-Autos und Plug-in-Hybriden im Jahr 2030 aus, diese Annahme hat auch T&E übernommen, um Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Die Bundesregierung strebt inzwischen 15 Millionen an. Das Umweltbundesamt hält nur 12 Millionen für realistisch. Bei der Bedarfsplanüberprüfung in diesem Jahr werde es eine neue Prognose der Fahrleistung und der CO₂-Emissionen geben, sagt Friedrich. Im Gegensatz zu früher gebe es jetzt ein Klimaschutzgesetz, das dabei berücksichtigt werden müsse.

Klar ist für Verkehrsforscher Friedrich: "Straßenneubau und -ausbau erschwert es, die Klimaziele zu erreichen." Der Ausbau erhöhe die Fahrleistung und damit den Energie- und den Flächenverbrauch. Solange der Strom nicht zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen stamme, sei jede Energieeinsparung ein Beitrag zum Klimaschutz. "Wir sollten uns unabhängig von Kosten-Nutzen-Rechnungen überlegen, wie viel Verkehr wir brauchen und aushalten wollen – auch wenn die Fahrzeuge irgendwann CO₂-neutral unterwegs sind", sagt Friedrich. "Platz brauchen sie immer." Es sei Aufgabe der Politik, eine Abwägung durchzuführen.

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