Gehen sie wirklich auf die Zielgerade? Es wurden schon wieder recht viele Ausnahmen zugelassen. Und die Entscheidung, Atomkraft als nachhaltig zu deklarieren, gibt dem Ganzen noch ein zusätzliches Gschmäckle....
Euractiv hier Sean Goulding Carroll | EURACTIV.com | übersetzt von Silvia Cocca 27. Dez. 2022
Das Klimapaket „Fit for 55“, mit dem die EU ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 senken will, hat die verkehrspolitische Agenda der EU 2022 beherrscht. Auch im nächsten Jahr dürfte das Paket Brüssel weiter beschäftigen.
Nachdem das Europäische Parlament und der Ministerrat ihre Positionen vor der Sommerpause festgelegt hatten, verbrachten sie einen Großteil der zweiten Jahreshälfte mit Verhandlungen, die im EU-Jargon als Trilog bezeichnet werden.
Zwar wurden wichtige Vereinbarungen getroffen, doch erwies sich eine Einigung bei einigen Verkehrsfragen als schwieriger als bei anderen, sodass sich die EU-Institutionen weiterhin uneins sind.
Nächstes Jahr werden neue Anstrengungen unternommen, um die verbleibenden Blockaden zu überwinden und das „Fit for 55“-Paket von einem Kommissionsvorschlag zur neuen Realität in der EU zu machen.
Luftfahrt
Trotz hohe Erwartungen scheiterte ReFuelEU, das EU-Gesetz für umweltfreundlichen Flugzeugtreibstoff, in diesem Jahr. Stattdessen sollen die Verhandlungsführer im Januar wieder aufgenommen werden, wenn Schweden die Ratspräsidentschaft von Tschechien übernimmt.
Die Verordnung sieht vor, dass alle Flugzeuge, die von einem EU-Flughafen abfliegen, in zunehmendem Maße nachhaltige Flugkraftstoffe (SAF) tanken müssen – kohlenstoffarme Alternativen zu Kerosin, die aus fortschrittlichen Biokraftstoffen und grünen, aus Wasserstoff gewonnenen synthetischen Kraftstoffen bestehen.
Das Europäische Parlament und der Rat sind sich uneins darüber, welcher Prozentsatz an SAF vorgeschrieben werden soll – das Parlament will 85 Prozent bis 2050, während der Rat am Vorschlag der Kommission von 63 Prozent festhält – und welche Rohstoffe als „nachhaltig“ bezeichnet werden sollen. Während das Feilschen um Zielmarken bei solchen Verhandlungen zum guten Ton gehört, waren es die Besonderheiten der grünen Kraftstoffe, die die Diskussionen scheitern ließen.
So stellte nach Informationen von EURACTIV die Einbeziehung der Kernenergie als potenzielle Energiequelle für die Herstellung von Elektrokraftstoffen eine rote Linie für die sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten des Parlaments dar.
Ein Vorschlag der Kommission, einen negativen Multiplikator von 0,75 für atombasierte E-Treibstoffe zu verwenden – sie also prinzipiell zuzulassen, aber nicht zu fördern – konnte die Pattsituation nicht aufbrechen. Darüber hinaus wollten die beiden Fraktionen die Möglichkeit nationaler SAF-Mandate in die endgültige Vereinbarung aufgenommen sehen.
Die Mitte-Rechts-EVP-Fraktion beeilte sich, die sozialdemokratische S&D und die Grünen für den mangelnden Fortschritt verantwortlich zu machen, und nannte deren Manöver „unverständlich.“
Das Jahr stand auch im Zeichen der umstrittenen Überarbeitung des CO2-Marktes für den Luftverkehr
Der Kernpunkt der Kontroverse war die Entscheidung, das Emissionshandelssystem (ETS), das einen Preis für Kohlenstoff festlegt, auf Flüge innerhalb Europas zu beschränken.
Umweltschützer und Billigfluggesellschaften hatten gehofft, dass Langstreckenflüge, die die größte Umweltverschmutzung verursachen, in das ETS einbezogen werden und das viel schwächere internationale Ausgleichssystem CORSIA der Vereinten Nationen ablösen würden.
Die internationalen Fluggesellschaften begrüßten die Entscheidung der EU, das wesentlich billigere CORSIA-System für Langstreckenflüge von und nach dem Kontinent beizubehalten.
(also eine Entscheidung gegen mehr Klimaschutz)
Schifffahrt
Die EU wird bald der erste Markt sein, der von Schiffsbetreibern verlangt, für ihre Kohlenstoffemissionen zu zahlen. Im Rahmen des Emissionshandelssystems für den Seeverkehr müssen Schiffe, die innerhalb der EU fahren, für 100 Prozent ihrer Emissionen zahlen, während 50 Prozent der Emissionen von Fahrten zu oder von einem Nicht-EU-Zielort abgedeckt sind.
Auch Nicht-CO2-Emissionen wie Methan und Distickstoffoxid werden ab 2026 in das ETS einbezogen. Während die Ausweitung des Kohlenstoffmarktes reibungslos vereinbart wurde, wird über ein anderes wichtiges Dossier für den Seeverkehr weiter debattiert.
FuelEU Maritime, das Schwestergesetz zum Gesetz über umweltfreundliche Kraftstoffe für den Luftverkehr, soll Schiffsbetreiber dazu anregen, kohlenstoffärmere Kraftstoffe anstelle von Schweröl zu verwenden. Im Gegensatz zu ReFuelEU Aviation schreibt das Gesetz nicht vor, welche Kraftstoffe verwendet werden müssen, sondern setzt schrittweise strengere Grenzwerte für die Kohlenstoffintensität fest.
Zum Leidwesen von Umweltschützern lässt dieser Ansatz die Tür für Erdgas offen. Befürworter:innen hingegen behaupten, der EU-Ansatz sei „technologieneutral“ und überlasse es der Industrie, zu entscheiden, wie sie am besten dekarbonisiert.Die zweite Runde der interinstitutionellen Verhandlungen fand am 8. Dezember statt, und es wird erwartet, dass man sich im neuen Jahr auf das Dossier einigen wird.
(also auch hier keine wirkliche Einigung im Sinne des Klimaschutzes)
Straßenverkehr
Ein EU-Gesetz beherrschte 2022 die Debatte im Straßenverkehrssektor – die Verordnung über CO2-Emissionsnormen für Fahrzeuge, die im Wesentlichen den Verkauf von Benzin- und Dieselfahrzeugen ab 2035 verbietet. Mit dem Gesetz wird die Umstellung auf Elektrofahrzeuge in der gesamten EU festgeschrieben, und der Verbrennungsmotor gehört der Vergangenheit an.
Ein Punkt im endgültigen Text hat jedoch für Aufsehen gesorgt. Auf Betreiben Deutschlands wird die Europäische Kommission in einer nicht bindenden Erwägungsklausel aufgefordert, einen Vorschlag zu unterbreiten, um Fahrzeuge zuzulassen, die über das Jahr 2035 hinaus „ausschließlich mit CO2-neutralen Kraftstoffen“ betrieben werden.
Die einen sahen darin eine Gnadenfrist für Verbrennungsmotoren, solange diese mit E-Kraftstoffen betrieben werden. Für andere war der Erwägungsgrund lediglich ein Beispiel für „strategische Zweideutigkeit“ – ein Mittel, das es Politikern aller Couleur ermöglicht, sich als Sieger der Verhandlungen zu präsentieren.
Die von der EU vorgeschriebene Umstellung auf saubere Fahrzeuge erfordert eine rasche Erhöhung der Zahl der in ganz Europa verfügbaren Ladestationen. Die Automobilindustrie und grüne Nichtregierungsorganisationen haben sich in diesem Jahr zu einer ungewöhnlichen Allianz zusammengeschlossen, um die EU-Beamten dazu zu bewegen, die Einführung von Ladestationen für Elektrofahrzeuge zu beschleunigen, da die geringe Anzahl das Vertrauen der Verbraucher in diese Technologie erschüttert hat.
Auf gesetzgeberischer Ebene wird dieses Problem durch die Verordnung über die Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (AFIR) angegangen. Die AFIR wird Zielvorgaben für die Anzahl der Ladestationen entlang der wichtigsten EU-Autobahnen festlegen und gleichzeitig die Bezahlung des Ladevorgangs erleichtern, insbesondere bei grenzüberschreitenden Fahrten.
Die Verhandlungen laufen noch, und ein dritter Trilog soll Anfang 2023 stattfinden.
Am 18. Dezember wurde ein neues Emissionshandelssystem für Gebäude und den Straßenverkehr beschlossen, mit dem zum ersten Mal Kohlenstoffemissionen aus dem Heizen und Autofahren mit einem Preis belegt werden.
Dabei wurde darauf geachtet, dass der neue Tarif nicht den Zorn der Öffentlichkeit erregt.
Der Kohlenstoffpreis des ETS2, das frühestens 2027 in Kraft treten wird, wird auf 45 Euro pro Tonne begrenzt – deutlich weniger als der Hauptpreis des ETS. Laut dem grünen Abgeordneten Michael Bloss bedeutet dies eine maximale Erhöhung von etwa 10 Cent pro Liter Benzin oder Diesel.
Die Einigung sieht auch vor, dass der Großteil der ETS2-Einnahmen in den sozialen Klimafonds fließt, eine Reserve, die die Auswirkungen auf die Ärmsten der Gesellschaft abfedern soll.
Im Dezember befasste sich die EU außerdem mit der Nachhaltigkeit von Batterien, die in der EU verkauft werden. Die Gesetzgeber einigten sich auf eine Vereinbarung, die Missstände in der Lieferkette beseitigen und die Batterien in der EU zu den umweltfreundlichsten der Welt machen soll.
[Bearbeitet von Nathalie Weatherald]
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