Der Rationalist hier 29.10.2023, Eine Kolumne von Christian Stöcker im Spiegel
Jens Spahn möchte Flüchtende »mit physischer Gewalt« von Europas Grenzen vertreiben und hat offenbar eine Mauer im Kopf. Die Vorstellung, so könne man sich vor den Folgen der Klimakrise schützen, ist absurd.»Nach Sonnenaufgang ist alles die Hölle«, sagt Abdullah Husain, der an einer Universität in Kuwait lehrt, in einem 2022 publizierten Multimedia-Artikel der »New York Times«. Das auch heute noch extrem lesens- und sehenswerte Stück ist sehr beklemmend, weil es Menschen zeigt, die bereits phasenweise unter Bedingungen leben, die auf diesem Planeten bald vielerorts herrschen werden. Extreme Hitze, oft gepaart mit hoher Luftfeuchtigkeit.
In Kuwait lebt, wer es sich leisten kann, weitgehend in klimatisierten Innenräumen, der Kontakt zur Natur ist den Reichen fast vollständig verloren gegangen. Die anderen leben unter Bedingungen, die nachweislich massiv gesundheitsschädlich sind. Das betrifft in erster Linie die Millionen ausländischen Arbeitskräfte, die für die Einheimischen alles erledigen, was die selbst ungern tun.
Teile des Planeten werden unbewohnbar
Entscheidend für die Gesundheitsschädlichkeit hoher Temperaturen ist die »gefühlte Temperatur«, auf Englisch oft »Hitzeindex« oder »Heat Index« genannt. Sie setzt sich zusammen aus der gemessenen Temperatur und der Luftfeuchtigkeit. Ein Hitzeindex von mehr als 51 Grad Celsius wird als »extrem gefährlich« und »für Menschen für keinerlei Dauer sicher« betrachtet. Solche Temperaturen sind nicht nur einfach unangenehm, sie schädigen Organsysteme.
Die Standards für gesundheitsschädliche Hitze seien für Menschen, die etwa in Kesselräumen arbeiten, entwickelt worden, sagt Lucas Vargas Zeppetello, Autor einer Studie zu dem Thema . »Sie wurden nicht als etwas betrachtet, das man im Freien erleben würde. Aber das sehen wir jetzt.«
Die tödlichen Folgen der Klimakrise in Deutschland
Schon bis Mitte des Jahrhunderts wird es, wenn die Menschheit nicht schnell umsteuert, in Teilen der Tropen 60 Tage und noch mehr pro Jahr unerträglich heiß sein: Die gefühlte Temperatur wird dann bei 52 Grad Celsius und mehr liegen.
In anderen Bereichen der Tropen und Subtropen wird es bis zum Ende des Jahrhunderts nicht ganz so heiß, aber doch für eine Mehrzahl der Tage pro Jahr bedenklich wärmer. Erwartet sind Temperaturen von mehr als 39 Grad Celsius. Laut Vargas Zeppetello und Kollegen sind diese gefühlten Temperaturen, »als ›gefährlich‹ einzustufen«.
Davon betroffen sein werden einige der heute am dichtesten besiedelten Regionen des Planeten. Darunter Indien, wo den gegenwärtigen Prognosen zufolge im Jahr 2050 1,67 Milliarden Menschen leben , sowie Teile Afrikas, Südamerikas, Südostasiens, Mittelamerikas, der südlichen USA sowie des nördlichen Australien. An solche Entwicklungen kann sich die Menschheit nicht einfach »anpassen«.
Synchrone Missernten
Die Verfasser einer Studie aus dem Sommer 2023, erschienen in »Nature Communications« warnen außerdem, dass gleichzeitig auftretende Wetterextreme wie Hitzewellen, Dürren und Extremregen »synchrone Missernten« in verschiedenen Weltregionen hervorrufen könnten. Diese Gefahr stelle ein bisher unterschätztes »Risiko für die globale Lebensmittelsicherheit« dar.
Und damit kommen wir zu Jens Spahn. Der Mann betätigt sich im Moment als eine Art inoffizieller Vize-Generalsekretär der Union: Er wirft immer mal bisher Unsagbares in die Debatte und schaut, was passiert. Oft sind es einfach Märchen. Etwa, als er einmal in einer Talkshow zum Besten gab , man könne bald seine Gasheizung mit Wasserstoff betreiben, den man mit der hauseigenen Fotovoltaikanlage erzeugt. Und manchmal sind es Positionen, wie sie bislang sonst nur die AfD vertritt.
Von Schlauchbooten steht nichts im Grundgesetz
Schon im Mai hatte Spahn in einer Talkshow erklärt, man müsse darüber nachdenken, »ob die Flüchtlingskonvention und die europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren«. Nun ist es mit den Menschenrechten so: Sie »funktionieren« nicht, sie existieren einfach. Jedenfalls solange die Menschheit nicht in vorzivilisatorische Zeiten zurückfällt.
Im Grundgesetz steht auch nicht »Die Würde des Menschen ist unantastbar (außer die Person kommt in einem Schlauchboot)«, sondern nur die erste Hälfte. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die kommenden Dezember 75 Jahre alt wird, gibt es keine Liste mit Ausnahmen.
Diese Woche legte Spahn dann nach. »Irreguläre Migrationsbewegungen« müssten gegebenenfalls »mit physischer Gewalt« aufgehalten werden, sagte Spahn . Und dann noch das hier: »Die Grenze wird früher oder später geschlossen. Ob in fünf oder in 15 Jahren, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber es wird passieren.«
Spahn hat offenbar die Festung Europa schon vor Augen, an deren Grenzzaun Gewalt als Mittel zur Selbstverteidigung legitim sein könnte. Wird dann auf alles geschossen, was sich nicht verkrümelt? Als Beatrix von Storch von der AfD vor sieben Jahren so etwas Ähnliches sagte, gab es noch solch einen Aufschrei, dass sie erst alles zurücknahm und dann erklärte, sie sei »mit der Maus ausgerutscht«. Dass ein Vertreter der Union heute im Kontext der Abwehr von unerwünschter Migration von »physischer Gewalt« spricht, sagt sehr viel über die immense Verrohung des politischen Diskurses binnen weniger Jahre.
Spahn und das Echo von Beatrix von Storch
Tatsächlich spielt sich an Europas Außengrenzen längst Menschenverachtendes und Dystopisches ab. Aber die Idee von der »Festung Europa« ist in einer Welt wie der oben beschriebenen eine gefährliche Illusion. In den Gebieten, die schon bis Mitte des Jahrhunderts unbewohnbar heiß werden könnten, leben viele Milliarden Menschen. Die Antwort auf dieses Szenario kann wohl kaum eine Mauer sein, die diese Milliarden dann draußen hält, wenn es so weit ist. Das scheint aber Spahns Vision von einer Zukunft zu sein, »ob in fünf oder fünfzehn Jahren«.
Die AfD leugnet bekanntlich den menschengemachten Klimawandel. Das klimapolitische Programm der Union unter Friedrich Merz beschränkt sich auf Abwarten, Konzepte wie Kernfusion sowie Direct Air Capture von Kohlendioxid (CO₂) und, siehe oben, Märchen erzählen.
Die politischen Antworten auf diese Szenarien müssen völlig anders aussehen. Einerseits brauchen wir unbedingt Migration, wenn unsere Rentensysteme nicht bald kollabieren sollen . Andererseits muss Deutschland endlich zu einer führenden Nation im Bereich des Klimaschutzes werden, sowohl national – was die Union 16 Jahre lang verhindert hat – wie international.
Deutschland sollte etwa alles daran setzen, dass die große Zahl afrikanischer Länder, in denen es kein einziges Kohlekraftwerk gibt, auch keine bauen, sondern Solar- und Windkraftwerke. Dass bei der Klimakonferenz COP28 in – ausgerechnet – Dubai im Dezember bedeutende internationale Reduktionsziele beschlossen werden. Dass die seit Jahren versprochenen Hilfsgelder zur Klimaanpassung für Schwellenländer endlich fließen, statt immer wieder vertagt zu werden. Dass neue Projekte, um noch mehr Öl und Gas zu erschließen, gestoppt werden. Dass echte internationale Zusammenarbeit zustande kommt.
Eine Mauer um Europa wäre ein Albtraum wie in dem Roman »The Wall« von John Lanchester, David Wheatleys Film »Der Marsch« oder im Science-Fiction-Film »Elysium« des Südafrikaners Neill Blomkamp.
In Letzterem haben sich die Reichen der Welt von dem von der Klimakrise verwüsteten Planeten zurückgezogen, auf eine paradiesisch anmutende Raumstation. Sie leben in einer künstlichen Welt, wie Kuwaits auf Ölmilliarden gebettete Reiche.
Europa ist aber keine Raumstation, es liegt auf dem Planeten Erde. Und diesen Planeten bewohnen wir gemeinsam.
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