Mittwoch, 2. Februar 2022

Jetzt mal ganz langsam

Schwäbische Zeitung   hier Von Johannes Rauneker

Vom Bodensee bis Berlin: Städte wollen Tempo 30 deutlich ausweiten. 

....Was sie sieht, gefällt Katrin Voß-Lubert nicht. „Die Fahrbahn ist sehr eng. Eigentlich dürften die Autos die Radfahrer hier gar nicht überholen.“ Denn die Regel besage: Autofahrern ist dies nur gestattet, wenn sie anderthalb Meter Abstand halten können. ....

Unter anderem diesen Missstand will ein Bündnis von Großstädten beheben. Neben Ulm haben auch Augsburg, Freiburg und Leipzig die Vorteile einer neuen Langsamkeit für sich entdeckt. Sie treten gemeinsam dafür ein, dass sie künftig selbst bestimmen dürfen, wo Tempo 30 gilt. Sie wollen mehr davon. Unter dem Dach der Agora Verkehrswende und mit Unterstützung durch den Deutschen Städtetag gingen sie mit ihrer Initiative im Sommer an die Öffentlichkeit.

Noch werden sie vom Straßenverkehrsgesetz (StVG) und der Straßenverkehrsordnung (StVO) ausgebremst. Zwar ist Tempo 30 möglich vor Schulen und Krankenhäusern und vielerorts auch nachts Realität, damit Anwohner durch Verkehrslärm nicht ihres Schlafs beraubt werden. Eine weiter gehende Temporeduzierung scheitert jedoch oft an Untersuchungen und Gutachten. „Sehr aufwendig“ sei dies, sagt Philipp Kosok, der Sprecher der Agora Verkehrswende. Dabei bedürfe es gar nicht mal vieler „Stellschrauben“, um Städte sicherer, lebenswerter sowie klima- und radfahrerfreundlicher zu gestalten.

.....2022 scheint die Zeit tatsächlich reif - und ein Mehr an Tempo 30 kaum mehr aufzuhalten. Paris machte es vor, seit Sommer gilt dort Tempo 30. Und auch im Koalitionsvertrag der Ampel ist die Rede davon, den Klima- und den Umweltschutz nun auch in der deutschen Verkehrsgesetzgebung zu verankern.

.....Paradoxe Welt 90 Kilometer südlich, am Bodensee. Zwar hat sich auch Friedrichshafen zu den Zielen der Agora Verkehrswende bekannt. Doch der örtliche Kreisvorsitzende des ADFC kann darüber nur ungläubig den Kopf schütteln.

Bernhard Glatthaar (53) sagt, dieser Schritt habe ihn ziemlich überrascht. Schlicht und ergreifend, weil die Stadt in den vergangenen Jahren vor allem durch die Verhinderung von Tempo 30 oder anderen Maßnahmen, die Verkehr reduzieren, aufgefallen sei...... Die Situation in der Stadt fasst er so zusammen: Würde durch einen neuen Radstreifen „auch nur ein Pkw-Parkplatz wegfallen“, so wäre dieser Radstreifen in Friedrichshafen „gestorben“.

....Bernhard Glatthaars Devise lautet: „Tempo 30 ist für die Menschen, Tempo 50 für Autos. Es gibt in den Städten aber mehr Menschen als Autos.“ Seine Bemühungen hierfür reichen Jahrzehnte zurück, dies sei 1979 gar ein „Gründungsziel“ des ADFC gewesen.

....... Das sieht auch Thomas Dörflinger so. Mehr Spielraum für Kommunen und Länder könne er sich „gut vorstellen“, es sei sinnvoll, wenn die Kompetenz vor Ort liege.

ADFC-Mann Glatthaar widerspricht. Seine Befürchtung: Legt der Bund die Tempo-30-Kompetenzen in den Schoß der Städte, würde vielerorts weiter gebremst. Er plädiert für einen verbindlichen Beschluss des Bundestages. ....

Ganz verkehrt findet auch Philipp Kosok, Experte der Agora Verkehrswende, diese Überlegung nicht - weil sich dadurch Vereinfachungen ergeben würden. Denn schon jetzt sei Tempo 30 in den Kommunen die vorherrschende Geschwindigkeit, es gelte auf zwischen 70 und 80 Prozent des Straßennetzes. Warum also nicht dieser normativen Kraft des Faktischen Rechnung tragen?

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