Freitag, 23. Dezember 2022

Artenschutz ist Wirtschaftssache: Unternehmen brauchen Biodiversitätspläne – und zwar alle

Tagesspiegel  hier  Von Klement Tockner und Stefan B. Wintels  22.12.2022

Damit aus dem Montrealer Konferenzerfolg keine Luftnummer wird, reicht die Selbstverpflichtung weniger Pionierunternehmen längst nicht mehr aus. Ein Gastbeitrag.

Klement Tockner ist Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung und Professor für Ökosystemwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Stefan B. Wintels ist Vorstandsvorsitzender der KfW Bankengruppe

Auf dem UN-Weltnaturgipfel in Montreal haben 196 Teilnehmerstaaten einen Durchbruch für die Sicherung der Zukunft unseres Planeten erzielt.

Jetzt kommt alles darauf an, die Beschlüsse Wirklichkeit werden zu lassen. Es geht um die extrem gefährdete Erhaltung der biologischen Vielfalt, also um den Schutz der Ökosysteme, Arten und Genvariationen.

In deren einzigartiger Vielfalt sind die Informationen von rund 3,5 Milliarden Jahren natürlicher Evolution gespeichert. Die Vielfalt sichert unsere Ernährung, fördert den natürlichen Klimaschutz und liefert Naturstoffe, aus denen wir medizinische Wirkstoffe gewinnen.

40 Billionen Euro jährlich sind die Leistungen der Natur wert.

Die Leistungen der Natur belaufen sich nach Berechnungen des World Economic Forum auf 40 Billionen Euro pro Jahr – das entspricht fast 40 Prozent der globalen Wirtschaftskraft. Allerdings ist der Beitrag der Natur zu unserem Wohlstand akut gefährdet. Warum?

Unser Wohlstand und unsere Lebensqualität hängen von intakten Ökosystemen ab. Das ökologische Gleichgewicht aber gerät mehr und mehr aus den Fugen, weil wir unser „Naturkapital“ mit rasanter Geschwindigkeit vernichten.

Die größte Bedrohung geht vom Verlust der Biodiversität aus. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben wir in so kurzer Zeit so viele Arten verloren. Die Verluste sind heute bis zu hundertfach höher als im Schnitt der vergangenen zehn Millionen Jahre.

Einmal verloren bedeutet zumeist: für immer verloren. Schon weil wir nicht genau abschätzen können, was der Verlust von 20 oder gar 50 Prozent der Artenvielfalt für die Menschheit bedeuten würde, sind wir zu besonderer Vorsorge und Sorgfalt verpflichtet.

Da das Thema Biodiversität bislang zu sehr im Schatten der Klimakrise stand, hat es in Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht die Priorität, die angesichts des Ausmaßes der Krise notwendig wäre. Mit dem in Montreal vereinbarten globalen Rahmenabkommen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt besteht nun die Chance, die Trendwende endlich einzuleiten.

Ein zentraler Konferenzbeschluss ist, bis zum Jahr 2030 global mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche als Naturschutzzonen auszuweisen. Bisher sind es nur 17 bzw. beziehungsweise sieben Prozent.

Schutz heißt nicht immer gleich „Betreten verboten“

Der Gebietsschutz gilt als eines der effektivsten Instrumente des Artenschutzes – und auch des Klimaschutzes –, denn dieser Schutz setzt bei der größten Bedrohung der Biodiversität an: dem Verlust von Lebensraum.

Nachhaltiger Schutz heißt aber nicht in allen Fällen „Betreten verboten!“. Der Schlüssel liegt auch in der nachhaltigen Nutzung eines Teils dieser Flächen, wobei die dort lebenden indigenen Völker und Menschen von Beginn an in alle Maßnahmen einzubeziehen und ihre Rechte uneingeschränkt zu achten sind.

Was ist jetzt also zu tun? Wir brauchen eine grundlegende Transformation unserer Lebensweise und eine Wirtschaftsordnung, in der die Natur einen echten Preis hat. Schutz der Biodiversität muss elementarer Bestandteil einer jeden Unternehmensstrategie werden. „Business as usual“ – verstanden als eine schrittweise Entwicklung, verbunden mit einer Selbstverpflichtung weniger Pionierunternehmen – ist zwar löblich, wird der Herausforderung aber nicht einmal ansatzweise gerecht.

Stattdessen müssen wir jetzt einen großen Schritt nach vorne gehen: Wir müssen den Schutz der Biodiversität als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen und Biodiversität in die DNA unserer Wirtschaftsordnung einpflanzen. Letztlich geht es um die Frage, welche Lebensbedingungen wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen wollen.

Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und die Zivilgesellschaft müssen jetzt gemeinsam an einem Strang ziehen. Um den Rückgang der Biodiversität bis 2030 einzudämmen und beim Klimaschutz das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen, gilt es, beide Herausforderungen zusammenzudenken.

Wir müssen die externen Effekte, die unser wirtschaftliches Handeln nach sich zieht, kalkulieren und in die Waren einpreisen. Das hilft nicht nur der Natur, es schafft auch Gerechtigkeit gegenüber dem globalen Süden und künftigen Generationen.

Wir benötigen überzeugende und klare Indikatoren, um unser derzeitiges Handeln wider die Natur zu messen. Klare Regeln sind dazu ebenso unverzichtbar wie ein überzeugendes Monitoring und ein verbindliches Reporting.

Darüber hinaus müssen wir die Wirkung staatlicher Subventionen und Fördergelder überprüfen und gegebenenfalls nachbessern oder umsteuern. Ein großer Schritt ist bereits getan: Bis 2030 sollen weltweit umweltschädliche Subventionen in Höhe von mindestens 470 Milliarden Euro pro Jahr abgebaut werden.

Montreal sendet ein ermutigendes Signal: Wir müssen die dringend notwendigen Transformationen beschleunigen – im Verkehr, im Energiesektor, in der Industrie, in der Landwirtschaft und auch bei jedem Einzelnen von uns. Das erfordert ein Miteinander aller gesellschaftlichen Kräfte, um dem Thema Biodiversität den richtigen Platz einzuräumen: in der Mitte der Gesellschaft.

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