Dienstag, 10. Oktober 2023

Not-in-my-backyard-Politik

Spiegel Eine Kolumne von Christian Stöcker  08.10.2023

Wie egoistische Verhinderer die Republik lahmlegen

Der SPD-Vorsitzende bekämpft eine Bahnstrecke, die CSU Stromtrassen, die CDU Radwege, mancherorts sind sogar Grüne und Linke gegen Windkraftanlagen. So wird das nichts mit der Transformation.

Ein Artikel aus der Fachzeitschrift »Social Science Research«  definiert den Begriff »Nimby« (not in my backyard) so: »Der Gedanke, dass sich Bürger aus Eigennutz gegen neue Einrichtungen in ihrer Nachbarschaft wehren«.

Wer den Begriff Nimby erfand, ist unklar. Schon 1980 wurde er in einem US-Zeitungskommentar  erwähnt. Damals ging es um Lagerstätten für schwach strahlende Nuklearabfälle. Auf die politische Bühne hob den Begriff Nicholas Ridley, britischer Umweltminister unter Margaret Thatcher. Er mokierte sich über »Nimbies«, die gegen Wohnbauprojekte opponierten. Später stellte sich heraus, dass er selbst versucht hatte, ein Bauvorhaben in der Nähe seines Hauses zu stoppen .

Dann schlägt Sankt-Florian zu

Die deutsche Entsprechung ist das Sankt-Florians-Prinzip: »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd’ andere an.« Zum echten Nimbyism gehört, dass man nicht grundsätzlich etwas gegen eine Sache hat, solange sie nicht in der eigenen Umgebung passiert.

Nimbyism ist im Deutschland der Gegenwart eines der zentralen Hindernisse auf dem Weg in eine bessere Zukunft – parteiübergreifend.

Viele Menschen und auch die meisten Parteien im Bundestag sind sich grundsätzlich einig, dass sich einiges ändern muss, wenn wir eine lebenswerte Zukunft haben wollen: Wohnungsbau, bessere Bahnstrecken, mehr erneuerbare Energien, Ausbau des Stromnetzes. Aber wenn es dann konkret wird, schlägt Sankt Florian zu.

In viereinhalb Stunden von Berlin nach Nizza?

Aktuelles Beispiel: Eine bitter nötige neue ICE-Strecke von Hamburg nach Hannover wird jetzt doch nicht gebaut.

Kurzer Einschub: In China kann man die 1300 Kilometer von Peking nach Shanghai – das entspricht etwa der Strecke Berlin–Nizza – mit dem Zug in viereinhalb Stunden zurücklegen. So etwas könnten wir auch haben. Wir müssten dafür aber neue Strecken bauen.

Bei der Bahnstrecke Hamburg–Hannover gehörte zu den Nimbys der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil, durch dessen Wahlkreis die neue, schnellere Strecke führen sollte. Dafür müsste ein Gewerbepark mit einer Tankstelle, einem Trampolinpark, einer Skihalle und einer Kartbahn weichen, was den Bürgern dort naturgemäß nicht gefällt. Klingbeil will das Gewerbegebiet in seinem Wahlkreis deswegen verteidigen: gegen die Bahn, den Bund, gegen die Verkehrsplaner mit ihren Prognosen. »Ich habe nichts davon, wenn hier der ICE durchfährt und wir können winken«, sagt Lars Klingbeil bei einer Protestveranstaltung diesen Juli. »Was habe ich persönlich denn davon?«, ist bei Infrastrukturprojekten, die dem gesamten Land nutzen sollen, möglicherweise nicht ganz die richtige Frage.

Klingbeil ist aber mit der Haltung »meine Nimbys sind die guten Nimbys« beileibe nicht allein.

Viele Milliarden Euro für bayerische Nimbys

Horst Seehofer (CSU), damals bayerischer Ministerpräsident, kämpfte im Dienste bayerischer Nimbys erbittert gegen ganz normale Überlandleitungen von Norddeutschland nach Bayern. Dafür bezahlen wir heute buchstäblich alle. Seehofer setzte durch, dass die Trassen mit Erdkabeln gebaut werden müssen, was das Projekt viele Milliarden Euro teurer macht – und viel langsamer. Ganz Deutschland zahlt jetzt für Bayerns Nimbys.

Es wird noch Jahre dauern, bis die sogenannte Südlink-Trasse fertig ist. Markus Söder fand den Widerstand damals  »eine gute Idee«. Hubert »ich erinnere das nicht« Aiwanger tingelte über die Dörfer, um gegen Südlink zu agitieren. Am Ende zeigte der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel von der SPD ein Herz für Bayerns Nimbys. Man hatte ja russisches Gas, da war das mit dem Netz für Windstrom nicht so eilig.

Not in my Garage, not in my Basement

Weitere bayerische Nimbys sorgten mit Unterstützung der CSU dafür, dass dort so gut wie keine Windkraftanlagen aufgestellt werden  (2023: fünf Stück). Jetzt gibt es billigen Windstrom nur im Norden, und Markus Söder muss sich gegen die Einführung von Strompreiszonen wehren .

Auch die neue Begeisterung für Atomkraft in Teilen der deutschen Öffentlichkeit hat hohes Nimby-Potenzial: Wirklich niemand will in der Nähe eines Endlagers wohnen. Natürlich auch Markus Söder nicht .

Keine Partei verweigert sich dem Sankt-Florians-Prinzip. Die Verbrenner-liebende FDP ist die NIMG-Partei (not in my garage), FDP, CDU und AfD kämpften an der Seite aller NIMBs (not in my basement) gegen Wärmepumpen. Lokale Grüne vertreten vielerorts die Belange lokaler Naturschutz-Nimbys, und auch auf Landesebene stimmt die Partei mitunter gegen entspanntere Abstandregelungen für Windkraftanlagen. So geschehen dieses Frühjahr in Nordrhein-Westfalen  auf Wunsch des Koalitionspartners CDU.

Nimbys in allen Farben

In Baden-Württemberg habe die grün geführte Landesregierung die CO₂-Emissionen nicht »reduziert oder insgesamt den Verbrauch erneuerbarer Energien erhöht«, konstatierte ein Team des Ifo-Instituts im Jahr 2021 . Ein wichtiger Grund dafür seien »intraökologische Konflikte«: »Den Schutz des Rotmilans und der Fledermaus haben die Grünen dem Bau von Windrädern vorgezogen, und auch Not-in-my-backyard-(Nimby-)Bewegungen spielten eine Rolle.« Windkraft-Nimbys gibt es vereinzelt auch bei der Linken , etwa im Saarland.

Wer vertritt die Nicht-Nimbys?

Populistische Parteien wie die AfD sind für exzessiven Nimbyismus natürlich wie geschaffen . Sie inszenieren sich als Vertreter einer vermeintlich schweigenden Mehrheit (wirklich gegen erneuerbare Energien ist in Wahrheit aber nur ein Zehntel der Deutschen ) und haben an Lösungen kein Interesse. Viele vermeintliche Nimbys sind in Wahrheit politisch motivierte Saboteure von rechtsaußen.

Es gibt, wissenschaftlich dokumentiert, »Energiewende-Populismus« : »Populistisch wird der (lokale) Protest erst dann, wenn er das antipluralistische Narrativ des von den Eliten betrogenen Volkes übernimmt«, heißt es in einem Überblicksartikel des Soziologen Fritz Reusswig und der Sozialpsychologin Beate Küpper in »Aus Politik und Zeitgeschichte«.

Es gibt also einen Unterschied zwischen »echten« Bedenken gegen konkrete Projekte – und ihrer Instrumentalisierung für eine populistische »Die da oben machen ohnehin, was sie wollen«-Erzählung.

Nimbys, besonders in Gruppen, lassen sich hervorragend instrumentalisieren, sowohl von Populisten, als auch von Branchen, die ihre Geschäftsmodelle bedroht sehen. Die US-Öl- und Gasbranche in den USA etwa finanziert seit vielen Jahren Nimby-Gruppen, die gegen Wind- und Sonnenenergie kämpfen .

Andere Nimbys sind auch einfach nur ganz privat egoistisch. Beides ist in einer Situation, in der schnelle Veränderung an vielen Stellen absolut unausweichlich ist, eine schlechte Ausgangslage.

Nimby-Flüsterer überall

Der deutsche Nimby kann problemlos Wut über unpünktliche Züge, Klagen über marode Infrastruktur und quälend lange Genehmigungsprozesse mit seiner eigenen Haltung vereinbaren, die für all das maßgeblich verantwortlich ist. In allen Parteien gibt es Nimby-Flüsterer, gleichzeitig wollen alle gern »Bürokratieabbau«.

Christian Stöcker : Die Große Beschleunigung

Verlag: Pantheon

Dabei gibt es gerade für Windkraft-Nimbyism eine erprobte und sehr wirksame Lösung: Wenn man die Kommunen und ihre Bevölkerung an den Erlösen beteiligt, werden viele Kritiker plötzlich zu begeisterten Windparkfans . Generell ist es hilfreich, wenn man die lokale Bevölkerung in Planungsprozesse einbezieht, und zwar möglichst frühzeitig. Dass das aber nicht immer hilft, zeigt das Beispiel der Bahnstrecke Hannover–Hamburg: Tatsächlich haben gut gemeinte Versuche, Nimbys milde zu stimmen, manchmal einen ganz anderen Effekt als den angestrebten. Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung sorgen unter Umständen dafür, dass sich vor allem die Nimbys beteiligen. Die Fachliteratur gibt ansonsten leider nicht allzu viel her – es gibt keine magischen Tricks zur Überwindung des Nimby-Syndroms.

Eine Überblicksstudie aus dem Jahr 2013  empfiehlt einen Methodenkatalog mit dem Akronym »Enuf«: »Engage, never use NIMBY, Understand, Facilitate«.

Gemeint ist damit, dass man lokale Gemeinwesen von Anfang an in die Entscheidungsfindung einbeziehen und Menschen, die gegen ein Projekt sind, nicht »Nimby« nennen soll. Die Motivationen und Bedenken der lokalen Bevölkerung müssten die Planer verstehen und diese Bevölkerung dann in die Lage versetzen, an der Gestaltung von Lösungen mitzuwirken.

Das alles aber wird bei Leuten, die die Bahnstrecke oder den Windpark nun einmal partout nicht haben wollen, vermutlich kaum helfen.

Umso wichtiger ist es, dass Politikerinnen und Politiker, lokale Meinungsführer, in der Lage sind, in konstruktiver Weise die Führung zu übernehmen. Eine Politik, die immer die Frage »Und was habe ich persönlich davon?« in den Vordergrund stellt, statt die Führung zu übernehmen, wird scheitern an der gewaltigen Transformationsaufgabe, die vor uns liegt.

Das vielleicht interessanteste Faktum über Nimbys ist übrigens, dass ihre Anzahl überschätzt wird. Raten Sie mal, wie viele Leute, die »in ihrem direkten Wohnumfeld« Windräder stehen haben, damit »eher« oder »voll und ganz« einverstanden sind.

Die richtige Antwort lautet, gemäß einer Forsa-Studie von 2021 : 84 Prozent der Bevölkerung finden Windkraft in der Nachbarschaft in Ordnung. Bei Leuten, die noch kein Windkraftwerk in der Nähe haben, sind es 78 Prozent, die eigentlich kein Problem damit hätten. Hätten Sie das gedacht? Ich vermute nein, und das ist ein Nimby-populistischer Propagandaerfolg.

Fest steht: Die überparteiliche Nimby-Koalition muss endlich enden, wenn dieses Land vorankommen soll. Die Nicht-Nimbys stellen die überwältigende Mehrheit. Es wäre Zeit, dass jemand ihre Interessen vertritt. 

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