Focus hier Gastautor Kai Gondlach 26.10.2023
Wirtschaft, Klima, Geld im Jahr 2035
Die 2020er Jahre waren geprägt von der Klimakrise, Kriegen, Flucht oder Inflation. Der Zukunftsforscher Kai Gondlach hat diese Entwicklungen wissenschaftlich analysiert und wagt einen Blick in die Zukunft, um zu erkunden, wo Deutschland im Jahr 2035 sozioökonomisch stehen könnten.
Die aktuellen Umbrüche und Transformationen in der Welt sind aus Sicht der Zukunftsforschung zum größten Teil vorhersehbar und logisch, die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erinnert aber an die griechische Mythologie, in der Kassandra trotz ihres Wissens oft nicht ernst genommen wurde. Mittlerweile ist die angewandte Zukunftsforschung, auch „Foresight“ genannt, in Regierungen, multinationalen Unternehmen und den Vereinten Nationen fest verankert.
Über den Experten
Kai Gondlach ist einer der ersten akademischen Zukunftsforscher in DACH und Gründer des Zukunftsinstituts PROFORE in Leipzig. Seit 2016 hat der Buchautor und Keynote Speaker über 300 Vorträge zu Zukunfts- und Innovationsthemen gehalten. Er ist Mitherausgeber des Bestsellers „Arbeitswelt und KI 2030“ und Gründer des Alumnivereins der Zukunftsforschung, Mitglied im Netzwerk Zukunftsforschung sowie der World Futures Studies Federation.
Kreislaufwirtschaft und KI prägen die Zukunft
Gleichzeitig verfügen wir über ein tiefes Verständnis der naturwissenschaftlichen Zusammenhänge und der soziologischen Auswirkungen unseres Handelns. Bereits für 2019 prognostiziert PwC , dass die Kreislaufwirtschaft zur neuen Norm wird. Das „Cradle to Cradle“-Prinzip von Prof. Dr. Michael Braungart, bei dem keine Ressourcen verschwendet werden sollen, ist ein zentraler Baustein. Was aktuell noch fehlt, ist die nahtlose Organisation von Abläufen und Geschäftsprozessen durch Künstliche Intelligenz.
In dieser Synthese aus Wissen und Innovation liegt das Potenzial, die aktuellen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen und eine nachhaltige Zukunft zu gestalten. Der Ausblick für 2035 - die wichtigsten Umbrüche:
Wirtschaft 2035: Kreisläufe und Kreisläufe
Die globalen Bemühungen, sich von fossilen Ressourcen zu lösen, haben bereits einige Branchen fundamental verändert. Produzenten jeglicher Produkte oder technischer Anlagen sind inzwischen dazu verpflichtet, selbst für die Wiederverwertung der Rohstoffe zu sorgen, die sie einst verbaut haben. Dies hat zu einem Paradigmenwechsel geführt, bei dem Geschäftsmodelle nach dem Prinzip „X as a Service“ funktionieren. Produkte werden nicht mehr gekauft, sondern gemietet, und die Anbieter werben mit der erbrachten Dienstleistung. Dies hat bereits in den 2000er Jahren begonnen und ist nun eine notwendige Realität geworden: mit den Erlösmodellen der nachhaltigen Nutzung verstärken die Hersteller ihre Aktivitäten, um langlebigere Produkte anzubieten. Die Nutzerseite profitiert währenddessen von flexiblen Preismodellen.´
Der Heilige Gral der Energieerzeugung ist zwar noch nicht gefunden, doch der Anteil regenerativer Energien aus Wind, Sonne und Wasser ist überproportional gestiegen. Für Netzstabilität sorgen dabei smarte Energienetze, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Während 2023 noch von einer Deindustrialisierung gesprochen wurde, erlebt Deutschland wie viele andere Staaten der Welt inzwischen eine Reindustrialisierung; schließlich ist der Ausbau der regenerativen Kreislaufwirtschaft noch lange nicht abgeschlossen. Die globalen Finanzmärkte haben sich nach dem Niedergang der US-Dominanz zum Teil neu sortiert, sodass sich ein neues multipolares Gleichgewicht herausbildet.
Auch die Unternehmensstrukturen haben sich angepasst und sind flexibler, dynamischer und produktiver geworden. Statt in starren Hierarchien arbeiten Unternehmen in holokratischen Strukturen, ähnlich wie bei Zellen eines biologischen Organismus.
Klimawandel 2035: Die Krise als Chance
Die meisten Modelle und Simulationen für 2035 sind leider eingetroffen. Die weltweite Migration aufgrund der Folgen des Klimawandels hat stetig zugenommen und zeigt keine Anzeichen für einen baldigen Rückgang. Zahlreiche Regionen, vor allem Inseln, Küsten und Gebiete in Äquatornähe, sind heute unbewohnbar und weitgehend verlassen. Ein prominentes Beispiel ist die Entscheidung der indonesischen Regierung in den 2010er Jahren, Jakarta, eine Stadt mit rund zehn Millionen Einwohnern, komplett umzusiedeln.
Weitere klimatische Kipppunkte wurden überschritten, insbesondere im Bereich der Biodiversität und der Wasserkreisläufe. Deshalb wurde ein nahezu globaler Klimanotstand ausgerufen.
Die UN-Generalversammlung hat daraufhin beschlossen, bestimmten ökologischen Einheiten wie Flüssen, Meeren und Wäldern eigene Rechte zuzuerkennen. Dies hat zu einer international verbindlichen Umweltgesetzgebung geführt, die Unternehmen, Staaten und Einzelpersonen vor den Internationalen Gerichtshof bringt, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig die Rechte der Umwelt verletzen.
Die weltweiten Bemühungen zur Förderung erneuerbarer Energiequellen haben zu einer deutlichen Reduzierung der CO2-Emissionen geführt. In vielen Ländern sind Photovoltaikmodule bei Neubauten und Gebäudesanierungen inzwischen Pflicht. Gleichzeitig wurde die landwirtschaftliche Tierhaltung drastisch reduziert, wodurch sich der Methanausstoß in kurzer Zeit halbiert hat. Dies führte auch dazu, dass zahlreiche Logistik- und Transportwege unrentabel wurden, was wiederum Auswirkungen auf den gesamten Transportsektor hatte. In den meisten Regionen wurden verbindliche CO2-Preise in die Verbraucherpreise integriert – entsprechend hat sich das Konsumverhalten der Menschen drastisch gewandelt.
Arbeitswelt 2035: Innovation, Wandel und bessere Bezahlung
Die befürchtete Massenarbeitslosigkeit infolge des flächendeckenden Einsatzes von künstlicher Intelligenz, der massiv durch staatliche Programme vorangetrieben wurde, blieb aus. Zwar gab es Insolvenzen, vor allem in den fossil geprägten Industrien und deren Zulieferern, das aufstrebende Umfeld regenerativer Geschäftsmodelle erlebte jedoch einen anhaltenden Boom. Der Umbau der Energieinfrastruktur war in vollem Gange.
Die Wirtschaft erwies sich als tragende Säule des Bildungssystems und übernahm erfolgreich staatliche Aufgaben, insbesondere bei der Integration von Zuwanderern während der großen Migrationsbewegungen der 2020er Jahre. Die Verlagerung von Fachkenntnissen hin zu menschlichen Kompetenzen hat die Attraktivität von Berufen verändert und die Entlohnung stärker an Faktoren geknüpft, die nicht nur auf Produktivität basieren.
Mit anderen Worten: Im Jahr 2035 werden Pflege- und Erziehungsberufe beispielsweise besser bezahlt als reine Wissens- oder Managementberufe. Die Menschen arbeiten im Durchschnitt nicht unbedingt weniger, aber anders. Monotone und repetitive Tätigkeiten sind in vielen Bereichen die Ausnahme, sei es im Handwerk, in der Industrie, in der Wissenschaft oder im Dienstleistungssektor. Diese Veränderungen spiegeln eine dynamischere und flexiblere Arbeitswelt wider.
Positiver Ansatz der Zukunftsforschung
Dieser Ausblick auf das Jahr 2035 enthält bewusst eine Gewichtung einer vermeintlich positiven Lesart aktueller Entwicklungen bzw. Trends. Darin steckt vor allem eine Hoffnung im Sinne einer Analogie der aktuellen Multikrise zur menschlichen Sozialisation: So wie wir als Jugendliche während der Pubertät in der Dauerkrise an den kleinen körperlichen und sozialen Krisen im besten Fall wachsen und gestärkt daraus hervorgehen, so könnte es doch ein schönes Ergebnis sein, wenn die Menschheit bereit wäre, aus den aktuellen Krisen zu lernen. Oder nicht? Dann könnte sich ein Teil der derzeit pessimistisch anmutenden Zukunftsbilder selbst verhindern - einfach, weil wir sie kollektiv vermeiden. Denn: Wir wissen es eigentlich besser.
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